SoZ Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 20

Delirium politicans

Jürgen Elsässer, Der deutsche Sonderweg. Historische Last und politische Herausforderung, Kreuzlingen/München: Hugendubel, 2003

Irgendwann, wenn der Staub sich gelegt hat und das 21.Jahrhundert herum ist, wird jemand auf einen merkwürdigen Umstand hinweisen: im ersten Jahrzehnt sei über zwei wichtige Themen (Kapitalismus und Imperialismus) wenig geredet worden, über zwei davon abzuleitende (Globalisierung und Europa) umso mehr.
Auf Jürgen Elsässer trifft dies allerdings nicht zu. Er nennt auch die beiden hässlichen Themen beim Namen. Das ist umso verdienstvoller, als sein Buch sich um ein breiteres Publikum — über seine bisherigen Zirkel- und Zirkularheimat hinaus — bemüht. Die pädagogische Anstrengung zeigt sich auch darin, dass er linke Personen mit Titeln versieht. Der uns allen bekannte Winnie Wolf z.B. heißt bei ihm der »Rüstungsexperte Winfried Wolf«. Vielleicht hat der Lektor seinem neuen Autor geraten, er solle den breiten Massen doch auch gleich miterklären, was es mit Manfred Sohn und anderen ihm, dem Lektor, bislang unbekannten Menschen aus der politischen Unterwelt auf sich hat.
Dass andererseits mit der heißen Nadel gearbeitet wurde, zeigt sich an Flüchtigkeitsfehlern: auf Seite 83 wird Johannes Rau mit Hans-Jochen Vogel verwechselt, auf S.257 Erich Honecker mit Walter Ulbricht.
Es ist zu hoffen, dass andere — wichtigere — Informationen, die das Buch bietet, zuverlässig sind. So wird festgestellt:
»Die USA bezogen im Jahr 2000 ein Viertel ihrer Ölimporte vom Golf, ein weiteres Viertel aus Venezuela, der Rest verteilt sich in abnehmender Größenordnung auf Kanada, Nigeria, Mexiko und die EU (Nordsee-Öl). Noch stärker abhängig vom Golf-Öl sind asiatische Staaten wie Japan und die Volksrepublik China. Die Bundesrepublik bezieht mehr als ein Drittel ihres Öls aus den GUS-Staaten und ein knappes weiteres Drittel aus der Nordsee, die Golfstaaten Saudi-Arabien (4,6 Prozent) und Iran (0,9 Prozent) rangieren nur unter ›ferner liefen‹. Putin hat der EU am 30.Oktober 2000 eine langfristige Abdeckung ihres Energiebedarfs (›europäisch-russische Energiepartnerschaft‹) angeboten.«
Der Nahe Osten sei aber für die Bundesrepublik als »Exportmarkt teurer Maschinen« wichtig. Beide Konstellationen erklärten, dass die deutschen und die US-amerikanischen Interessen in dieser Region gegensätzlich seien. Andererseits bestehe eine »steigende Exportabhängigkeit Deutschlands von den USA«. Diese lebten jedoch längst über ihre Verhältnisse und müssten den Moment fürchten, in dem das Schuldenmachen für sie ein Ende habe. »Die besondere Aggressivität der USA verdankt sich ihrer Agonie — ein taumelnder Riese, der um sich schlägt.«
Hier nun sieht der Verfasser aber nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Seiner Meinung nach hat die Bundesrepublik nach 1945 den alten deutschen Sonderweg fortgesetzt, jetzt allerdings in einer neuen Konstellation: im Bunde mit den USA versuchte sie zur europäischen Vormacht — gegen Frankreich und die Sowjetunion — zu werden.
Auch auf dem Balkan sei es ihr in den 90er Jahren gelungen, die USA für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Durch den Übergang der USA zum bedingungslosen Unilateralismus sei es damit nun vorbei. Nun postuliert Jürgen Elsässer die Chance für ein eurasisches Bündnis: Frankreich — BRD — Russland. Hierdurch könne Deutschland gezähmt werden. Diese neue Möglichkeit stellt er sich als eine durchaus friedliche vor.
Angesichts des ungemütlichen, da in Tschetschenien Krieg führenden Putin sowie der vom Autor durchaus wahrgenommenen Anstrengungen für eine Rüstungskooperation zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland erscheint das völlig unrealistisch.
Auch stellt sich die Frage, wie eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik mit der Abhängigkeit der BRD vom US-amerikanischen Markt zu vereinbaren ist.
Offenbar löst sich für Elsässer das Problem dadurch, dass in den USA seiner Meinung ohnehin bald Schluss mit lustig ist. Unerfindlich bleibt, wer die deutschen Waren dann abnehmen soll. Hier überschätzt der Autor offenbar »Eurasien«, oder er muss sich mit einem gewaltigen Standortwettbewerb abfinden.
Jürgen Elsässer listet friedenspolitische Forderungen auf, die er im Stil eines Programms vorträgt:
»Keine Ankurbelung der Rüstung, sondern allgemeine Demilitarisierung. Keine weltweiten Interventionen, sondern Rückzug der Truppen. Die Friedensdividende wird für die zivile Wirtschaft sowie Bildung und Kultur verwendet. Das vom Krieg zerstörte Jugoslawien und die vom Neoliberalismus ins Elend gestoßenen Länder des Ostens werden wiederaufgebaut.«
Als gesinnungsethischer Katalog ist das akzeptabel. Es fehlt nur jede Verbindung zur vom Autor zuvor analysierten außenpolitische Konstellation.
So nimmt denn der Schluss des Buches den Ton an, welcher entsteht, wenn Männer in der Badewanne singen: »Ein friedliches Europa ist nötig. Eine andere Welt ist möglich.«
Dem wäre etwas abzugewinnen, wenn der Verfasser hätte zeigen können, dass und unter welchen Umständen das für Europa Nötige mithilfe des Dreibundes Chirac — Schröder — Putin auch möglich ist. Es wäre das Zentralstück seiner Argumentation, und gerade dieses fehlt. Allenfalls hätte es durch die Benennung innenpolitischer Potenziale ersetzt werden können. Realistischerweise sucht der Verfasser diese gar nicht erst.

Georg Fülberth

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