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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 8

Gesundheitsreform

Auf den zweiten Blick mehr als ungerecht!

von TOBIAS MICHEL

Wir haben die beiden gesehen, in der Tagesschau und als Aufmacher in den Tageszeitungen, erleichtert lachend und stolz mit dem frisch geschnürten Paket ihrer »Gesundheitsreform«. Auf den ersten Blick jedoch wirken ihre Vorschläge für eine 20 Milliarden Euro schwere Umverteilung wie ein halbherziges Sammelsurium aus Zumutungen, Beschwichtigungen und Erschreckendem.
Dabei lag für Schmidt und Seehofer die Latte recht hoch. Zehn Jahre zuvor hat ein ganz ähnliches Tandem, Seehofer und Dressler, in einem Pakt von Union und Sozialdemokraten den großen Sprung geschafft, mit dem »Kompromiss von Lahnstein«. Damals schickten sie die gesetzlichen Krankenkassen in den Konkurrenzkampf um Kunden und Kranke, um Marktanteile und gute Risiken.
Statt 1225 Krankenkassen konzentrieren sich heute gerade noch 350 auf das Geschäft, und die Versicherten lassen sich über Internet und Stiftung Warentest zur Billigkasse leiten. Die Stimmung scheint reif für einen weiteren Systembruch.
Worauf also sind Schmidt und Seehofer so irritierend stolz? Chronisch Misstrauische werden im drohenden Gesetzespaket erst auf den zweiten Blick fündig.
Erstens: Sie haben einen neuen volkswirtschaftlichen Normalwert gefunden — der richtige durchschnittliche Beitragssatz für gesetzlich versicherte Gesundheit liegt bei 13%. Basta! Das damit Bezahlbare beschränkt nun den Leistungskatalog, »das medizinisch Notwendige« aber wandert wie bereits »das medizinisch Sinnvolle« in die Altkleidersammlung. Abweichungen vom Normalwert — wir kennen das aus der praktischen Medizin — rechtfertigen im Zweifelsfall beharrliche Therapieversuche auch bei fehlendem Leidensdruck. Oberhalb der magischen 13 — also außerhalb des gesetzlich versicherten Risikos — beginnen zunächst die neuen Eintrittsgelder und die Zu- und Selbstzahlungen. Die Übergänge zur privat bezahlten Behandlung verwischen, der Gesundheitsmarkt wuchert jenseits dieser Grenze ungehindert weiter. Beim Gang zur Hausärztin, zur Apotheke oder ins Krankenhaus — stets heißt es: »Vergiss die Geldbörse nicht!«
Zweitens: Sie senken die Zahlbeiträge der Arbeitgeber. Deren Lobbyverband BDA hatte gefordert, sie gesetzlich auf 6% der Gehälter einzufrieren. Mit dem Tabubruch bei der Parität — zunächst bei Krankengeld und Zahnprothetik — kommen Schmidt und Seehofer diesem Wunsch recht nahe. Ihr Kunstgriff, Leistungen aus dem gemeinsam finanzierten Katalog zunächst herauszulösen und dann mit der Pflicht zur privaten Risikovorsorge wieder anzubinden, ist wiederholbar. Damit ist eine weitere Stellschraube gelöst, die schrittweise die indirekten Lohnanteile senkt — von Staats wegen. Die Parität in den Organen der Selbstverwaltung aber, also der hälftige Zugriff der Arbeitgeber auf unsere Krankenkassen, bleibt trotz dieses Rückzugs unangetastet. Mehr noch!
Drittens: Schmidt und Seehofer lassen die gesetzlichen Kassen nun in den »fairen Wettbewerb« mit den privaten ziehen. Die Privatkassen hatten, angeschlagen durch die Aktienkrise, in einer beispiellosen Anzeigenkampagne Druck für einen Umstieg auf ihre kapitalgedeckten Produkte gemacht. Der neue Markt der Zusatzversicherungen für Krankengeld und Zähne verspricht ihnen eine Atempause. Und AOK, Barmer und Co. werden dort rasch lernen, selbst wie Private zu denken und zu handeln, sich voneinander absetzen und gegenseitig ausstechen. Obendrein »dürfen« sie bald Einzelverträge mit Ärzten und Kliniken schließen — der Weg in eine Medizin der Sonderangebote ist geöffnet.
Solche Brüche im System der Gesundheitsversorgung beschleunigen den Druck zu weiteren, noch radikaleren Amputationen.

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