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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 11

La Caravana

Eindrücke von den WTO-Protesten in Cancún

La caravana — so nennt sich ein Bündnis verschiedener studentischer Gruppen, die sich am Abend des 6.September auf den Weg von Mexiko-Stadt nach Cancún aufmachen. Die Mobilisierung war bis einige Wochen zuvor recht schwierig gewesen, erst Ende August hatte sich das Bündnis aus teilweise sehr zerstrittenen Gruppen zusammengeschlossen. Die Aktivisten kommen aus unterschiedlichen politischen Zusammenhängen, unter anderem der Tierschutzgruppe Desobediente Mexiko und mehreren Studentengruppen. Die meisten studieren an der UNAM, der einzigen staatlichen Universität Mexikos.
Schon bei den Fahrtkosten gab es Probleme. Für einen Europäer mögen 400 Pesos (rund 40 Dollar) bezahlbar sein, für einen Mexikaner ist es eine Unsumme. Trotzdem fährt die Karavane schließlich mit 16 Bussen los.
Die Stimmung ist recht aufgeheizt. Seit dem Aufruf der Zapatisten, in Cancún zu protestieren, ist das Interesse am Kampf gegen den Neoliberalismus und eine seiner wichtigsten Institutionen stark gestiegen. Grund zum Protest haben die Mexikaner mehr als genug.Wie einige der Studenten erklären, sind die politischen Strukturen seit der Abwahl der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) im Jahr 2000 zwar offener geworden, der verknöcherte Korporatismus wurde durchbrochen. Der Kurs der derzeitigen Regierungspartei PAN und des Regierungschefs Vincente Fox, eines ehemaligen Coca-Cola-Managers, ist jedoch knallhart neoliberal. Wichtige Schlagworte sind NAFTA, ALCA und das Agrarabkommen, das vor allem den mexikanischen Kleinbauern den Hals bricht.

Der Marsch auf Cancún

Die Fahrt gestaltet sich anstrengend und improvisiert, die Unterbrechungen sind vielfältig: Warten auf andere Busse, Polizeikontrollen, ein Unfall. Die Temperaturen liegen bei etwa 35 Grad. Bei den deutschen Aktivisten kommt Sehnsucht nach dem komfortablen Zug nach Evian auf.
Gut organisiert ist das Bezugsgruppen- und Delegiertensystem. Die Aktivisten teilen sich in verschiedene Bezugsgruppen und Blöcke ein, um die für den 9.September geplante Blockade zu organisieren.Die Stimmung im Bus wird immer besser, je näher man Cancún kommt.
Nach 52 (!) Stunden erreicht die »global alliance«, wie man sich inzwischen wegen der vielen mitgereisten Genossen aus anderen Ländern nennt, endlich das Olympiastadion Quintana Roo. Dort wird im Baseballstadion nachts das Lager aufgebaut. Auch hier ist die Organisation gut: Es gibt sanitäre Anlagen, Wasser und genügend Platz. Das erste Plenum zur Planung der Blockade findet noch in derselben Nacht statt.
Am nächsten Morgen zeigt sich jedoch das »mexikanische« Zeitgefühl: Die Blockade war für 5.30 Uhr geplant, um 11 Uhr befinden sich noch immer alle im Stadion und spielen Fußball. Um 12 Uhr formieren sich schließlich die Blöcke und der Marsch auf Cancún beginnt. Diese erste Demonstration verläuft eher enttäuschend. Es nehmen nur etwa tausend Menschen teil. Eine Blockade an der vorgesehenen Stelle ist nicht möglich bzw. überflüssig, weil die entsprechende Kreuzung »km0« bereits mit Zäunen abgesperrt wurde. Ein Eindringen in die Rote Zone ist unmöglich — Ratlosigkeit bei den Demonstrierenden.

Der Selbstmord von Lee Kyang Hae

Der 10.September bringt einige Überraschungen. Geplant ist ein friedlicher Marsch der mexikanischen und koreanischen Bauernverbände, an dem auch die Studenten und verschiedene indigene Gruppen teilnehmen. Die Bezugsgruppe Resistencia mestiza nimmt als Hühner verkleidet an der Demonstration teil.
Am »km0« kommt es zu Ausschreitungen, die Zäune werden niedergerissen. Vía campesina distanziert sich von der Organisation, es entsteht Verwirrung. Einigen gelingt es, in die Rote Zone einzudringen, diese erste Absperrung ist jedoch weit vom Konferenzzentrum entfernt. Mitten in den Tumult fährt ein Krankenwagen vor. Der Grund wird erst später bekannt: Der Präsident der koreanischen Bauern- und Fischervereinigung, Lee Kyang Hae, hat sich vor der Absperrung selbst erstochen. In einer Presseerklärung ist zu lesen, Lee habe sich das Leben genommen, weil »die WTO Bauern töte«. Der Selbstmord hätte verhindert werden können, wenn die koreanische Delegation ihre Botschaft auf der Ministerkonferenz hätte vorbringen dürfen.
Die Meinungen über diese tragische Aktion sind gespalten. Einige mexikanische Gruppen erklären sich sofort solidarisch. Die europäischen Aktivisten aber haben Probleme mit Selbstmord als politischer Aktion, empfinden den Vorfall als tragisch und sind nicht bereit, dieses politisch zu unterstützen. Im Camp einigt man sich schließlich darauf, gemeinsam an Mahnwache und Beerdigung teilzunehmen. Am »km0« wird ein neues Camp installiert, das jetzt »Camp Lee« genannt wird.
Den 11.September begeht man in Lateinamerika weniger als Gedenktag an das Attentat auf das World Trade Center vor zwei Jahren. Der Tag ist der Erinnerung an den chilenischen Militärputsch im Jahre 1973 gewidmet, der als Niederlage für die gesamte südamerikanische Linke gilt und als Scheitern des Versuchs, den Kapitalismus durch parlamentarische Wahlen zu überwinden. Daher sind für diesen Tag keine Demonstrationen, sondern ein »Gedenk-Cazerolazo« für den Abend geplant.

Der 11. und der 13.September

Die meisten nutzen den Tag, um an verschiedenen Workshops des mehrtägigen Foro de los pueblos teilzunehmen. Das Programm ist vielfältig. Vía campesina bietet Workshops zur Agrarreform, und verschiedene indigene Gruppen bieten Foren an. Im Camp im Baseballstadion findet das Forum »Zapatismus und globaler Widerstand« statt. Hier werden Erfahrungen von Gruppen aus der ganzen Welt ausgetauscht, die sich mit den Prinzipien der Zapatisten oder auch nur mit zivilem Ungehorsam beschäftigen.
Im Laufe des Nachmittags findet eine Vernetzung der Gruppen statt. Es herrscht Einigkeit darüber, dass jede Gruppe nur unter den Bedingungen in ihrem jeweiligen Land arbeiten kann. Trotzdem plant man die Installation eines Informationsnetzes sowie einen globalen Aktionstag des zivilen Ungehorsams im Dezember. Das Cazerolazo am Abend findet im karibischen Regen statt — es ist bunt, laut, fröhlich und nass. Ernsthaftigkeit tritt ein, als man am »Camp Lee« auf die Koreaner stößt, die einen Gedenkmarsch für den Gewerkschaftsführer veranstalten.
Während am 12.September nur kleinere Aktionen stattfinden, organisiert sich am 13.September, dem globalen Aktionstag, eine hervorragend durchgeplante, friedliche Aktion des zivilen Ungehorsams unter Beteiligung aller vorhandenen Gruppen. Diese Aktion war am Tag vorher in den vier Camps geplant worden, der Anstoß kam u.a. von dem neugegründeten, globalen Widerstandsnetzwerk.
Die Rote Zone ist inzwischen etwas weiter nach hinten verlegt worden und mit insgesamt vier Zäunen abgesperrt. Zunächst werden nun die Zäune mit Zangen durchgeschnitten. Dieser erste Teil der Aktion ist Aufgabe der Frauen. Der Vorschlag dazu kam von einem ebenfalls während des Forums gegründeten Frauennetzwerk. Nun klettern Aktivisten, vor allem Koreaner und mexikanische Bauern, auf die Gatter und befestigen dort Seile. Danach können die Gatter in einer Art Tauziehen heruntergezogen werden. Diesen Part übernehmen vor allem Studenten, aber auch viele Aktivisten der MST, der brasilianischen Landlosenbewegung. Unterstützt werden sie die ganze Zeit von verschiedenen Sambagruppen und dem Gesang der Zuschauer. Nach zwei Stunden ist die gesamte Absperrung entfernt. Jetzt schlägt die Stunde der Koreaner: Sie erbitten sich zunächst einige Schweigeminuten für den verstorbenen Lee. Nach verschiedenen Ansprachen initiieren sie eine symbolische Aktion »Burn the WTO«, bei der zwei Pappfiguren verbrannt werden. Vor der Polizeikette werden Blumen nierdergelegt.
Bemerkenswert ist ebenfalls das Ende der Aktion: Einzelne wollen noch die Polizeikette durchbrechen. Die Mehrheit ist jedoch der Ansicht, dass dieses keinen Sinn macht, da man sich dem Konvergenzzentrum ohnehin nicht weiter nähern kann. Nachdem eine Diskussion erfolglos bleibt, formieren sich die Aktivisten in Ketten und drängen alle zurück zum »Camp Lee«, wo noch eine größere Versammlung stattfindet. So bleibt die Aktion, die die Stärke des verreinigten Widerstands von unten symbolisieren sollte, friedlich.
Amüsant ist noch eine Aktion der Polizei: Auf dem Weg zum Parque de las Palapas, wo noch gefeiert werden soll, wartet eine Gruppe vor einem McDonald‘s-Restaurant. Sofort erscheinen vier Polizeiwagen, Einsatzkräfte formieren sich in voller Ausrüstung vor dem Fast-Food-Laden. Nach großem Gelächter zieht man weiter und lässt den Tag gemütlich ausklingen.

Der Sieg

Der letzte Tag der Proteste verläuft zunächst ruhig. Die Abschlussveranstaltungen der Foren finden statt. Auf dem Forum der Heinrich- Böll-Stiftung findet noch eine Abschlussdiskussionen über Reformen der WTO statt. Die Karawane reist am frühen Nachmittag ab. Um 16 Uhr kommt die große Nachricht von den akkreditierten NGOlern: Die Verhandlungen sind gescheitert! Die afrikanischen Staaten mit Kenya als Sprecher wollten keine Verbindung des Agrarabkommens mit den Singapur-Themen und haben ihr Veto eingelegt. Nachdem sie bereits abgereist sind, ist die Konferenz damit beendet. Großer Jubel »drinnen« und »draußen«.
Dies ist die zweite Ministerkonferenz innerhalb von vier Jahren, die abgebrochen wird. Besonders die Tatsache, dass sie an dem offensichtlichen Graben zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern gescheitert ist, stellt die WTO als Organisation an sich in Frage und bedeutet einen großen Sieg für die globalisierungskritische Bewegung.
Leider sind viele mexikanische Aktivisten bereits abgereist. Die Verbliebenen feiern noch. Am »km0/Camp Lee« wird gesungen und getanzt. Es wird nicht nur das Ende der Konferenz gefeiert, gleichzeitig ist der 15.September in Mexiko der »Tag der Unabhängigkeit«, ein Nationalfeiertag. Gefeiert wird hier nicht die endgültige Unabhängigkeit Mexikos, die durch den sog. Plan von Iguala 1822 erreicht wurde. Die Mexikaner gedenken dem grito de indepencia (Schrei der Unabhängigkeit) 1810. Diese letzten Aufstände fanden unter der Führung der Priester Hidalgo und Morelos statt, die vor allem für soziale Gerechtigkeit kämpften. So wird die Nacht zu einer Nacht der Kämpfe gegen Armut und Unterdrückung in der Vergangenheit und in der Gegenwart.

Katharina Loeber, Mexiko-Stadt

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