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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 20

Reichlich Diskussionstoff

Attac-Argumente gegen die Aushöhlung des Sozialstaats

Dieses Buch erscheint gerade rechtzeitig. Die drei Autoren, der Wirtschaftswissenschaftler Christian Christen, der Betriebsrat des Essener Krupp-Krankenhauses und SoZ-Autor Tobias Michel, sowie Werner Rätz, Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac, demontieren die ideologischen und ökonomischen Prämissen der Agenda 2010 und der Rürup-Kommission.
Zwei Argumente werden immer wieder von der Bundesregierung, der Wirtschaft und großen Teilen der Medien ins Feld geführt. Argument 1: von außen bräche die Globalisierung über uns herein. Deshalb müsse der Standort Deutschland verteidigt werden. Konkret: Unternehmensteuern und Sozialabgaben müssten gesenkt und Arbeitskräfte verbilligt werden, damit Unternehmen nicht in Billiglohnländer abwandern.
Damit wird in den Augen der Autoren ein falsches Bild kreiert, denn »die Konkurrenz existiert eben nicht zwischen dem Industrieland Deutschland und den armen und ärmsten Ländern der Welt«. Vielmehr werden mehr als 80% der ausländischen Direktinvestitionen — sie dienen als Maßstab für verlagerte Produktionsstandorte — im Kreis der 29 OECD- Länder getätigt. Mehr als zwei Drittel der Nationen der Welt spielen beim Big Business kaum eine Rolle, obwohl dort die Arbeitskräfte billig und die Steuern in der Regel niedrig sind.
Da das Bruttoinlandsprodukt in den Industrieländern nach wie vor wächst, entbehrten in Deutschland, so die Autoren, »Klagen über die hohen Unternehmersteuern und Steuern auf Vermögen und Gewinne jeder seriösen Grundlage«. Statt über diese Steuern finanzieren Bund, Länder und Kommunen ihre Ausgaben mehr und mehr über Lohn- und Konsumsteuern.
Argument 2 der Bundesregierung, der Wirtschaft und großer Teile der Medien: die demografische Entwicklung: »Wir können uns das Gesundheits- und Rentensystem nicht mehr leisten.« Zu wenig junge Bürger müssten zu viele Alte und Kranke finanzieren. Doch was ist falsch an den Warnungen vor einer demografischen Krise?
Eine zentrale Größe ist der sog. Rentnerquotient. Früher, so heißt es, hätten zehn Erwerbstätige einen Rentner finanziert, heute sind es nur noch zwei bis drei, in wenigen Jahren sei es nur noch ein Erwerbstätiger auf einen Rentner. Das Faktum an sich stellen die Autoren nicht in Frage, wohl aber die Aussagekraft des Rentnerquotienten: Sie ist gleich null. Unter anderem berücksichtige diese Rechnung nicht die gestiegene Produktivität. Ein Beispiel: im vorletzten Jahrhundert versorgte ein Beschäftigter in der Landwirtschaft eineinhalb andere Menschen, 2001 betrug die Relation 1:88. Ähnliche Größenverschiebungen gibt es nahezu für den gesamten Produktions- und Dienstleistungsbereich. Es ist also immer weniger Arbeit nötig, um dieselbe Produktionsmenge zu erzielen und folglich braucht es immer weniger Erwerbstätige, um Kinder, Kranke und Rentner zu finanzieren.
»Geradezu paradox« sei es, so die Autoren, »den Finanzmarkt, der durch Krisenanfälligkeit, Korruption, Skandale und Bankrotte gekennzeichnet ist, als ›Fels in der Brandung‹ gegenüber dem Umlageverfahren darzustellen.« Bei der kapitalgedeckten Rente macht sich nämlich im Fall einer Wirtschaftskrise das Kettenbriefsyndrom bemerkbar — die letzten, und das sind in der Regel die Kleinanleger, haben das Nachsehen.
Entweder können die privatversicherten Rentner dann wegen niedriger Renten ergänzende Sozialhilfe beantragen — in Großbritannien musste das schon in den 90er Jahren jeder fünfte Rentner. Oder wie in Chile: Dort werden die Rentenzahlungen nach dem 75. Lebensjahr eingestellt, weil der individuelle Kapitalstock aufgebraucht ist.
Die staatliche Rente in diesen Ländern macht nur noch einen Bruchteil der Altersversorgung aus, in Großbritannien beträgt sie nur noch 15% des Durchschnittseinkommens.
Die Kritik der Attac-Autoren ist vernichtend, auch wenn sie zu den aktuellen Vorschlägen aus der Agenda 2010 und den geplanten Einschnitten in die Arbeitslosenunterstützung kein gesondertes Kapitel geschrieben haben. Vor allem im Gesundheits- und Rentensektor stellen sie alle von der Bundesregierung angepriesenen Heilmittel in Frage. Wettbewerb zerstöre den Sozialstaat, so das Credo der Autoren. Und auch dieser stellt für sie nicht die ultima ratio dar, sondern sollte verbessert werden — nur halt in die andere Richtung, in die derzeit die Bundesregierung marschiert.
Die Autoren befürworten z.B. eine Neuauflage der 1957 von der Adenauerregierung abgelehnten »Kinder- und Jugendrente«. Denn bis heute bleibt die finanzielle Unterstützung der Jungen den Familien überlassen, wobei Frauen die hauptsächliche Last tragen. Diese neue Rente, aber auch das Alterseinkommen in den Industrieländern sollten allerdings nicht auf Kosten ärmerer Länder gesichert werden.
Deshalb fordern die Autoren ein Verbot, Renten- und Pensionsgelder auf internationalen Märkten anzulegen. Alle Sozialleistungen sollten vielmehr aus dem jeweiligen Sozialprodukt eines Landes erbracht werden. Und die Finanzierung der Sozialleistungen sollte gerechter verteilt sein. Dafür wollen sie die Sozialbeiträge der Unternehmen einem neuen Prinzip unterwerfen: Beitragsleistungen der Unternehmer dürften sich nicht mehr nach der Anzahl der Beschäftigten richten, sondern müssten sich unabhängig davon an der jeweils erzielten Wertschöpfung orientieren. Das Buch bietet jedenfalls reichlich Diskussionsstoff.

Gerhard Klas

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