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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 13

Tschetschenien

Noch härter und regelloser

Vier Wochen vor der Wahl, die den Tschetschenen einen Präsidenten mit Treue zur Russländischen Föderation bringen soll, hat Achmat Kadyrow Rundfunk und Fernsehen unter seine Kontrolle gebracht. Die Moskauer Nesawissimaja Gaseta bewertete das ironisch als Stärkung der Stabilität. Kadyrow dürfte der Kandidat sein, den Präsident Putin am liebsten siegen sehen würde. Putin hat ihn schließlich als Regierungschef in Grosny eingesetzt.
Er äußert gelegentlich Kritik an der russischen Kriegführung in der Region, aber nicht an Russlands Krieg. Von dem 1996 gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow hat sich Kadyrow, der in seiner früheren Funktion als Mufti auch schon den Jihad gegen die Russen gepredigt hatte, rechtzeitig getrennt. Zehn Bewerber standen Anfang September noch auf der Liste. Keiner von ihnen ist der Moskauer Führung unangenehm. Also kann sich der Demokratismus voll entfalten.
Den Krieg in den Bergen am Nordhang des Kaukasus wird die scheindemokratische Farce nicht beenden. Der russische Krieg hat unüberbrückbare Gegensätze geschaffen. Seit dem ersten Krieg, der unter Präsident Boris Jelzin 1993 begann, ist die industrielle Basis — die Erdölindustrie von Grosny — zerstört. Sie war eine vorwiegend von russischen Verwaltern, Ingenieuren und Facharbeitern beherrschte Branche. Die Landwirtschaft und zahllose Zulieferer hingen von ihr ab. Diese Arbeitsmöglichkeiten sind nachhaltig zerstört. Zugleich ist die schulische und universitäre Bildungsinfrastruktur vernichtet worden. Die zivilisatorischen Grundlagen der Region wurden niedergerissen. Die Bevölkerung wurde auf Subsistenzniveau zurückgeworfen.
Seit zehn Jahren ist eine Generation herangewachsen, die keine ökonomische und kulturelle Perspektive mehr hat. Viele sind drogensüchtig geworden. Laut offizieller Statistik gibt es 10000 Heroinabhängige in Tschetschenien. Von weicheren Drogen sind fünf- bis zehnmal mehr abhängig. Das sind bis zu 10% der Bevölkerung. Drei Viertel der Abhängigen sind unter dreißig Jahre alt. Die Dimension des Problems wird damit deutlich.
Viele Jugendliche und junge Erwachsene wählen den Weg in den bewaffneten Widerstand. Der russische Journalist Andrej Babizki stellte in diesem Sommer fest, dass die angebliche »Handvoll Rebellen« besser bewaffnet, diszplinierter und besser organisiert sind als jemals zuvor. Und sie bekennen sich stärker als früher zu jener radikalen, militanten Version des Islam, die augenscheinlich auf wahhabitische (saudi-arabische) Quellen zurückgeht und durch Aktivisten mit afghanischem Mudjaheddin- oder Talibanhintergrund vermittelt worden ist.
Diese Entwicklung bestätigt keineswegs die russische Version, es gehe »nur noch« um den Kampf gegen den Terrorismus. Sie belegt vielmehr den Zusammenbruch aller anderen ideologischen Orientierungen. Die stalinistischen Ideologie ist infolge der kollektiven Verschleppung der Tschetschenen nach Zentralasien (1944—1954) diskreditiert.
Von der wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik der Nach-Stalin-Zeit hat eine neue mittelständische Aufsteigerschicht profitiert, aber ihre Angehörigen leben längst nicht mehr in Tschetschenien, sondern in den Metropolen Russlands. Viele sind in die russische Gesellschaft völlig integriert — oder waren es wenigstens —, z.B. der Wirtschaftswissenschaftler Ruslan Chasbulatow, der 1993 Vorsitzender des Obersten Sowjets war. Die in der sowjetischen Verwaltung und Wirtschaft tätigen Kader aus dieser sozialen Schicht haben während des ersten Tschetschenienkriegs Grosny, ihren gewöhnlichen Arbeitsort, verlassen und leben jetzt verstreut in Russland; wenige sind in den Kaukasus zurückgekehrt.
Aus dieser Schicht, und zwar der im Dienst der Sowjetarmee Aufgestiegenen, rekrutierten sich auch die ersten Unabhängigkeitsführer wie Dschochar Dudajew und Aslan Maschadow. Sie strebten nicht die völlige staatliche Unabhängigkeit an, sondern eine weitgehende kulturelle und ökonomische Autonomie innerhalb der Russländischen Föderation, wie sie bspw. Tatarstan 1991 erreicht hat. Auf dieser Grundlage war 1996 der Vertrag zwischen Maschadow und dem russischen Generalspolitiker Alexander Lebed ausgehandelt worden.
Seit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs ist dieser Weg aber in den Augen einer — nicht quantifizierbaren — Mehrheit diskreditiert. Damit fällt nach der sowjetischen auch die angeblich demokratische Orientierung weg. Zudem verschmäht die Putin-Führung jetzt jeden Kontakt zu dieser im Grundsatz kompromissfähigen Gruppe und schließt sie von den Wahlen absolut aus.
In dieser Lage boten die islamistischen Kämpfer aus Arabien zweierlei Orientierung an: die auf den bewaffneten Kampf und die rechtfertigende militante Ideologie. Einzelne Warlords bekannten sich schon 1996 zu ihr. Das Bündnis des Clanführers Schamil Bassajew mit dem arabischen Condottiere Ibn al-Khattab ist ein frühes Beispiel. Bassajew hat sich aber kaum aus Überzeugung dem Extrem-Islamismus angeschlossen; er verbündete sich mit Khattab auf dem Hintergrund einer alten Rivalität zwischen seinem Clan und den Clans, die hinter Maschadow standen und stehen. Die Clanauseinandersetzungen sind wiederum virulent geworden, weil die gewaltsame Auseinandersetzung mit Russland zur allgemeinen Kriminalisierung und Atomisierung der tschetschenischen Gesellschaft entscheidend beigetragen hat.
Die Brutalität des russischen Vorgehens hat schließlich eine weitere Schicht von Aktivisten hervorgebracht. Die russische Armee, die im Kaukasus aufgeboten wird, ist demoralisiert. Ihr »gewöhnlicher, ziviler« Terror, Razzien und Raubzüge der Armee und der Geheimdiensttruppen treiben Jugendliche und Frauen in die letzte, verzweifelte Kampfform, nämlich zu Selbstmordattentaten. Das — wohl hauptsächlich propagandistisch gemeinte — Amnestieangebot Moskaus erreicht weder diese Gruppe noch die Islamisten. Nur 171 Bewaffnete haben sich gegen das Versprechen der Straffreiheit zur Abgabe ihrer Waffen überreden lassen. Die bewaffnete Auseinandersetzung wird auch nach der sog. Demokratisierung nicht aufhören. Sie dürfte noch härter und regelloser werden.

Karl Grobe-Hagel

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