SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2003, Seite 24

Zum Tode von Christopher Hill

Die Rückgewinnung der Geschichte

Falls je eine Gruppe marxistischer Intellektueller eine ganze Disziplin verändert und ihren Einfluss weit über die theoretischen und politischen Grenzen des Marxismus ausgedehnt hat, so die Historikergruppe der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB). Gegründet im Jahre 1946 gehörten zu dieser Gruppe neben weiteren außerordentlich talentierten Historikern Christopher Hill, Maurice Dobb, Rodney Hilton, Eric Hobsbawm, Victor Kiernan, George Rudé, Edward und Dorothy Thompson sowie Dona Torr. Es leben nicht mehr viele von ihnen — Hobsbawm und Dorothy Thompson sind noch aktiv — und es ist nur schwer vorstellbar, dass wir derartiges je wieder erleben werden.
Diese brillante Gruppe bildete sich im Verlauf der Diskussionen über einen Essay von Christopher Hill über die englische Revolution des 17.Jahrhunderts heraus. Dieser Essay, der 1940 geschrieben wurde (sehr rasch, so Hill), als der Autor 28 Jahre alt war und in der Armee diente, war das Werk eines, wie der Verfasser selber schrieb, »sehr zornigen jungen Mannes, der glaubte, in einem Weltkrieg getötet zu werden«. Der Essay sollte, so Hill in einem Interview, sein letzter Wille und sein Testament werden. Stattdessen war er nur der Beginn einer langen und außergewöhnlichen Karriere, die das Studium des Englands des 17.Jahrhunderts veränderte, eines derart wichtigen Moments der Geschichte des modernen Europa, dass sich sogar Spezialstudien der Periode auf abgelegenere Bereiche auswirkten.
In späteren Jahren mag sich Hills Zorn gelegt haben, sein Radikalismus jedoch nicht. Hill liebte es, Marx‘ Antwort an einen Bekannten zu zitieren, der geäußert hatte, dass man mit zunehmendem Alter weniger politisch und weniger radikal würde: »Nun, das gilt nicht für mich!« Auch nicht für Hill, der am 23.Februar dieses Jahres im Alter von 91 Jahren starb, ein Marxist bis zum Schluss.
Hill verheimlichte nie sein politisches Engagement oder seine Mitgliedschaft in der CPGB (die er nach der Invasion in Ungarn verließ, nachdem er den Mangel an Demokratie in der Partei angeprangert hatte), und seine wissenschaftliche Arbeit war stets durch dieses Engagement geprägt. Jedoch verbrachte er einen großen Teil seiner akademischen Karriere als Rektor des Oxforder Balliol College, was sicher eines der großen Mysterien des britischen akademischen Lebens ist. Und in dieser Zeit beherrschte er weitgehend das Gebiet der Geschichte Englands im 17.Jahrhundert, dessen wichtigster Bezugspunkt er zeit seines Lebens blieb.
Dieses Gebiet ist nun seit einiger Zeit faktisch von den sog. Revisionisten übernommen worden, die die englische Revolution auf den Status eines bloßen kontingenten Ereignisses bei den Streitigkeiten unter den Fraktionen der Elite reduziert haben. Doch selbst ihre Ideen wurden als Reaktion auf Hills Arbeit geformt.
Seltsam — oder vielleicht gar nicht so seltsam — ist, dass der Hauptstoß des revisionistischen Angriffs gegen eine Interpretation der englischen Revolution gerichtet war, die Hill lange zuvor selbst mehr oder weniger aufgegeben oder zumindest in wesentlichen Zügen modifiziert hatte. In seinem frühen Werk The English Revolution 1640 (1940) präsentierte Hill die Revolution als eine »bürgerliche Revolution« im mehr oder weniger orthodoxen Sinn: als den Kampf einer aufsteigenden, aufwärtsstrebenden Bourgeoisie von Händlern und Industriellen gegen eine niedergehende, rückschrittliche Landaristokratie. Er gab gewiss nie die Überzeugung auf, dass es sich um eine revolutionäre Epoche handelte und nicht lediglich um einen weiteren Moment im reibungslosen Fortschritt der englischen Verfassung. Aber in einigen seiner späteren Arbeiten wie Von der Reformation zur industriellen Revolution (1967) deutete er an, dass es eine bürgerliche Revolution in anderer Bedeutung gewesen sei — nicht der Ausdruck eines Klassenkampfs zwischen einer aufsteigenden Kapitalistenklasse und einer niedergehenden Aristokratie — denn im England des 17.Jahrhunderts gab es keine derartige deutliche Klassenscheidung —, sondern eine Revolution, die gewisse Hindernisse für bereits in hohem Maße entwickelte kapitalistische Verhältnisse beseitigt hat.
Es gab Momente, in denen Hill sehr nahe daran war, die alte Idee der »bürgerlichen Revolution« zurückzuweisen, wenngleich er nie über eine Neudefinition des Konzepts hinaus ging, nach der es sich nicht um einen Kampf zwischen kapitalistischen und feudalen Klassen handelte, sondern um eine politische Transformation, die — ob von den Beteiligten gewollt oder nicht — günstigere Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus schafft.
Die Revisionisten richteten ihr Feuer auf das, was die soziale Interpretation der englischen Revolution genannt wurde. Doch die »soziale Interpretation«, die sie im Sinne hatten, hat kein ernst zu nehmender marxistischer Historiker, darunter Hill selbst, je vertreten — die alte Idee der »bürgerlichen Revolution« im klassischen Sinn. Andere Marxisten, besonders Robert Brenner, haben eine weitere soziale Interpretation entwickelt. Diese geht von der Prämisse aus, dass es tatsächlich keine klare Klassenscheidung von der Art gegeben hat, die die alte Vorstellung verlangt, und dass die Landaristokratie selbst bereits auf dem kapitalistischen Weg weit vorangeschritten war, aber sie zeigt, wie die revolutionären Ereignisse des 17.Jahrhunderts dennoch auf den herrschenden Eigentumsverhältnissen beruhten.
Dass Hills Pionierarbeit diese fruchtbaren Entwicklungen in der marxistischen Geschichtsschreibung inspiriert hat, muss man wohl nicht extra betonen. Weniger offensichtlich ist womöglich, dass seine Alternative zu der alten »sozialen Interpretation« weit über jeden Rückzug von der alten »bürgerlichen Revolution« hinausging und weit positiver war. Viel wichtiger war die Richtung, die seine eigene Arbeit einschlug.
Seine zentrale Argumentation bezüglich der englischen Revolution — wie er sie bspw. in seinem klassischen Lehrbuch Das Jahrhundert der Revolution (1961) ausgearbeitet hat — besagte, dass es sich tatsächlich um zwei Revolutionen in einer handelte: eine, über die alle Historiker sprechen, in der die Monarchie vorübergehend gestürzt wurde und die schließlich mit der sog. Glorious Revolution von 1688 die Vorherrschaft des Parlaments festigte, und eine weitere, ein wirklicher Klassenkampf, der im Rahmen der Revolution der 1640er Jahre stattfand, zwischen den besitzenden Klassen und der Masse der Kleinproduzenten, Bauern, Handwerker und Arbeiter.
Diese zweite Revolution schuf eine beispiellose Gärung radikaler Ideen und Praktiken. Die dramatische Explosion eines Radikalismus der Volksmassen war auch ein wesentlicher Faktor bei der Einigung der besitzenden Klassen gegen diese zweite Revolution und stand hinter der Restauration der Monarchie. In anderen Worten, dies war ein echter Klassenkampf. Wenn die unteren Klassen in diesem Kampf unterlagen, so hinterließen sie doch ein außerordentliches Vermächtnis radikaler und demokratischer Ideen, welches bis heute fortlebt.
Ein großer Teil von Hills wichtigster Arbeit war dieser Revolution innerhalb der Revolution gewidmet, der Erfassung und Interpretation der Aktionen und Ideen der radikalen Volksbewegungen — nicht nur der Levellers und besonders der Diggers, sondern auch zahlreicher, nicht so bekannter radikaler religiöser Sekten. Kein Buch hat bspw. mehr zu unserem Verständnis des Radikalismus der Volksmassen aller Zeiten und allerorten beigetragen als Hills wunderbares The World Turned Upside Down (1972).
Das Studium dieser Volkskämpfe brachte Hill näher an Marx‘ eigene Konzeption des Klassenkampfs als eines Kampfes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten heran, als dies die alte Vorstellung der bürgerlichen Revolution als ein Konflikt zwischen aufsteigenden und niedergehenden besitzenden Klassen vermochte (doch letztere spielt auch in Marx‘ Werk eine große Rolle, insbesondere im Kommunistischen Manifest). In den Arbeiten von Christopher Hill und seinen Genossen erhielt der Klassenkampf im marxistischen Sinn wahrhaftig seinen angemessenen Rang als das Subjekt der Geschichte. In dieser Hinsicht schuf er eine Grundlage für die im hohen Maße kreative marxistische Geschichte, die seitdem unter dem Einfluss der Historikergruppe der CPGB verfasst worden ist. Aber weit mehr noch entrissen sie, und besonders Christopher Hill, die Geschichte den herrschenden Klassen und gaben sie dem Volk zurück.

Ellen Meiksins Wood

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