SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2003, Seite 20

Ursprünge eines Missverständnisses

Enzo Traverso über Hannah Arendt

Hannah Arendts Werke haben in Europa ein besonderes Schicksal erlitten. Zu Beginn des Kalten Krieges erschien Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als Werk einer damals vollständig unbekannten Autorin. In dem Maße, wie der Begriff »Totalitarismus« von der antikommunistischen Rechten monopolisiert wurde, wurde das Buch entweder, wie in Frankreich, als Produkt des McCarthyismus gewertet und folglich ignoriert, ja sogar boykottiert oder, wie in Deutschland, für antikommunistische Zwecke vereinnahmt. Zehn Jahre später veröffentlichte Arendt anlässlich des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, wo sie Augenzeugin war, gar ein Buch, das als Apologie des Nazismus aufgenommen wurde — was heute völlig absurd anmutet.
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hat aber nichts Antikommunistisches an sich. Das Werk gliedert sich in drei Teile, die jeweils mit »Antisemitismus«, »Imperialismus« und »Totale Herrschaft« überschrieben sind. Hannah Arendt untersucht zunächst die Krise, in die seit dem Ende des 19.Jahrhunderts der Emanzipationsprozess der Juden in Europa geraten war — deren sinnbildlicher Ausdruck war die Dreyfus-Affäre. Der Antisemitismus hörte damals auf, ein religiöses Vorurteil zu sein, und verwandelte sich in Rassenhass, der mit dem Aufschwung des modernen Nationalismus verbunden war.
Arendt analysiert den Imperialismus als eine Weltsicht, die der Aufklärung und der Philosophie der Menschenrechte entgegensteht, aber auch als rassistische Ideologie, die die kolonialen Eroberungen begleitet hat. In den westlichen Ländern schuf der Imperialismus Raum für eine neuartige Allianz zwischen dem Kapital und dem Mob — dank eines aggressiven und populistischen Nationalismus. In den Kolonialländern äußerte er sich in neuen Vernichtungspraktiken, bei denen die Effizienz einer Bürokratie, die nach ihrer eigenen »Rationalität« arbeitete, die Gewalt der modernen Armeen multiplizierte. Hannah Arendt sieht in den »administrativen Massakern« der kolonialen Welt eine Vorwegnahme der totalitären Gewalt des 20.Jahrhunderts.
Antisemitismus, Rassismus und Imperialismus nahmen ihre Gestalt im 19.Jahrhundert innerhalb der vom ancien régime ererbten imperialen Strukturen an. Als diese Ordnung 1914 zusammenbrach und einem System von Nationalstaaten Platz machte, erwies sich dieses als unfähig, die religiösen, ethnischen, sprachlichen und nationalen Minderheiten anzuerkennen — also alle Formen von Andersartigkeit, die sich nicht in die juristische und politische Geometrie fügten. Geprägt durch ihre Erfahrung als exilierte Jüdin, widmet Hannah Arendt erhellende Seiten dem Studium dieser »vaterlandslosen« Gruppen, die »außerhalb des Gesetzes« leben, einfach weil sie Opfer eines juristischen und politischen Systems sind, das ihre Existenz nicht anerkennen kann. Als perfekte Verkörperung des von der Aufklärung entwickelten universellen Konzepts vom Menschen waren diese »staatenlosen« Individuen, unfähig, mit einem Pass eine nationale Zugehörigkeit zu beweisen, jeder Art von Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Sie waren die ersten Opfer einer politischen Ordnung, deren Krise Europa in Brand setzte. Der Genozid an den Juden und Zigeunern sollte dies auf tragischste Weise bestätigen.
Der dritte Teil des Buches ist in mehrfacher Hinsicht der widersprüchlichste. Hannah Arendt analysiert darin mitten im 20.Jahrhundert den Aufstieg des Totalitarismus als Regime des Terrors, der auf die Zerstörung der Politik zielt. Laut Arendt beseitigt der Totalitarismus jede Trennung zwischen Staat und Zivilgesellschaft: Der Staat absorbiert die Gesellschaft vollständig bis zu ihrer Vernichtung; er unterdrückt jede Form von Pluralismus und Andersartigkeit, indem er versucht, den Gesellschaftskörper in eine monolithische Einheit zu verwandeln. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die arendtsche Definition von Totalitarismus die exakte Antithese der klassischen marxistischen Vision von Kommunismus, die das Verschwinden des Staates in einer befreiten humanen Gemeinschaft voraussetzt, die nicht uniformiert ist, sondern reich an ihren Unterschieden.
Diese Definition des Totalitarismus erfasst sicher ein Hauptmerkmal der Geschichte des 20.Jahrhunderts. Doch wirft die Argumentation auch Fragen auf. Gewiss können wir in die Definition sowohl Nazideutschland als auch die UdSSR unter Stalin einschließen, wie es Hannah Arendt tut, wobei sie zahlreiche Nuancen einführt. Problematisch ist nicht so sehr die Definition, sondern vielmehr die unterschiedlichen Genealogien, die unter diesen Begriff subsumiert werden: Antisemitismus und Imperialismus sind wesentliche Etappen im Prozess der Herausbildung des Nazismus, bei der Entstehung des Stalinismus spielen sie jedoch praktisch keine Rolle; dieser ist aus einer Revolution hervorgegangen, welche die Juden emanzipierte und das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung proklamierte, während das alte Zarenreich durch eine Föderation von Republiken ersetzt wurde. Antisemitismus und nationale Unterdrückung kehren unter dem Stalinismus zurück und haben dann einen völlig anderen Charakter und eine andere Funktion als in Nazideutschland.
Aus diesem Grund scheitert Hannah Arendt letztlich bei ihrem Versuch, die UdSSR unter den Begriff des Totalitarismus zu subsumieren. Nicht weil ihre Definition von Totalitarismus auf die UdSSR nicht anwendbar gewesen wäre, sondern weil der Ursprung von Nazismus und Stalinismus jeweils völlig verschieden ist.
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist ein wiederzuentdeckendes Werk und sollte für das Verständnis von Gewalt und Metamorphosen der Macht im 20.Jahrhundert als wesentlich betrachtet werden, trotz seiner Grenzen und Widersprüche.
Ein weiteres Missverständnis begleitete das Erscheinen von Eichmann in Jerusalem im Jahre 1963. Hannah Arendt verteidigt darin die These, dass die monströsesten Verbrechen nicht notwendigerweise von Monstern begangen werden, sondern die Mitwirkung ganz gewöhnlicher, mittelmäßiger Leute erfahren können, z.B. von Bürokraten, die nicht von Hass oder Fanatismus getrieben werden, sondern von bloßem Konformismus, Menschen mit einem blinden und beschränkten Geist. Bei diesem Prozess, der zum ersten Mal nach dem Krieg der Welt die Singularität des Genozids an den Juden enthüllte und den aus den Todeslagern entkommenen Opfern das Wort erteilte, indem er sie als Zeugen aufrief, richtete Hannah Arendt ihren Blick auf die Henker. Sie insistierte auf deren Banalität; das wurde zu Unrecht als Banalisierung des Verbrechens interpretiert. Dabei gab sie uns doch einen Schlüssel zum Verständnis der Gewalt im 20. Jahrhundert an die Hand.
Das Missverständnis hat heute keine Daseinsberechtigung mehr. Dafür hat der Prozess Papon in Frankreich vor einigen Jahren eine neue Bestätigung der Klarheit ihrer Diagnose geliefert.

Enzo Traverso

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