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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 5

Mythen in Tüten

Schröders Sommeroffensive und die möglichen Alternativen

Das rot-grüne Sozialabbauprogramm, »die größten Veränderungen in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik« (Kanzler Schröder), trifft vor allem und zunächst die Arbeitslosen. Durch die jetzt beschlossene Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe wird ein Drittel der Arbeitslosen, also etwa 1,8 Millionen Menschen, nach Auslaufen ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld abrupt an die Schwelle zur Armut gedrängt.
Die sog. Gesundheitsreform ist eine einzige unsoziale Kürzungsorgie zulasten der Versicherten. Die Lohnabhängigen müssen jetzt alleine die Beiträge zur Finanzierung des Krankengelds tragen. Der Zahnersatz wird aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichen. Kranke müssen mit höheren Zuzahlungen bei Medikamenten und Eintrittsgeld beim Arzt weiter bluten. Dagegen sparen die Unternehmer Beiträge zum Krankengeld; »Leistungserbringer« wie Ärzte, Apotheker und Pharmaindustrie bleiben weitgehend ungeschoren. Von den 9 Milliarden Euro, die im kommenden Jahr eingespart werden sollen, entfallen auf die Versicherten 8 Milliarden.
Mit der im Planungsstadium befindlichen Rentenreform droht weiterer Sozialraub. Das Konzept von Rürup und Co. sieht eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sowie eine Absenkung des Rentenniveaus vor. Dadurch verschlechtert sich die finanzielle Situation älterer Menschen erheblich und die Wahrscheinlichkeit von Altersarmut nimmt zu.
Parallel dazu plant die Bundesregierung weitere Wohltaten zugunsten der Herrschaften mit den dicken Bankkonten. Sie will den Spitzensatz der Einkommensteuer senken. Das bringt den Reichen 6 Milliarden Euro zusätzlich aufs Konto und reißt gleichzeitig neue Löcher in die öffentlichen Haushalte — womit dann als unabwendbarer Sachzwang weitere Einsparungen bei den öffentlichen Leistungen begründet werden.

Leere Versprechungen

Wie üblich, versucht man auch diesmal durch gezielte, professionell gemachte Lügenkampagnen den Opfern der Maßnahmen vorzugaukeln, diese Einschnitte würden nur in ihrem ureigensten Interesse vorgenommen. Im Rahmen der Diskussion um die Hartz-Vorschläge wurde lanciert, durch die Personal-Service-Agenturen (PSA) würden 500000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Inzwischen ist Fakt, was von Anfang eigentlich schon jedem hätte klar sein können. Es wurden kaum Leute neu vermittelt.
Auch bei der Gesundheitsreform wird wieder besseres Wissen behauptet, dass die Beitragssätze für die Krankenversicherung sinken. Fakt ist aber, dass lediglich die Beitragssätze der Unternehmer sinken, die der Lohnabhängigen dagegen steigen, weil sie jetzt ja allein für das Krankengeld und den Zahnersatz einzahlen.
Zeitweise verging kaum eine Woche, in der nicht eine neue Sau durchs Dorf getrieben wurde. Nachdem Wirtschaftsminister Clement mit seinem Vorschlag, weitere Feiertage in Arbeitstage umzuwandeln, nicht gut angekommen war, griffen andere Lautsprecher der Unternehmerinteressen den Ball auf. Die Menschen müssten (natürlich unbezahlt) länger arbeiten, dann könnte die Wirtschaft wieder in Schwung kommen und zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Wie das ausgerechnet in einer Überproduktionskrise gehen soll, die sich ohnehin schon dadurch auszeichnet, dass ein Überangebot an Produkten besteht, die niemand kaufen kann, wagte außer ein paar wenigen Menschen aus dem Umfeld des »traditionalistischen« Flügels der Gewerkschaften niemand zu fragen. In den beherrschenden Massenmedien jedenfalls wurde solcher Unfug keineswegs kritisch hinterfragt, sondern noch so aufgepeppt, dass er knallige Schlagzeilen ergab.
Dass Lobbyisten Tatsachen verdrehen und im Interesse ihrer Klientel unsinnige Vorschläge mit lächerlichen Begründungen propagieren, kann man verstehen. In einer Gesellschaft, in der ein kritischer öffentlicher Diskurs existiert, wäre das nicht weiter schlimm. Wenn aber sämtliche Medien und die gesamte etablierte Politik die Wirklichkeit auf den Kopf stellen oder sich nicht mehr trauen, dem Irrsinn zu widersprechen, bekommt das Ganze schon totalitär anmutende Züge. Selten war so deutlich, dass die herrschende veröffentlichte Meinung die Meinung der Herrschenden ist.

Millionen sponsern Millionäre

Nimmt man ohne neoliberale Scheuklappen eine Bestandsaufnahme vor, so ergibt sich eine gewaltige Umverteilung zulasten derer, die als Lohnabhängige ihr Dasein bestreiten müssen zugunsten der Kapitaleigner und Rentiers sowie deren hoch dotierten Führungspersonals in den Betrieben und Institutionen. Jeder Prozentpunkt geringere Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung bringt ihnen zusätzliche Gewinne in Höhe von 7,5 Milliarden Euro. Millionen sollen also dafür bluten, dass sich die Taschen einer kleinen Minderheit von Multimillionären noch weiter füllen. Und es ist keineswegs so, dass deren Hunger jetzt gestillt wäre. Im Gegenteil, jeder leicht errungene Erfolg macht ihnen Appetit auf mehr. Die Unternehmerverbände loben zwar Schröder dafür, dass er ohne große soziale Widerstände seine »Agenda 2010« umsetzt. Gleichzeitig machen sie aber deutlich, dass dies nur der Anfang sein kann.
Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Lehrstunde in Sachen Klassenkampf — Klassenkampf von oben.
Das große Versprechen: Mehr Jobs durch Lohnverzicht, Begleitmusik der Sparmaßnahmen, ist wahrlich nicht neu. Er wird seit Jahrzehnten schon vom Unternehmerlager gebetsmühlenartig abgespult. Wie aber steht es um die Fakten?
In den letzten 20 Jahren stagnieren die Reallöhne, obwohl die Produktivität gestiegen ist. Heute können sämtliche Produkte billiger hergestellt werden. Die bundesdeutsche Wirtschaft ist Exportweltmeister. Obwohl die Lohnkosten im internationalen Vergleich relativ hoch sind, sind die Lohnstückkosten, die Kosten pro hergestelltem Exemplar, relativ niedrig. Grundlage dafür sind der Stand der Technologie, der Ausbildungsstand der Beschäftigten, die Infrastruktur usw. Der deutsche Binnenmarkt bietet wegen gesunkener Kaufkraft nur begrenzte Absatzmöglichkeiten.
Seit Ende der 90er Jahre gibt es auch Schwierigkeiten im Export, nicht, weil wir zu viele Feiertage hätten oder zu hohe Löhne, sondern infolge der weltweiten Absatzkrise. Billig produzieren hilft nicht, wenn man die Waren trotzdem nicht verkaufen kann. So hat es in den letzten Jahren in den Niedriglohnregionen noch massiveren Arbeitsplatzabbau gegeben als in den »Hochlohnländern«.
Aus der Sicht der Unternehmen ist die Senkung der Lohn- und Lohnnebenkosten natürlich zentral. Den Besitzern und Aktionären geht es um die Profitabilität der Firma und die wird natürlich erhöht, wenn die Kosten der Arbeit sinken. Mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze hat dies nichts zu tun. Dazu kommt, dass die BRD nicht das einzige Land ist, in dem Maßnahmen zur Verringerung der Löhne, des Arbeitslosengelds und der Renten durchgesetzt werden. So läuft es überall. Und wenn die Konzerne eines Landes die eingebildete »nächste Stufe der Konkurrenzfähigkeit« erreicht haben, so werden die Unternehmer der Nachbarländer nachziehen, bis einer wieder noch umfassendere Kürzungen vorlegt.
Unablässig fordern Unternehmer und Politiker die Senkung der Lohnnebenkosten. Das ist schlau von ihnen, denn die hohen Beiträge für die Sozialversicherung belasten auch die Beschäftigten und wer würde sich nicht wünschen, dass die Abzüge geringer werden? Doch das Ganze ist ein Propagandatrick. Die Lohnnebenkosten sind nichts anderes als Lohnkosten, die zur Aufrechterhaltung der Arbeitskraft dienen. Sie wären eigentlich zur Gänze von den Unternehmen zu tragen. Die deutschen Konzerne haben es schon erreicht, dass die Beschäftigten mehr und mehr Anteile an der Sozialversicherung selbst tragen müssen (Riesterrente, Zuzahlungen für Medikamente).
Die Belastung der deutschen Konzerne mit Sozialabgaben und Steuern liegt im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Während die Sozialabgaben relativ hoch sind, ist die Steuerbelastung z.B. im Vergleich mit dem Unternehmerparadies USA recht gering. Jetzt wollen die Konzerne schrittweise, aber möglichst schnell, ganz aus der Finanzierung der Sozialversicherung aussteigen und sämtliche Risiken den Beschäftigten, Arbeitslosen und Rentnern aufbürden. Das dient zur Verbesserung der Gewinnsituation, aber keineswegs zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
»Das beste Investitionsförderprogramm sind Steuersenkungen auf breiter Basis«, sagt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Schauen wir uns die Fakten an. Durch die Steuerreform fielen die Gewinnsteuern (Körperschaftsteuer, veranlagte Einkommensteuer und Gewerbesteuer) von 2000 auf 2001 um über 30 Milliarden Euro. Und was ist dann passiert? Die Unternehmen nahmen das Steuergeschenk entgegen und als Gegenleistung gab es 400000 Arbeitslose mehr. Was als »erster Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« verkauft wurde, diente ausschließlich der Sanierung der Unternehmensbilanzen.
Die Parole »Gewinnsteuern senken, um Investitionen zu fördern« hat ungefähr den gleichen Wahrheitsgehalt wie die Behauptung der Bush-Regierung, dass die USA in den Irak einmarschieren mussten, um Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Letztere waren genauso wenig da, wie die Investitionen gekommen sind.
Weder der Arbeitszwang, der sich hinter den Verschärfungen der »Zumutbarkeit« für die Arbeitslosen verbirgt, noch der Abstieg des Lohnniveaus und der Umbau der Arbeitsvermittlung und -verwaltung werden etwas daran ändern, dass die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau stagniert bzw. steigt, weil im gesamten öffentlichen Bereich ein permanenter Abbau stattfindet, weil es in den letzten Jahren eine Großpleite nach der nächsten — von Holzmann zu Babcock-Borsig — gegeben hat und weil viele Kleinunternehmen heimlich still und leise in Konkurs gegangen sind. Was hat das mit den Schwächen der Arbeitsvermittlung zu tun? Was kann ein Arbeitsloser, der nicht von Schwerin nach München ziehen will, dafür, dass die Pleitewelle rollt?

Und wo bleiben die Alternativen?

Diese Frage müssen sich Kritiker des real stattfindenden Sozialraubs immer wieder fragen lassen. Diese Alternativen sind gar nicht so schwierig und kompliziert. Voraussetzung ist allerdings, dass man die neoliberalen Scheuklappen ablegt.
Es fehlt in dieser Gesellschaft keineswegs am notwendigen Kleingeld, um bestehende soziale Standards zu halten oder sogar noch weiter auszubauen. Es ist ja beileibe nicht so, dass es in der BRD nichts zu tun gäbe. Im Bildungsbereich, in der Altenpflege und im Gesundheitswesen fehlen Hunderttausende von Fachkräften. In den Altersheimen sind viele alte Menschen der industriell organisierten »Satt-und-sauber«-Pflege unterworfen. In den Krankenhäusern arbeiten viele Pflegekräfte dermaßen unter Druck, dass sie auf dem besten Wege sind, selbst zu Patienten zu werden. Deutschland leidet auch nicht an einem Übermaß an erschwinglichen Wohnungen, gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsmitteln oder einem Übermaß an Umweltschutz. Hier könnte ein öffentliches Investitionsprogramm Abhilfe schaffen.
Neben der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen ist die Verteilung der vorhandenen Arbeit nötig, für alle Beschäftigten, in großen Schritten. Ein erster Schritt wäre die allgemeine Einführung der 30-Stunden- Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Die Unternehmen müssten von den Gewerkschaften dazu gezwungen werden, die gleichen Personalstunden wie vor der Arbeitszeitverkürzung zu haben, sprich die Verkürzung voll für Neueinstellungen zu verwenden. Allein durch die sofortige Einführung der 35-Stunden-Woche in allen Branchen würden rein rechnerisch über 1,5 Millionen Arbeitsplätze entstehen. Die Wahrheit ist keineswegs kompliziert.
Natürlich würden solche Maßnahmen bei den Unternehmerverbänden eine Welle der Empörung hervorrufen. Es ist nicht davon auszugehen, dass durch wie immer geartete »Konsensgespräche« deren Zustimmung oder auch nur Tolerierung zu erreichen wäre. Da hilft auch die von wirklich reformorientierten (sprich keynesianistischen) Kräften z.B. in den Gewerkschaften bemühte Argumentation nichts, wonach die dadurch erzeugte Anhebung der Binnennachfrage auch im Unternehmerinteresse liege. Darauf zu hoffen, heißt Wunschdenken mit Realität zu verwechseln.
Nirgendwo auf dem neoliberal geprägten Globus ist auch nur in Ansätzen zu erkennen, dass die real existierende Kapitalistenklasse die selbstverständlich damit einher gehende Beschneidung ihrer Profite in Betracht zöge. Im Gegenteil: unter dem Schlagwort »Standortkonkurrenz« setzt sie allerorten auf die verstärkte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums in ihre Taschen in Gestalt von Streichung weiterer sozialer Leistungen zugunsten von (steuerlichen) Geschenkpaketen für die eigenen Taschen, auf verschärfte Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die (noch) Beschäftigten mittels Streichung bestehender tariflicher Standards und durch deren verschärfte Auspressung in Form von weiterer Arbeitsverdichtung und (unbezahlter) Mehrarbeit (Stichwort Arbeitszeitverlängerung).
Wenn aber die einzige Möglichkeit, die Unternehmer »bei Laune« zu halten, darin besteht, einen permanenten Abbau von sozialen Rechten, die Privatisierung der Rente, der Gesundheit und der Arbeitsvermittlung zuzulassen, wäre es da nicht für die überwiegende Mehrheit der Menschen in diesem Land besser, darauf zu verzichten, das Kapital bei Laune zu halten? Wenn der Kapitalismus nicht in der Lage ist, eine Zukunftsperspektive zu bieten, sollten wir nicht unsere Zukunft in Frage stellen, sondern den Kapitalismus.
Das heute erreichte technologische Niveau schafft die Möglichkeit, die Arbeitszeit ohne Verluste der Lebensqualität für die Mehrheit der Bevölkerung zu verkürzen und die Arbeitwelt selbst vielseitiger und anregender zu gestalten. Automatisierte Arbeitsprozesse können uns mehr Freizeit geben, mehr Zeit für Kreativität und mehr Möglichkeiten zu erwägen, wohin die Welt treibt.

Franz Mayer

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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