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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 4

Diese europäische Verfassung ist eine echte Gefahr!

von Georges Debunne

Georges Debunne war vormalig Generalsekretär des belgischen Gewerkschaftsdachverbands FGTB, Vorsitzender des EGB und Vorsitzender von dessen Rentner- und Seniorenverband FERPA.

Wen könnte der »euphorische« Empfang überraschen, den die europäische Verfassung von den rechten Oberhäuptern der Staaten und Regierungen erfahren hat? Sie haben sich doch längst jedweder sozialen Verpflichtung entledigt!
Dieser Verfassungstext darf nicht verabschiedet werden, solange im Bereich der Steuer- und Sozialpolitik Einstimmigkeit und Vetorecht bestehen bleiben, denn eine antisoziale Regierung unter 25 Mitgliedstaaten reicht damit, um jede soziale Verbesserung verhindern. Die sozialen Rechte müssen in der EU-Grundrechtecharta, die jetzt Teil der Verfassung ist, offiziell garantiert werden. Und ein juristisches Instrumentarium ist erforderlich, um die Aushandlung europaweiter Tarifverträge zu ermöglichen.
Das sind drei wesentliche Forderungen, die nötig sind, um eine starke Absenkung des Lebensstandards in unseren westlichen Ländern bei gleichzeitiger Nichtverbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung in Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Litauen, Estland, Slowenien und Lettland zu verhindern.
Hört auf, uns zu erzählen, dass das Möglichste getan wurde und das Schlimmste hätte kommen können!
Jetzt haben wir das Schlimmste. Es entstand unter den Händen von Valéry Giscard D‘Estaing und ging über in jene Silvio Berlusconis, der die Macht haben wird, die Europäische Verfassung zu ändern, bevor sie von den Staats- und Regierungschefs im Dezember 2003 verabschiedet wird.
Diese Europäische Verfassung wird über unseren nationalen Verfassungen stehen: Sie müssen revidiert werden, um die Anforderungen der europäischen Gesetzgebung zu erfüllen; das ist bereits mehrfach geschehen. Die progressiven Parteien können keine progressive Sozialgesetze einführen. Aber den rechten Parteien ist alle Macht gegeben — dank der Stärkung der konkurrierenden Gesetzgebung und der drastischen Kriterien des Stabilitätspakts.
Tatsächlich sind die rechten Parteien ermächtigt, Sozial- und Steuerdumping durchzusetzen, den ungezügelten Kapitalismus und die endlose Ausbeutung der Arbeitenden zu fördern — durch ungeschützte Verträge und niedrige Löhne, durch die Verallgemeinerung der Zeitarbeit, ohne Verpflichtung zur Sicherung von Renten, Gesundheitsfürsorge, Arbeitslosenunterstützung.
Das ist die Rückkehr ins 19.Jahrhundert!
Die Staaten, in deren Verfassung Gott erwähnt wird, verlangen, dass »Gott« allen europäischen Bürgern als höchster Wert aufgezwungen wird. Und die kommende Regierungskonferenz hält vielleicht noch manch andere Überraschungen für uns bereit!
Schließen wir unsere Kräfte zusammen, um unser kollektives soziales Eigentum zurückzufordern, das uns von 2000 bis 2003 vom Europäischen Konvent gestohlen wurde.
Über zehn Jahre lang versäumten es die christlichen Gewerkschafter an der Spitze des EGB, die Arbeitenden ihrer Verantwortung gemäß vor den Gefahren der europäischen Gesetze zu warnen. Sie haben zu oft kapitalistische Interessen gefördert.
Soweit ich konnte, habe ich innerhalb und außerhalb des EGB als Vorsitzender des Europäischen Rentner- und Seniorenverbands (FERPA) die Alarmglocke geläutet; doch ich wurde nicht einmal angehört.
Als der belgische Gewerkschaftsverband FGTB die Politik des »leeren Stuhls« praktizierte [in Prag 2003], zeigte er Mut und den Willen, die Ziele der freien Gewerkschaften wieder auf die Tagesordnung zu setzen, wie wir sie nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen haben, als wir uns auf europäischer Ebene organisierten, um eine Gegenmacht zur Binnenmarktordnung zu bilden und die Interessen der Arbeitenden zu verteidigen.
Eine Generation sozialdemokratischer Gewerkschafter, die zu Akteuren und Verteidigern der europäischen Integration geworden sind, hat sich ihre Ziele bewahrt: die Ächtung von Krieg, Diktatur und Rassismus und die Sicherung einer gesellschaftlichen Ordnung der Solidarität, die alle schützt und befreit und allen dient, die auf die Schaffung des Glücks jedes einzelnen von uns abzielen, auf die Entwicklung menschenwürdiger Verhältnisse und die Verbesserung der Lebensqualität aller.
Wir haben für diese Dinge gekämpft, wir haben soziale Rechte und Tarifverträge zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den meisten europäischen Ländern errungen. Wir erstrebten dies für uns, aber auch für unsere Kinder, unsere Enkelinnen und Enkel und für die ganze Menschheit.
Keine Errungenschaft besteht für immer: Die Regierenden haben die beschlussfassenden Organe auf die europäische Ebene verschoben. Deshalb müssen auch wir auf dieser Ebene kämpfen, um nicht wieder von vorn anfangen zu müssen.

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