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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 22

Das üblere Kleine

"Wer angesichts von Merkel, Stoiber, Merz und Westerwelle die Frage stellt, ob sich der Abstand von SPD und CDU/ CSU/FDP noch diesseits der Nachweisgrenze bewegt, sollte sich angesichts der unterschiedlichen Steuerkonzepte, der Bildungspolitik, des Betriebsverfasssungsgesetzes, der Mitbestimmung, der Zuwanderungspolitik etc. ernsthaft die Frage stellen, ob er oder sie noch alle Tassen im Schrank hat…"
"Wir haben ja keine politische Alternative. Die Pläne von CU/CSU sind weitaus unsozialer als die Agenda 2010. Als werde ich wohl für das ‚kleinere Übel‘ stimmen. Auf keinen Fall will ich den Sturz des Kanzlers — das würde niemanden nützen."
"Wir wollen keinen Kanzler stürzen, das ist ja lächerlich."
Drei Stimmen — zweimal von SPD-Bundestagsabgeordneten, einmal von der DGB-Vize- Chefin Engelen-Kefer — dreimal kleingeistige Verzweiflung. Wer politisch nichts zu bieten hat, hat es schon immer mit der "Kleinere- Übel"-Masche probiert. Das Kanzlers Auftritte auf den aktuellen SPD-Regionaltreffen und sonstigen Sitzungen sind von nichts anderen geprägt: "Wenn wir keine Mehrheit für die Agenda 2010 bekommen, dann holt sie sich diese wanders her", und die CDU ist sowieso viel schlimmer.
Die "Kleinere-Übel"-Peitsche diszipliniert auch an fast allen anderen Schauplätzen linker oder pseudolinker Politik, beim Marsch der PDS nach rechts und bei der Verwandlung der Grünen in eine militaristische Öko-FDP oder auch in besonders reiner Form bei der Synthese von Rechts und Links durch die Antideutschen, denn in der Losung "Es gibt keine bessere Alternative" treffen sich die Macher und die Zauderer, die Sachzwangverwalter und Mainstream-Ideologen. Dient die "Kleinere-Übel- Theorie" den einen zur minimalen ideologischen Absicherung der Vollstreckung äußerer Vorgaben, so ist sie den anderen gierig eingesaugte Ersatztheorie für ständiges Nachgeben und Anpassen.
In Wahrheit gibt es ein kleineres Übel nur als individuelles Auswahlkriterium. Schröder hat mehr Mundgeruch als Fischer bspw. Die Kunst des politischen Überlebens all der "Realpolitiker" und TINA-Philosophen besteht deshalb darin, kollektive Kämpfe, Auseinandersetzungen und Entscheidungsprozesse auf individuelle, persönliche Geschmacks- und Geruchsfragen zu reduzieren. Sinnbild für solcherlei Reduktionen ist der durch Presse und Funk und Fernsehen geisternde "im Innern zerrissene" Sozialdemokrat, PDSler oder Grüne, der gleichzeitig für und gegen den Krieg, für und gegen den Lohnraub ist. Das Ergebnis von individuellen Kämpfen in Zeiten kollektiver Kämpfe ist immer tödlich, entweder als tödlicher Lernprozess, dass die Betreffenden, weil nicht wissend wohin, sich nur wundern, wo sie angekommen sind, oder im buchstäblichen Sinne. Immer aber auch wird als Schmierstoff eine kleine Hausmacherideologie der bürgerlichen Vernunft im Dienste eines Weltgeistes benötigt.
Wer die heutigen Konflikte jedoch als kollektive Kämpfe begreift, der ist nicht nur objektiv näher an der Wirklichkeit der Klassengesellschaft und der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen, sondern kennt grundsätzlich kein kleineres Übel und wird es auch nicht kennen lernen. Es wird Sieg oder Niederlage geben, Macht und Gegenmacht, aber ein Übel wird immer ein Übel bleiben, ob klein, ob groß oder aus Hannover kommend.
Für die kleinherzige Linke in SPD, Grüne und PDS mit ihren tapferen Kämpfen gegen den noch weiteren Absturz ihrer politischen Identitäten ist deshalb eine Empfehlung für alle Zwecke zu geben: Wenn ihr euch auf diese individualisierende Logik erst einmal eingelassen habt, wird das kleinere Übel euch zur Vorspeise nehmen. Und wenn ihr Glück habt, kommt ihr dann so weg, wie in früheren Zeiten die Kriegsdienstverweigerer bei ihrer Gewissensprüfung vor der Militärkammer bei jeglicher Antwort auf die legendäre Frage: "Was machen Sie, wenn Ihre Oma von einem Dutzend Russen angegriffen wird und Sie haben gerade ein G3- Gewehr in der Hand?" Nämlich mit einer Zwangsdienstverpflichtung…

Thies Gleiss

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