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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2003, Seite 3

300000 auf dem Larzac

Festival des Widerstands

Das Ereignis des Sommers war, neben der Hitze, der Erfolg des Larzac-Festivals in Frankreich, zu dem José Bové eingeladen hatte.

Im ersten Moment fühlt man sich in den Wilden Westen zur Zeit des Goldrauschs versetzt. Quasi über Nacht wuchs eine Zeltstadt für über 200000 Menschen aus dem Boden. Es gibt kein fließendes Wasser, und die Versorgung mit dem — bei Temperaturen von über 40 Grad im Schatten — lebenswichtigen Nass erfolgt aus Tankwagen, vor denen sich beeindruckende Warteschlangen bilden. Oder aus Mineralwasserflaschen, die mancherorts überteuert verkauft, an anderer Stelle aber auch von der Feuerwehr kostenlos verteilt werden.
Tagsüber herrscht sengende Hitze auf dem Larzac, dem Kalkplateau im südlichen Zentralmassiv, während es nachts ziemlich kühl werden kann — vor allem für die zahlreichen Menschen, die kein Zelt haben und unter freiem Himmel schlafen. In einem eigens errichteten Krankenhauszelt werden Sonnenstiche und -brände behandelt, insgesamt 1200 Personen nehmen die Dienste des 500-köpfigen Teams freiwilliger Ärztinnen und Helfer in Anspruch. Überall erinnern Schilder daran, dass es streng verboten ist, wegen der extrem erhöhten Waldbrandgefahr Feuer zu machen. »Seid Feuer und Flamme — ihr, aber nicht das Hochplateau« steht da mahnend.
Die Motive, hierher zu kommen, sind vielfältig und variieren zwischen Atomkraftgegnerinnen, kämpferischen Bauern, Lehrerinnen, Gewerkschaftern, Hippies, aber auch politischen Theatergruppen, ein paar jungen Punks und zahllosen Familien mit Kindern. Die große Mehrzahl dürfte sich politisch links oder linksradikal verorten, manche sind auch aus Neugier gekommen. Anziehungskraft hat sicher auch das gute Kulturprogramm mit riesigen Freiluftkonzerten in der näheren Region ausgeübt. Die Teilnehmenden kommen aus ganz Frankreich, vereinzelt auch aus Belgien und der Schweiz. 50 Kilometer lang waren Staus am Freitagnachmittag auf den zwei oder drei Zufahrten zum Gelände. Streckenweise harrten Teilnehmer bis zu sieben Stunden in ihren Wagen aus.
Trotzdem geht es ernsthaft und unerwartet unchaotisch zu: Es liegt so gut wie kein Müll herum. Nach der Abschlusskundgebung am Sonntag lesen Zehntausende fein säuberlich die Glasscherben auf dem riesigen Platz vor der Bühne auf, während sie dem letzten Konzert zuhören. Kurz zuvor hatte die Feuerwehr, die das ganze Wochenende über präsent war, die dankbare Menge aus Wasserschläuchen bespritzt. An so vieles war gedacht worden in den drei Tagen: an den Freiwilligen Zivilschutz, der von der Côte d‘Azur heraufgekommen ist, an die kostenlose Kondomverteilung und nicht zuletzt an eine hervorragende Nahrungsmittelversorgung, oft von Bauern aus den Reihen der linken Gewerkschaft Confédération Paysanne (CP).
Wer erst zum zwölfstündigen großen Abschlusskonzert am Samstagabend — mit Manu Chao und der Asia Dub Foundation — anreisen wollte, hatte Pech. Um 16 Uhr hatten die Veranstalter die Gendarmerie aufgefordert, die Autobahnzufahrt zu dem Gelände zu sperren und Neuankömmlinge abzuweisen. Die Versorgung der Teilnehmenden am Widerstandsfestival »Larzac 2003« drohe sonst zusammenzubrechen — die Telekommunikation war schon zusammengebrochen, seit Freitagmittag war kein Handy auf dem Gelände mehr empfangstüchtig.

Region mit politischem Gedächtnis

Zu dem Zeitpunkt befanden sich annähernd 300000 Menschen auf dem Gelände, rund 20 km südlich der Kreisstadt Millau, auf das man hangaufwärts auf gewundenen Straßen gelangte, die rechts und links von politischen Schriftzügen eingerahmt waren: »Nein zu OGM« (gentechnisch veränderten Organismen) steht da und »Libertà per José«. Der prominente Schafzüchter und Sprecher der CP war am 22.Juni von einem spektakulären Gendarmenaufgebot mitsamt Hubschrauber aus dem Bett geholt und in ein Gefängnis nahe Montpellier transportiert worden.
Zuvor hatte ihn das Berufungsgericht von Montpellier zu zehn Monaten Haft ohne Bewährung verdonnert, weil er als »Wiederholungstäter« daran teilgenommen hatte, genmanipulierte Reissetzlinge auszurupfen. Das war im Juni 1999, zusammen mit indischen Bauern, die sich auf einer Solidaritätstournee durch Europa befanden, um über die Praktiken des Agromultis Monsanto in ihrem Land zu informieren. Doch Ende Juli entschied der Haftrichter, Bové unter Auflagen auf freien Fuss zu setzen, damit er einer Erwerbsarbeit nachgehen könne. Die absolvierte er…
Das Fest sollte an den 30.Jahrestag der ersten großen Protestversammlung (60000 Teilnehmende) auf dem Plateau Larzac im August 1973 erinnern und zugleich die nächste Mobilisierungsetappe gegen die WTO vorbereiten, deren nächster Gipfel Mitte September im mexikanischen Cancún stattfindet.

Vielfalt der Debatten und Proteste

Zahlreiche Gäste und Exponenten aus Brasilien, Argentinien, Palästina, den USA oder aus den französischen »Überseegebieten« waren eingeladen. Unter einem halben Dutzend riesiger Zirkuszelte, die jeweils mindestens 2000 Menschen fassen und symbolische Namen wie »Seattle«, »Porto Alegre«, »Cancún« oder »Genmanipulix« tragen, drängen sich dicht an dicht Menschen im verzweifelten Bestreben, noch in den Schattenbereich zu kommen.
Hier geht es um atomare Abrüstung, Ausstieg aus der Atomenergie und um die Rolle der französischen Nuklearindustrie bei der Proliferation von A-Waffen. Dort geht es um die Kriege der Neuen Weltordnung, um die Privatisierung bisheriger öffentlicher Dienstleistungen oder um Repression gegen soziale Bewegungen. Der bekannte unorthodoxe Filmemacher Pierre Carles stellt seinen neuen Film Danger travail vor, in dem zwölf Erwerbslose erzählen, warum sie (nach ihrer vorherigen Erwerbsbiografie) nie wieder die Zwänge einer »geregelten Erwerbsarbeit« akzeptieren können und ihren jetzigen Status vorziehen. Im Anschluss können Publikum und Regisseur mit Arbeitern der Reifenfabrik Michelin aus Clermont-Ferrand diskutieren, über deren Arbeitsbedingungen ebenfalls ein kritischer Film (Paroles de Bib, 2001) gezeigt wird. Es wird heftig, ernsthaft und sachlich gestritten.
Die derzeit massenhaft streikenden, prekär beschäftigten Kulturschaffenden führen ihre neuen Protestformen vor — der letzte Schrei ist genau das, nämlich ein allabendlich vor Unternehmerverbänden oder der Stadtverwaltung auszustoßender, lang anhaltender Schrei —, aber auch einige ihrer besten Stücke. So die märchenhaften Clownakrobaten der Compagnie Tango Sumo aus der Bretagne, die wegen des Streiks im Juli eine aussichtsreiche Frankreichtournee annuliert haben, aber auf dem Larzac kostenlos spiele.
Zum Auftakt und zum Abschluss der dreitägigen Großveranstaltung steht José Bové auf der großen Bühne zusammen mit Lori Wallach, der US-Verbraucheranwältin von der Vereinigung Public Citizen, die die Funktionsweise der WTO und die Auswirkungen ihrer Entscheidungen namentlich auf die Dritte Welt schildert (bspw. das Verbot der Preisbindung für Grundnahrungsmittel wie die Tortilla in Mexiko, weil »wettbewerbshinderlich«), oder dem Vertreter der militanten Immigrantenorganisation Mib.
Er schlägt einen Bogen vom hyperproduktivistischen, auf Export ausgerichteten Agrarmodell der EU über den Ruin der Produzenten in der Dritten Welt bis zur (polizeilichen oder gar militärischen) Verwaltung des »Risikopotenzials Einwanderung« an den Außengrenzen der Europäischen Union oder auch in ihrem Inneren. »Vor einem Jahr waren wir als Selbstorganisation der Migranten in Nîmes, nachdem Polizeibeamte den 17-jährigen Mourad erschossen hatten. Vertreter der CP, darunter José Bové, waren an unserer Seite. Welche Überraschung mussten wir erleben, als das Gespräch mit Mourads Eltern in ein Fachgespräch mit den Gewerkschaftern aus der Landwirtschaft ausartete! Es stellte sich heraus, dass die Familie von Mourad eine Familie von marokkanischen Bauern war, die in ihrem Land nicht mehr überleben konnte, weil sie gegen die modernisierten Bereiche und die Importe nicht mehr konkurrieren konnten und deswegen auswanderten. Hunderttausende, Millionen teilen ihr Schicksal. Aber heute ist für viele von ihnen das Mittelmeer zum Friedhof ihrer Hoffnungen geworden.« Die Solidarität mit den Immigranten, auch den »illegalen«, gehört zum gewerkschaftlichen Grundverständnis der CP.
»Das Besondere 1973 war die Präsenz der Lip-Beschäftigten«, erklärt Bové, der Arbeiter der Uhrenfabrik in Besançon, deren Betrieb geschlossen werden sollte. Die Arbeiter »entließen« daraufhin ihre Besitzer und übernahmen die Fabrik ein Jahr lang in Eigenregie. »Damit verdeutlichten wir das Bündnis zwischen kämpfenden Bauern und Arbeitern. In diesem Jahr ist das Besondere die zeitliche Nähe unserer Versammlung auf dem Larzac zu der fantastischen sozialen Bewegung, die das ganze Frühjahr und den Sommer geprägt hat: die Streiks gegen die Rentenreform, der Lehrer, der Kulturschaffenden. Als wir das Festival planten, konnten wir das nicht vorhersehen. Aber diese Konvergenz verleiht uns Energie für einen neuen Anlauf.«

Bernhard Schmid, Paris

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