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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2003, Seite 4

Augen zu und durch

Der Klimawechsel bedroht die Zukunft der Menschheit

von GEORGE MONBIOT

Wir leben in einer Traumwelt. Mit einem kleinen, rationalen Teil unseres Gehirns sehen wir, dass unsere Existenz durch materielle Zwänge bedingt ist und dass sich unser Leben mit ihnen ändert. Darunter liegt die tiefe Schicht des Halbbewusstseins, das gefangen vom Augenblick genommen wird, in dem wir leben. Hier, nicht in der Welt der Vernunft, liegt unser wirkliches Dasein.
Unsere Träume werden die Bedingungen für menschliches Leben auf der Erde zunichte machen. Wären wir geleitet von der Vernunft, würden wir heute auf die Barrikaden steigen, die Fahrer aus ihren Range Rovers und Nissan Patrols zerren, die kohlebetriebenen Elektrizitätswerke besetzen und von den Politikern eine dramatische Umkehr unseres ökonomischen Lebens fordern. Stattdessen stöhnen wir über die Hitze und träumen von Ferien in Island.
Natürlich können wir nicht sagen, dass die Rekordwerte, die die Temperaturen in Europa in diesen Wochen erreicht haben, das Ergebnis der globalen Erderwärmung ist. Aber wir können sagen, dass sie den Vorhersagen der Klimaforscher entsprechen. Das Metereologische Institut bestätigte dieser Tage erneut: »Alle unsere Modellrechnungen legen nahe, dass sich solche Ereignisse in Zukunft häufen werden.« Im Dezember sagte das Institut voraus, dass 2003, bedingt durch den Klimawechsel, das wärmste Jahr aller Zeiten werden würde. Vor zwei Wochen belegte dessen Forschungszentrum das Steigen der Temperaturen auf allen Kontinenten als Folge des durch Menscheneinwirkung bedingten Klimawechsels, natürliche Einwirkungen durch Sonnenflecken oder Vulkanaktivität könnten nicht verantwortlich gemacht werden.
Im vergangenen Monat verkündete die internationale Meteorologenorganisation WMO: »Der Temperaturanstieg ist im 20.Jahrhundert wahrscheinlich größer gewesen als in jedem anderen Jahrhundert in den letzten 1000 Jahren«, dabei habe sich »der Trend seit 1976 etwa um das Dreifache der gesamten vorhergehenden Periode beschleunigt«. Die WMO sieht im Klimawechsel die Erklärung nicht nur für die Rekordtemperaturen in Europa und in Indien, sondern auch für die Häufigkeit von Tornados in den USA und die Flutkatastrophen in Sri Lanka.
Natürlich gibt es weiterhin Menschen, die leugnen, dass sich die Erde überhaupt erwärmt, oder solche, die dies mit rein natürlichen Phänomenen erklären wollen. Ihre Glaubwürdigkeit ist unter Fachleuten inzwischen kaum höher als die von Leuten, die behaupten, Rauchen verursache keinen Krebs.
Der Klimawechsel hat im letzten Jahrhundert zu einem durchschnittlichen Anstieg der weltweiten Temperatur um 0,6 Grad geführt. Unter Klimaforschern ist Konsens, dass die Temperaturen im 21.Jahrhundert um 1,4 bis 5,8 Grad steigen werden — also zehnmal soviel. Einige Klimaforscher nehmen sogar einen Anstieg um 7—10 Grad an, weil der Rückgang der Industrieemissionen in Zukunft abflacht.
Wir reden hier nicht über das Ende unserer Ferien in Sevilla. Wir reden über das Ende der Bedingungen, die den meisten Menschen ein Leben auf der Erde ermöglichen.
Ein Klimawandel dieser Größenordnung wird die Produktivität der Erde zerstören und bedeutet u.a. das Ende von Bewässerungskulturen. Winterhochwasser und die Verdunstung der Bodenfeuchtigkeit im Sommer wird ähnliche Auswirkungen auf die Landwirtschaft in regenreichen Gebieten haben. In den heißeren Gegenden werden die Menschen dahinwelken wie die Ernte. In Indien gab es in diesem Sommer 1500 Hitzetote. Das gibt einen Vorgeschmack auf den notwendigen Exodus aus Gebieten, die bislang als bewohnbar galten…
Wir legen unser Vertrauen in die Technologie. In einer Zeit, in der Wissenschaft ebenso als Autorität gilt aber ebenso unergründlich ist, wie Gott es einst war, schauen wir auf ihre Ergebnisse wie die Menschen im Mittelalter auf die göttliche Vorsehung. Irgendwie wird »sie« die Geräte entwickeln, die unsere Probleme lösen: die Windkraftwerke, Sonnenkollektoren oder Staudämme — und uns dabei versichern, dass wir unseren Lebensstil nicht ändern müssen.
Die Durchsetzung dieser Technologien auf breiter Skala wird jedoch erst stattfinden, wenn es sich kommerziell lohnt. Aber dann ist es zu spät. Und selbst dann könnten wir unseren derzeitigen Lebensstandard nur halten, wenn wir jeden Quadratmeter Land und Meer mit solchen Geräten bedecken. Anders gesagt: Wenn wir die Lenkung unserer Politik dem Markt überlassen, sind wir erledigt. Nur wenn wir anfangen, unser Wirtschaftsleben und unsere Nachfrage zu kontrollieren und unseren Energieverbrauch um 10 oder 20% senken, können wir die Katastrophe verhindern. Das erfordert drakonische Regulierungen, Rationierung und Verbote — alles Maßnahmen, die unsere heutige Politik verbietet, weil sie den Träumen folgt. Wir werden erst aufwachen, wenn wir unsere tiefsitzende Unvernunft entthronen und zulassen, dass ihre Macht von rationalem und vorrausschauendem Denken usurpiert wird. Werden wir dazu fähig sein oder traumwandeln wir auf dem Pfad der Selbstauslöschung?

George Monbiot ist Kolumnist des Londoner Guardian und schrieb diesen Artikel für deren Ausgabe vom 12.8.2003.



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