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Der Ökumenische Kirchentag 2003 (ÖKT) in Berlin ist ein großer Erfolg. Dies stand zu erwarten. Doch das
schmälert nicht die Bedeutung des großen, alle bisherigen Dimensionen sprengenden, offenen Christenfestes. Gemessen an diesem »1.« ÖKT
erscheinen die regelmäßigen Evangelischen Kirchentage sowie die Deutschen Katholikentage recht klein, recht unbedeutend. Es muss und
wird in Zukunft weitere Ökumenische Kirchentage geben.
Der ÖKT wirkt politisch, gesellschaftlich, religiös und kirchenpolitisch:
Politisch brachte das Berliner ökumenische Konzil der 200000 Dauerteilnehmer und rund 250000 Tagesgäste eine Veränderung. Eine
kräftige Schönwetterfront mit Wärmeschub für das vor Berlin total in Interessenkonflikten zerstrittene politische
Deutschland. Denn die größte Dialogversammlung der Republik stellte sich hinter die Agenda 2010 des Bundeskanzlers sowie hinter den weiter
greifenden, bevorstehenden Abbau des Sozialstaats.
Die kritische Gegenposition der Gewerkschaften, des Sozialethikers Friedhelm Hengsbach
sowie der Katholischen Arbeitnehmerbewegung spielt leider nur eine verschwindende Rolle.
Es bleibt für den politischen Beobachter überraschend, wie sehr die traditionell
eher »linken«, kapitalismuskritischen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit beim Ökumenischen Kirchentag praktisch in der Versenkung verschwanden, vor
lauter Bereitschaft, den Gürtel zukünftig enger zu schnallen. Die Kirchen erweisen sich in der Not als die Stützen der Berliner Republik.
Formuliert haben dies der EKD-Ratspräses Manfred Kock, der gastgebende Berliner evangelische Bischof Wolfgang Huber sowie, ein bisschen weniger
SPD-nah, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann. Von solcherlei grundsätzlicher Zustimmung zum harten Sparkurs
bei den Ärmeren profitiert vornehmlich die rot-grüne Bundesregierung, kaum die Opposition.
Die politische Gerechtigkeitsfrage stellte der ÖKT nicht im Inland. Gerechtigkeit global
war das Thema bei dem von Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser stark gemachten Protest gegen die Menschen tötende Schuldknechtschaft der
sog. Dritten Welt. Insgesamt bestimmten politische Liberalität und Toleranz den ÖKT. Feindbilder wurden keine poliert. Präsident Bush und
die USA standen nicht am Pranger. Dies ist bemerkenswert, gerade mal sechs Wochen nach dem von Massenprotesten der Friedensbewegten begleiteten
Irakkrieg, den die Sieger ohne Rücksicht auf das Völkerrecht als einen Interventionskrieg durchführten.
Gesellschaftlich zeigte sich der ÖKT als ein großes Wannenbad der Harmonie.
Alle gemeinsam, alle miteinander: Die Freude hierüber sorgte für allseits gute Stimmung. Wer egal auf welchem Streitfeld
Rechnungen begleichen wollte, wer öffentlich Konflikte zuspitzen und der Lösung entgegentreiben wollte, wer aus guten Gründen
auf Provokation setzte, der fand keinen Resonanzboden. Gelassenheit herrschte. Leben und Leben lassen. Empörung die öffentliche
Emotion, die so vielen Kirchen- und Katholikentagen seit 1975 Pfeffer und Hitze gegeben hatte bekam keinen Raum.
Die stabile Friedfertigkeit hat Gründe: das Diktat von Subjektivität und von Komplexität. Mit »Ich« begannen die meisten Rednerinnen
und Redner auf den kaum übersehbar vielen Podien ihre Statements. Ohne diese Art von betroffener Subjektivität kommt kein ÖKT-Podium
mehr aus. Die Fragen Bioethik, Geschlechtergerechtigkeit, Nahost, Afrika, Renten, Gesundheitsreform, Kindererziehung, Bildung , um die es
gesellschaftlich und politisch geht, sind allesamt kompliziert. Und sämtliche Antworten bringen neue Fragen und Probleme mit sich. ZdK-Präsident
Hans Joachim Meyer, ein gestandener Bildungspolitiker, fasste die Sozialgestalt des ÖKT 2003 trefflich im Bild, als er sagte, er sei überrascht, wie
Tausende in den inhaltlichen Großveranstaltungen »gesenkten Hauptes still mitschreiben und geduldig zuhören«. Die Zeit des provokanten Protests
scheint vorbei. Kein Zorn Zuhörbereitschaft.
Religiös ist die Epoche des Entweder-Oder mit dem 1.Ökumenischen Kirchentag
vorüber. »Sowohl als auch« heißt die neue ökumenische Grundmelodie 2003. Christ sein und Buddhist sein, oder: Drewermann lesen und
gleichzeitig als kirchentreue Pfarrgemeinderätin wirken. Nicht die Propheten der Konfrontation sind gefragt, sondern Frauen und Männer mit
öffentlicher Glaubwürdigkeit, allen voran das gewaltfreie Oberhaupt des unterdrückten Tibet, die buddhistische Gottesinkarnation Dalai
Lama.
Phänotypisch, im Blick auf die Gesamtveranstaltung, setzte sich im einstmals
preußisch-protestantischen Berlin die Sozialgestalt des Evangelischen Kirchentags durch gegen die traditionelle Sozialgestalt des Deutschen
Katholikentags. Der Teig des großen ÖKT-Kuchens ist heutig-evangelisch, softprotestantisch; die Rosinen, Korinthen und anderen bunten
Einsprengsel sind katholisch oder freikirchlich oder anders religiös. Inhaltlich bedeutet die festzustellende Vorherrschaft der evangelischen
Kirchentagskultur: weitgehender Verzicht auf Steuerung; umso mehr marktförmige Liberalität; wenig Platz für Systematik; wenig Raum
für »dogmatische« Belehrung sowie für scharf konturierte Konfrontation. Fundamentalisten gleich welcher Art sind unerwünscht. Und die
Fundamentalisten spüren das und kommen erst gar nicht zum ÖKT.
Kirchenpolitisch: Der Ökumenische Kirchentag ist ein Meilenstein auf dem positiv zu bewertenden historischen Weg aus einem Deutschland der
Konfessionen und Getrenntheiten zu einer Republik der Denominationen und der bunten Nachbarschaften.
400 Jahre lang war Deutschland in Konfessionen, deren Territorien und mehr oder weniger
homogene Lebenswelten geteilt. Die Mehrheit der Nation wurde einst in Konfessionskriegen ausgerottet. Doch heute wandeln sich die alternden,
rechthaberischen und allein selig machenden Konfessionen zu befreundeten Nachbarkirchen. Deutschland, das Land der Glaubensspaltung, verändert sich
und ähnelt von ferne religiös schon ein wenig Einwanderernationen wie den USA oder Australien, wo Kirchen und Religionen tolerant und friedlich
als gute Nachbarn leben.
Der ÖKT erbrachte eine Abstimmung mit den Füßen für die
Ökumene. Die große Teilnehmerzahl ist ein Riesenerfolg. Knapp zwei Drittel der Teilnehmer waren Protestanten, 36% Katholiken. Doch dieses
katholische Drittel betrug beim ÖKT rund 70000 Personen. Das sind nahezu doppelt so viele Katholiken wie bei den letzten Katholikentagen 1999 in
Mainz und 2001 in Hamburg. Der ÖKT ist also viel attraktiver als der vom ZdK zentral gesteuerte Katholikentag.
Innerkatholisch werden sich die Spannungen nach dem ÖKT wohl verschärfen.
Denn nur wenige der Bischöfe besitzen die Dialogfähigkeit, einen ökumenischen Kirchentag überhaupt auszuhalten. Die
Ängstlichen und die Konservativen blieben dem Ökumenischen Kirchentag fern. Anders verläuft die Entwicklung bei den Evangelischen.
Viele betont bekenntnistreue, konservative Protestanten und Freikirchler, die bislang den strammen »Kirchentag unter dem Wort« dem »verweltlichten«
Kirchentag vorzogen, kamen zum ÖKT nach Berlin.
Die Bedeutung des Christlichen nimmt in der deutschen Gesellschaft nicht ab. Eher im
Gegenteil. Auch das zeigt der ÖKT. Deutschland braucht diese einzigartige Großversammlung ernsthafter Bürger, bei der inhaltlich gerungen
und gewaltfrei gefeiert wird. Positionen von Christen sind in der gesellschaftlichen Debatte gefragter als vor zehn, fünfzehn Jahren. Das resultiert aus der
Tatsache, dass sämtliche gesellschaftlich zu lösenden Probleme heute eine Ethikdimension aufweisen. Und in puncto Ethik haben viele Christen viel
zu bieten.
Der durch Umfragen immer neu bestätigte, viel beredete Abschwung gilt dagegen
für die Amtskirchen. Sie stecken strukturell in denselben Krisen wie die Gewerkschaften und Parteien auch. Nicht das Religiöse »verdunstet«,
sondern die etablierte Amtskirchlichkeit zerbröckelt. Auch das lehrt der Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin.
Thomas Seiterich-Kreuzkamp
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