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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 20

Mord & Totschlag

Daniel Pennac, Monsieur Malaussène, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2002, 608 S., 12,90 Euro.

Gibt man den Suchbegriff »Paris-Belleville« im Internet ein, findet man einen netten Schüleraufsatz über das »untypische« Quartier und sein Pendant am Boulevard Barbès-Rochechouart: Trotz »Sanierungsmaßnahmen« in der Ära Chirac haben beide Viertel ihren Charakter als innerstädtische Wohngebiete für Einwanderer nicht verloren, und beim Verlassen der Metro befindet man sich im »anderen« Paris.
Noch Mitte der 90er Jahre war zu befürchten, dass durch die städtebauliche Gentryfizierung, den Anstieg der Mieten, den Kontrollzugriffen der Sozialbehörden und der Polizei die Vertreibung der aus Asien und Afrika eingewanderten Menschen gelingen würde. In diesen 90er Jahren spielt der Roman Monsieur Malaussène von Daniel Pennac.
Es hagelt Zwangsvollstreckungen und Räumungsbefehle, das alte Filmtheater Zèbre ist von der Schließung bedroht. Es gibt schlitzohrigen Widerstand und kleine Hoffnungen. Jeremy Malaussène will im letzten Kino in Belleville ein selbstgeschriebenes Theaterstück aufführen und erreicht, dass der gesamte Familienclan einschließlich des epileptischen Hundes zur Dauerprobe ins Zèbre zieht. Wie immer haben die Malaussènes Familienprobleme: Die Mutter ist vom Liebhaber zurückgekehrt, diesmal und zum allerersten Mal ohne Nachwuchs. Den erwarten das Familienoberhaupt Benjamin und seine Freundin Julie. Doch Ruhe hat der 10-köpfige Haufen nicht: Ein cineastisches Vermächtnis erweist sich als verhängnisvoll, und Benjamin wird zum Verdächtigen in einer Mordserie an Prostituierten. Wie in den vorangegangenen Romanen Paradies der Ungeheuer oder Wenn alte Damen schießen wird Benjamin zum Sündenbock — eine lebensgefährliche Rolle, die er als Ernährer seiner Geschwister auch schon mehrfach professionell ausgeübt hat. Daniel Pennac, der selbst seit 30 Jahren in Belleville lebt, hat mit seinen makaber-grotesken Malaussène-Romanen ein ganzes Panoptikum an Personen geschaffen, die als echte und falsche Freunde, Ganoven, Polizisten, Schlosser, Restaurantbesitzer und Ärzte das Leben dieser Familie begleiten und hin und wieder die notwendigen Rettungsringe auswerfen.
Das Zèbre hat überlebt, am Boulevard Belleville 75/77 finden heute Musikveranstaltungen und Ausstellungen statt. Und wer — vielleicht im November — das Leben des Viertels spüren will, sollte sich in einer der kleinen Seitenstraßen in einem vietnamesischen Restaurant eine Nudelsuppe bestellen und schauen.

Udo Bonn

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