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Die neoliberale Offensive in Frankreich und Deutschland, das Fehlen einer geschlossenen Haltung zum Irakkrieg, das
Verfassungsprojekt, die Rezession: Das sind die großen Parameter einer komplexen und ungewissen Situation, in der sich für das Bürgertum
die Krisenfaktoren mit der Notwendigkeit kombinieren, die Offensive gegen den Sozialstaat zu vertiefen.
Von 1997 bis 2001 wurden in den Ländern der Europäischen Union 10 Millionen
Arbeitsplätze geschaffen (+6,5%) davon wurden 6 Millionen von Frauen besetzt; die Zahl der Erwerbslosen ging im gleichen Zeitraum um 4
Millionen zurück.1 Dies könnte man als eine Bestätigung für die europäische Einigungsstrategie werten: Es scheint, als seien die
Sanierungsanstrengungen, die parallel zur Einführung des Euro beschlossen wurden, um die Kriterien von Maastricht zu erfüllen, nicht umsonst
gewesen. Die mit dem Euro verbundenen Versprechen hätten sich erfüllt: die Einführung der Einheitswährung hätte es erlaubt,
mehr Wachstum zu schaffen und die wirtschaftlichen Aussichten aufzuhellen. Jospin hätte 1997 in Amsterdam Recht gehabt, als er wenige Wochen nach
seinem Amtsantritt äußerte, ein Euro à la Maastricht und eine Beschäftigung schaffende Wirtschaftspolitik ließen sich
tatsächlich miteinander verbinden.
Doch die triumphalistische Sprache hält niemand durch. Nicht einmal die
Europäische Kommission lässt sich darauf ein; sie gibt zu, dass es »unbestreitbar schwierig ist zu bestimmen, welcher Anteil am globalen
Aufschwung der Beschäftigung auf die Europäische Beschäftigungsstrategie und welcher Anteil auf die Verbesserung der wirtschaftlichen
Lage zurückzuführen ist«.
Warum soviel Bescheidenheit? Der einfachste Grund ist, dass der Konjunkturumschwung
bestehende Illusionen vertrieben hat: die Wachstumsblase ist in der gesamten EU in sich zusammengebrochen. Deutschland steht am Rand einer Rezession und
die französische Wirtschaft verlangsamt deutlich ihren Rhythmus.
Aber auch ohne die Einschränkungen der Kommission lässt sich nicht
verheimlichen, dass die Wirtschaftsentwicklung die liberale Orthodoxie widerlegt. Die wirtschaftliche Erholung in der EU beruhte in erster Linie nicht auf einer
Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit dank zurückhaltender Lohnpolitik. Sie erklärt sich im Gegenteil aus der Dynamik des inneren
Marktes, die ihrerseits zum großen Teil von äußeren Faktoren induziert ist. Die faktische Abwertung der europäischen
Währungen im Verhältnis zum steigenden Dollar verschaffte den europäischen Exporten 1997 Auftrieb. Der Rückgang der Inflation hat
zu einem Anstieg der Kaufkraft geführt. Und die neugeschaffenen Arbeitsplätze haben ihrerseits zur Unterstützung der Nachfrage
beigetragen. Eine Aufweichung der Haushaltsdisziplin hat erlaubt, dass dieser Aufschwung nicht behindert wurde.
Die Schaffung von 10 Millionen Arbeitsplätzen im Zeitraum von 1997 bis 2001
resultierte also nicht so sehr aus der systematischen Anwendung neoliberaler Rezepte als aus der Lockerung monetärer, finanzieller und haushaltsbedingter
Zwänge, die auf der Nachfrage lasteten. Die Verbesserung der Wirtschaftslage fiel mit der Stabilisierung der Löhne und einer Drosselung der
prekären Verhältnisse zusammen. Das zeigt, dass man Arbeitsplätze schaffen kann, ohne die Löhne einzufrieren und den Arbeitsmarkt
zu »flexibilisieren«. Hinzu kommt, dass die Länder, die die meisten Arbeitsplätze geschaffen haben, nicht diejenigen sind, die am
getreuesten die geforderten »Reformen« des Arbeitsmarkts umgesetzt haben, sondern diejenigen, die von einer deutlicheren Wachstumserholung
profitieren konnten.
Aber die wirtschaftliche Erholung war nur vorübergehend, die günstigen
Umstände verschwinden wieder: Der Dollar sinkt, bei den Löhnen und beim Haushalt setzt sich nach und nach die Sparpolitik durch. Die
europäischen Behörden sehen nicht oder tun so, als sähen sie nicht, dass der Konjunkturumschwung das Ergebnis ihrer eigenen Politik ist. Die
Europäische Kommission spricht von einer »unerwarteten Verlangsamung« und gibt sich enttäuscht: »Die Wirtschaftsergebnisse
von 2001 sind nicht auf der Höhe der Erwartungen. Vor einem Jahr schienen die Bedingungen in der Eurozone günstig für die Verstetigung
eines robusten Wirtschaftswachstums. Die Dynamik der Binnennachfrage, das Ausmaß der Schaffung neuer Arbeitsplätze und die
Preisstabilität wurden als Haupttrümpfe für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gewertet.«2
Die Überrschung über den Wirtschaftsumschwung lässt sich nur aus der
Selbstbenebelung zahlreicher Wirtschaftskommentatoren erklären. Der Übergang zum Euro und die Versprechungen der »New
Economy« trugen damals zu einem euphorischen Klima und zum Glauben an ein nachhaltiges und anhaltenden Wachstum bei. Das erklärt auch die
zweifellos überzogene Rolle, die man dem Schock des 11.September zugewiesen hat, als müsse man unbedingt äußere
Störfaktoren heranziehen.
Der Konjunkturumschwung hat die Widersprüche zutage gebracht, die durch die zeitweilige wirtschaftliche Erholung teilweise verdeckt worden
waren; er unterstreicht insbesondere das deutsche Paradoxon. Deutschland hatte von der Erholung zwischen 1997 und 2000 relativ wenig profitiert, aber heute
trägt vor allem die Stagnation der deutschen Wirtschaft dazu bei, dass die Konjunktur in ganz Europa absackt. Die Binnennachfrage erreichte in
Deutschland Anfang 2002 ein Niveau, das kaum über dem von Anfang 1999 lag. Zum Vergleich: Die Länder, die am meisten vom
Konjunkturaufschwung profitiert haben Belgien, Frankreich, Italien, die Niederlande und Spanien verzeichneten in derselben Zeit 9% Zuwachs.
Es ist noch nicht lange her, dass die »Souveränisten« ein deutsches Europa beschwörten, eine Art erweiterte D-Mark-Zone, in der die
Europäische Zentralbank nur die restriktiven Regeln der Bundesbank zu übernehmen hatte.
Tatsächlich wurde der Rückgang der deutschen Hegemonie mit der
Wiedervereinigung eingeleitet, die einen Teil ihrer materiellen Basis, nämlich ihren Handelsüberschuss, aufgefressen hat. Diese relative
Schwächung hat den Ländern, die man bislang verächtlich den »Club Mediterranée« nannte (Italien, Spanien, Portugal,
Griechenland) erlaubt, von Beginn an Teil der Eurozone zu sein. Heute ist Deutschland vor allen anderen gekniffen von der monetaristischen Logik, die es ganz
Europa aufgezwungen hat. Sein Wechselkurs ist für auf ewig auf einem zu hohen Niveau festgelegt worden, und weil es währungspolitisch keinen
Spielraum mehr hat, ist es gezwungen, seine Ökonomie zu drosseln und sein Sozialmodell in Frage zu stellen, in der Hoffnung, seine realen Kosten damit
in Griff zu bekommen.
Die Logik der Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis dehnt das Klima der Quasirezession
auf alle Nachbarländer aus, für die Deutschland ein bedeutender Kunde ist. Der Economist hat sich jüngst den Spaß erlaubt, auf
Deutschland die Kriterien anzuwenden, die die britische Regierung vor einem Beitritt zur Eurozone aufgestellt hat.3 Er kam zum ironischen Schluss,
Deutschland hätte allen Grund, die Eurozone wieder zu verlassen.
EU ohne Leitfaden
Der deutsche Fall ist aufschlussreich für das, was mehr oder weniger überall
passiert. Der Stabilitätspakt ist ganz einfach »dumm«, um das Wort keines Geringeren als den Kommissionspräsidenten Romano Prodi
aufzugreifen. Geschlossen wurde er in einer günstigen Wirtschaftsphase, und nun hält er nicht mal dem ersten Konjunkturabschwung stand. Warum
er dumm ist, ist landläufig bekannt: Der Pakt zwingt die Länder, außerordentliche Anstrengungen für den Ausgleich ihrer Haushalte zu
unternehmen, selbst bei rückläufigem Wirtschaftswachstum, wo im Gegenteil der Haushalt die Nachfrage stützen sollte.
Die gegenwärtigen Bemühungen der Kommission zielen jedoch darauf ab, die
Haushaltsziele so zu definieren, dass konjukturelle Faktoren dabei ausgeklammert werden. Aber dabei geht es mehr darum, den Schein zu wahren als die Logik
des Stabilitätspakts zu ändern.
Ein kürzlicher Bericht des Europäischen Parlaments bestätigt, dass man am
Dogma festhält. Er »beklagt, dass gewisse Mitgliedstaaten den Pakt für Stabilität und Wachstum 2002 gebrochen haben, was die
Glaubwürdigkeit der Eurozone gefährdet und mithin die Effizienz der Währungspolitik«, und fordert von der Kommission »die
Fortsetzung der Anwendung des Pakts für Stabilität und Wachstum in intelligenter und flexibler Weise«.4 Ein weiterer Bericht
»verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie über den gesamten Konjunkturzyklus hinweg ihre Haushalte im Gleichgewicht halten oder einen
Überschuss erwirtschaften oder, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird, alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Haushaltssituation
jährlich zu verbessern…«5
Die Wirtschafts- und Währungspolitik stößt mehr und mehr auch auf das
Problem unterschiedlicher Wirtschaftsleistungen und Wirtschaftsentwicklungen in den Mitgliedstaaten der EU. Man stelle sich folgenden Fall vor dem
wir uns derzeit annähern: Eine Reihe von Ländern hat eine Inflation von 4%, während andere in einer Deflation stecken, mit quasi null
Preissteigerung. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist gehalten, die Inflationsrate bei 2% zu halten; darüber hinaus muss sie die Schrauben
anziehen, indem sie den Zinssatz anhebt. Der Widerspruch ist dann folgender: Der dann notwendige Zinssatz, der nötig wäre, um eine angebliche
»überhitzte« Preissteigerungsrate z.B. in Irland oder Spanien abzukühlen, würde in Ländern wie
Deutschland, die eine niedrige Inflationsrate haben, zu einem sehr hohen Realzinsniveau führen; dies würde ihre Ökonomie abwürgen
und sie an den Rand der Rezession führen. Vor der Einführung des Euro konnte man gleichzeitig das unterschiedliche Zinsniveau zwischen den
Ländern ausnutzen und die Wechselkurse entsprechend anpassen aber das ist jetzt nicht mehr möglich.
Eine Einheitswährung setzt nicht zwangsweise einen homogenen Wirtschaftsverlauf in
der gesamten Währungszone voraus, aber sie erfordert einen gemeinsamen Haushalt, der Finanzausgleich und Transfer realisiert, und zwar in einer Weise,
dass sie die Koexistenz von Regionen mit unterschiedlicher Wirtschaftsleistung in einer gemeinsamen Wirtschaftseinheit ermöglicht. So etwas geschieht,
auf eher unsichtbare Weise, innerhalb eines jeden Staates. Die Eurozone aber bleibt auf halbem Wege stehen: Sie beraubt sich der Anpassungsmittel
(Wechselkurs und Zinssatz), ohne neue an ihre Stelle zu setzen. Damit werden alle Widersprüche verhärtet.
Die einzige Anpassungsvariable, die dann noch bleibt, ist der Lohn, und darin liegt zweifellos
die wirkliche Funktion des Euro: ein Hebel für die Verallgemeinerung von Lohnsenkungen zu sein und dies auf die Bestandteile des Soziallohns (soziale
Sicherung, Renten, öffentliche Dienste) auszudehnen.
Das Problem ist, dass diese Politik das Wachstum nach unten drückt. Guillaume Duval
hat den Widerspruch für Deutschland gut zusammengefasst6: »Es scheint schwierig, die Hauptursache für die schwache Binnennachfrage, die
restriktive Lohnpolitik, zu lockern« wegen der hohen Lohnkosten, die angeblich die Wettbewerbsfähigkeit gefährden, zumal wenn
der Euro steigt.
Nebenbei gesagt ist nicht ganz verständlich, warum Deutschland noch 2002 einen
beträchtlichen Überschuss von 126 Milliarden Euro, d.h. 6% des BIP, erzielen konnte. Aber man sieht schon den Teufelskreis, in dem das
neoliberale Europa steckt. Traumhaft wäre ein Wirtschaftsaufschwung ohne Inflation und vor allem ohne Lohndruck. Aber das ist offensichtlich
unmöglich, und so wird ein überdurchschnittliches Wachstum als Ausgleich zu einer kleinen Preissteigerung und einer gewissen Lohnsicherung
führen. Daran ist überhaupt nichts Schädliches, aber das neoliberale Dogma sagt im Grunde, dass es besser ist, das Wachstum
abzuwürgen, als eine Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen zu riskieren.
Wenn es nur darum ginge, die Löhne zugunsten der Finanzeinkommen einzufrieren,
wäre eine solche Lösung für die Bourgeoisie ideal. Das Problem ist, dass Europa nicht allein auf der Welt ist und dass dieses wenig
dynamische Konstrukt zwei große Fragen unbeantwortet lässt. Die erste betrifft die industrielle Arbeitsteilung. Obgleich der Begriff Industriepolitik
auf europäischer Ebene augenscheinlich tabu ist, haben die wirtschaftspolitischen Entscheidungen doch Auswirkungen auf die Art der Arbeitsteilung.
Auch hier hat die EU keine Entscheidung getroffen und verfolgt zwei einander
entgegengesetzte Ziele. Zum einen will sie die Arbeitsmärkte flexibilisieren, um zu konkurrenzfähigen Arbeitskosten zu gelangen. Zum anderen
schwingt sie große Reden über die Ökonomie des Wissens, die neuen Technologien usw. Sie läuft damit Gefahr, auf allen Ebenen zu
verlieren und in die Zange genommen zu werden zwischen den USA (die ihren technologischen Vorsprung wiederhergestellt haben) und den
Schwellenländern, die wirklich niedrige Löhne haben mit denen sie auf diesem Terrain selbst in ihren kühnsten Träumen nicht
konkurrieren kann.7
Die Periode 19952003 hat hinsichtlich der Arbeitsproduktivität zu einer
Umkehrung der relativen Entwicklung in Europa und in den USA geführt. Bis 1995 stieg sie in Europa schneller, obwohl insgesamt
rückläufig. In den letzten Jahren hat sich dies noch verstärkt, während die »New Economy« die Arbeitsproduktivität
in den USA hochgetrieben hat. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wäre Europa gezwungen, den zunehmenden Rückstand in der Produktivität
durch zusätzliche Lohneinsparungen zu kompensieren; und der Druck in diese Richtung wird umso stärker sein, wie der niedrige Dollar die
Konkurrenzfähigkeit der USA verbessert. Wir kommen damit zur zweiten großen unbeanworteten Frage, dem Wechselkurs.
Der Euro hat sich wieder auf seinem Einführungskurs eingependelt, nachdem er bis zu 30% seines Werts gegenüber dem Dollar verloren hatte.
Ist das eine gute Nachricht? Für die Monomanen einer starken Währung ist dies fraglos der Fall, denn ein starker Euro bietet einen Schutz gegen den
Import von Inflationstendenzen. Aber wenn wir die Sache mit ein wenig Abstand betrachten, sehen wir, dass die Lage sehr unsicher ist.
Eine starke Währung bedeutet nicht ohne weiteres eine starke Wirtschaft. Der Anstieg
des Euro geht heute einher mit einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in Europa, am Rande der Rezession. Das ist nicht das, was man uns versprochen
hat. Alle Anstrengungen für die Einführung des Euro auch das damit einher gehende schwache Wachstum wurden mit den
angeblichen Wohltaten der Einheitswährung gerechtfertigt. Dank ihr sollte es endlich möglich sein, eine echte europäische
makroökonomische Politik durchzuführen, die es erlauben würde, wieder Wachstum und Beschäftigung zu erfahren.
Doch paradoxerweise war die wirtschaftliche Erholung zwischen 1997 und 2001 zu einem
großen Teil das Ergebnis des Niedergangs des Euro. Es ist also alles so geschehen, als hätte man auf europäischer Ebene die Politik der
»Abwertungskonkurrenz« angewandt, die von jedem Mitgliedsland als Abweichung von der Doktrin angeprangert wurde.
Der bereits zitierte Blokland-Bericht zeigt sich »glücklich über die
Aufwertung des Euro im Vergleich zum Dollar, warnt aber davor, dass die Verstärkung dieser Tendenz nicht die Exporte gefährden darf«. Er
fasst die ambivalente Rolle des Wechselkurses zusammen und verweist damit auf eines der schwarzen Löcher der Währungsunion. Seit seiner
Einführung vor etwas mehr als vier Jahren schwankte der Euro zwischen 0,83 und 1,19 Dollar: Wo liegt das wünschenswerte Niveau? Die
Europäische Zentralbank blickt starr auf die 2%-Marke der Inflation, aber, so unglaublich es auch scheinen mag, niemand weiß, welchen
Wechselkurs sie ansteuert. Derselbe Bericht verlangt eine »umfassende Studie« über den Kurs des Euro und bestätigt damit, dass die
EZB sich spontan nicht für diese Frage zu interessieren scheint. Dieses kleine Detail wird in keinem der Gründungsverträge angesprochen.
Diese Ignoranz bestätigt uns in unserer Analyse des Euro: Er ist nicht gedacht als
Instrument, um eine besser koordinierte und beschäftigungsfördernde Wirtschaftspolitik zu unterstützen. Er ist gedacht als ein Instrument der
Wirtschaftspolitik, um Druck auf die Löhne und die Sozialhaushalte auszuüben. Wollte man wirklich eine internationale Währung haben, die
mit dem Dollar konkurrieren kann, bräuchte man eine viel kohärentere Politik der Wechselkurse und des Zinsniveaus. Anders gesagt müsste
man einen europäischen Diskurs führen, der hinsichtlich der monetären (und anderen) Vorgaben der USA autonom ist.
Zu diesen inneren Widersprüchen kommt noch der Druck hinzu, der von der neuen
Politik der USA auf Euroland ausgeübt wird. Dieser schützt das Wirtschaftswachstum in den USA und sei es um den Preis, dass dem Rest der Welt
die Last der Rezession aufgebürdet wird. Der Umfang des US-Handelsdefizits (etwa ein Drittel des französischen BIP!) hat sie dazu bewogen,
gegenüber dem Euro die Politik zu fahren, die sie seit 15 Jahren gegenüber dem Yen betreibt; das ist die Politik des schwachen Dollar. Damit
versuchen die USA, ihr Defizit zu reduzieren und Teile des Marktes zurückzuerobern. Das ist gewiss sehr riskant, und sei es nur, weil es mit niedrigen
Zinsraten einhergeht, die den Kapitalzufluss begrenzen könnten, der doch für die Finanzierung des Defizits unerlässlich ist, aber es zeigt, wie
abhängig die europäische Wirtschaft von den Leitlinien der imperialen Macht ist.
Angesichts all dieser Widersprüche hat die europäische Bourgeoisie nur eine Möglichkeit: eine Flucht nach vorn bei der Umsetzung der
neoliberalen Dogmen. Im Bereich der Beschäftigung geschieht dies besonders hartnäckig, und die Kommission wird ihrer Litanei nicht müde:
Wenn die Beschäftigung zugenommen hat, ist dies der Beweis, dass die »strukturellen Reformen« (d.h. ungeschützte
Beschäftigung und Flexibilisierung) Früchte zu tragen beginnen. Und wenn die Konjunktur rückläufig ist, heißt das, dass man
auf dem Weg der »Reformen« noch nicht weit genug gegangen ist. Der Gipfel von Barcelona 2002 hat die koordinierende Rolle der EU auch in der
Beschäftigungs- und Sozialpolitik gut sichtbar gemacht: In der Schlusserklärung steht, dass das Renteneintrittsalter um fünf Jahre nach oben
gesetzt und der Energiebereich für den Wettbewerb geöffnet werden soll. Wenn man alle Ankündigungen aneinanderreiht, versteht man, dass
es sich hier um eine systematische Demontage des Sozialstaats handelt.
Man kann sogar behaupten, dass sich dies nahezu logisch aus zwei widersprüchlichen
Anforderungen an die Haushaltspolitik ergibt: Auf der einen Seite sollen die Steuern gesenkt werden, angeblich aus Gründen der Attraktivität des
Standorts oder der Konkurrenzfähigkeit; gleichzeitig soll das Haushaltsdefizit reduziert werden. Dies ist nur auf einen Nenner zu bringen, wenn es gelingt,
die Ausgaben zu reduzieren und die sozialen Ausgaben als erstes. Verblüfft stellt man fest, dass die beiden großen Länder, die am
weitesten vom angelsächsischen Modell entfernt sind, sich in dieser Hinsicht am entschlossensten zeigen, als wollten sie ein unerträgliches
Handicap loswerden. Diese Politik ist unter sozialen Gesichtspunkten nicht zu verteidigen, aber sie wird dann einfach schwachsinnig, wenn man die Posten
für Forschung und Entwicklung senkt, die doch (sogar und vor allem in den USA) mittelfristig in Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit sehr
rentable Investitionen darstellen.
Alles läuft, als böte sich die Sozialdemokratie als Sühneopfer der
Modernisierung an. Vor nicht allzu langer Zeit stellte sie die politische Mehrheit in Europa, aber anstatt eine alternative Orientierung zu entwickeln, wollte sie
liberaler als die Liberalen sein, auch auf die Gefahr hin, die Macht zu verlieren, nachdem sie ihnen das Terrain bereitet hat. Blair ist der beste Führer der
Bourgeoisie, den man sich vorstellen kann, es sei denn er versucht, die Katastrophen, die die Privatisierung und die Senkung der öffentlichen Haushalte
hervorrufen, ein wenig abzumildern. Schröder und seine grünen Verbündeten haben eine »Agenda 2010« lanciert, die wie zwei
Tropfen Wasser auf das Programm von Raffarin erscheint. Dabei könnte man sich einige zusammenhängende Maßnahmen um ein paar vom
Keynesianismus inspirierte Grundsätze vorstellen: Stützung der Binnennachfrage, ein EU-Haushalt, der Transfers und Harmonisierung erlaubt, eine
aktive Wechselkurspolitik gegenüber den USA usw.
Manche glaubten sogar im Programm Berlusconis für die EU-Präsidentschaft eine
Rückkehr zu Keynes festzustellen8, weil es zu »einer wirksameren Unterstützung der Wirtschaft durch intensivere öffentliche
Investitionen« führe und Großprojekten, besonders im Bereich Verkehr, Priorität einräume. Liêm Hoang-Ngoc, ein linker
Sozialdemokrat, hält den Wunsch für die Wirklichkeit, wenn er in Le Monde erklärt, dass »die Rückkehr zu einer gewissen Form
des Interventionismus obligatorisch ist«.9 Dabei vergisst er, dass Jacques Delors vor zehn Jahren in einer vergleichbaren Konjunktur ein Weißbuch
veröffentlicht hat, in dem ebenfalls Großbaustellen auf den Informationsautobahnen mit Millionen von Arbeitsplätzen angekündigt
wurden.
Berlusconi ist im Übrigen sehr daran gelegen, das Dogma präsent zu halten, z.B.
indem er behauptet, die »Modernisierung des Arbeitsmarkts ist das einzige Mittel, den Bürgern Vollbeschäftigung zu garantieren«. Er
spricht davon, den »Unternehmergeist« zu fördern und »die Rentensysteme zukunftssicher zu machen«, auch wenn er sich
hütet, die Losung vom »Maastricht der Renten« wieder aufzugreifen. Das Drolligste ist, dass die Europäische Kommission als
prioritäre Verkehrsprojekte die Eisenbahnverbindung LyonTurin und den Brennertunnel benennt; sie bräuchten einen »neuen
Elan«.10 Für Berlusconi gehen die Geschäfte weiter; warum sollte er nicht von seinen sechs Monaten Präsidentschaft profitieren, um
ein paar Baustellen zu eröffnen?
Grundsätzlich muss man verstehen, dass ein »keynesianischer« Kompromiss absolut außer Reichweite ist, und dies aus mehreren
strukturellen Gründen: Die großen Konzerne haben keinen spezifisch europäischen Horizont, die Allianz zwischen Kapitalisten und Rentiers
unterliegt keinem gesamtgesellschaftlichen Druck, und es gibt keine Instrumente für eine wirkliche Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Nötig wäre ein Wiederanstieg offensiver sozialer Kämpfe, um das bestehende Szenario in Frage zu stellen.
Die ökonomischen und sozialen Widersprüche, die wir gerade aufgeführt
haben, sind von Dauer und neigen dazu, die innereuropäischen Spannungen zu verschärfen. Der Irakkrieg hat große Differenzen auf
politischer und diplomatischer Ebene bloßgelegt. Auch wenn es gefährlich ist, einfache Parallelen zu ziehen, lässt sich eine gewisses
Erklärungsmuster nicht leugnen: Zwischen den wichtigsten Mitgliedern der Kriegskoalition (Großbritannien, Italien, Spanien) und den wichtigsten
Gegnern einer Intervention im Irak (Deutschland, Frankreich, Belgien) herrscht annähernd der Unterschied zwischen einem noch sozialeren
»rheinischen« und einem offener neoliberalen »angelsächsischen« Kapitalismus. Aber diese Entgegensetzung ist dabei sich zu
erschöpfen. Ein mögliches Szenario wäre eine europäische Neuordnung unter amerikanischer Führung. Nur die Wiederwahl
Schröders auf der Basis einer Antikriegsposition hat es aufgeschoben.
Die miserablen Ergebnisse der Debatten im Konvent zeigen, wie unfähig die
Bourgeoisie ist, einen wirklich qualitativen Sprung hin zu einer europäischen Nation zu machen. Der Verfassungsvertrag beschränkt sich darauf,
den Vorrang des Marktes vor jedem anderen Modell gesellschaftlicher Organisation festzuschreiben. Die sozialen Rechte sind auf unterstem Niveau definiert,
mit Formulierungen, die auch tolerieren, dass manche Mitgliedstaaten sie nicht respektieren. Eine der Nagelproben der EU-Erweiterung wird sein zu wissen, bis
zu welchem Grad die Respektierung dieser Rechte von den neuen EU-Mitgliedern verlangt wird.
Dem bürgerlichen Programm fehlt die Kohärenz. Sein harter Kern ist sehr solide
und sehr geteilt: Solange es sich darum handelt den Arbeitsmarkt, den öffentlichen Dienst, die soziale Sicherheit, die Renten oder den Staat zu
»reformieren« oder zu »modernisieren«, sind alle Bourgeoisien voll des europäischen Enthusiasmus. Aber wenn über die
soziale Sicherheit gesprochen wird, haben alle ein Interesse daran, eine chaotische und explosive Situation aufrechtzuerhalten, die die Bedingung für eine
Spirale nach unten ist. Das bürgerliche EU-Projekt ist nur in Bezug auf die Finanzen föderalistisch, und die aktuelle hybride Verfasstheit der EU
kommt ihm recht gelegen, wo Beschlüsse fernab jeder sozialen Kontrolle und unter einer differenzierten institutionellen Hierarchie gefällt werden.
Die Bourgeoisie hat zugleich das Bedürfnis nach einem rigiden Rahmen für die Währung und die Haushalte und das Bedürfnis nach
einer maximalen Flexibilisierung aller sozialen Beziehungen.
»Das Problem der Rechten ist heute, dass es zwischen der Regierung und den
Trotzkisten nichts mehr gibt!«, schreibt Jean-Louis Bourlange.11 Man könnte diese scherzhafte Bemerkung leicht auf die europäische Ebene
ausdehnen. Was wirklich frappiert, ist das Verschwinden einer sozialdemokratischen bürgerlichen Alternative in Europa; von ihr bleibt nur noch der rein
funktionale Regierungswechsel. Der einzige Ausweg, der dem Bürgertum aus den Widersprüchen, Mängeln und der fehlenden
Legitimität der real existierenden europäischen Konstruktion bleibt, ist die ultraliberale Radikalisierung. Unter diesen Bedingungen ist allein eine
radikale Option in der Lage, eine wirkliche Alternative zu schaffen; sie hat als ihren Ausgangspunkt den Widerstand gegen die liberale Offensive zu nehmen.
Michel Husson
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
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