SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2003, Seite 24

Der Turmbau zu Babel

Eine Metapher der Geschichte des Abendlands

Der »Turmbau zu Babel« ist eine der größten Ausstellungen der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Graz. Akribisch sind hier Zeugnisse der Malerei, der Archäologie, Forschungsergebnisse der Linguistik, der Physiologie, der Ethnologie und zahlreicher angrenzender Wissenschaften zusammengetragen und bieten einen umfassenden Einblick in die Entwicklung und Zerstörung der Fähigkeiten des Menschen, sich zu verständigen — Gesellschaft zu bilden.

»Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! — und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!
So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.«
1.Mose 11,1—9

Für die biblische Erzählung ist bisher keine parallele altorientalische Überlieferung gefunden. Sie gehört einer alten Schicht der jahwistischen (vormosaischen) Überlieferung an, die vereinfacht die religiöse Entwicklung der Menschheit nach der Flut darstellt. Darin erscheint das Land Schinar (die Ebene zwischen Euphrat und Tigris, Basra und Bagdad) als die Wiege der Großreiche, deren Könige schon seit dem 3.Jahrtausend mit ihrem Titel »König der vier Weltgegenden« Anspruch auf Weltherrschaft erhoben. Babylon hatte damals die führende Stellung im Land Schinar und baute große Türme. Die Juden in babylonischer Gefangenschaft sahen darin die Anmaßung einer Macht, die Gott allein gehört.
Nach neuerer Interpretation der Turmbauerzählung handelt es sich dabei um eine Metapher, die nicht unbedingt an einem bestimmten Bauwerk festgemacht werden kann. Das Motiv der »einen Rede« findet sich ebenso wie das »sich einen Namen machen« in assyrischen Königsinschriften, insbesondere in denen Sargons II. (722—705 v.u.Z.), die vom Bau seiner neuen Hauptstadt Dur- Sarrukin handeln. Der Bau scheiterte daran, dass Sargon in der Schlacht gegen die Assyrer fiel und Babylons Griff nach der Weltherrschaft damit vereitelt wurde. In der Zeit ihrer babylonischen Gefangenschaft hätten die Juden die Erzählung und die damit verbundene Kritik an Weltherrschaftsplänen auf den damaligen Herrscher von Babylon, Nebukadnezar II. (604—562 v.u.Z.), übertragen, der sich mit gigantischen Baumaßnahmen ebenfalls »einen Namen machen wollte«.
Flavius Josephus, der jüdische Geschichtsschreiber aus dem 1.Jahrhundert u.Z., stellt Nimrod, den Enkel des Ham, als Bauherrn des Turms dar. »Der war der erste, der Macht gewann auf Erden«, heißt es in der Bibel. »Und der Anfang seines Reichs war Babel, Erech, Akkad und Kalne im Lande Schinar« (1.Mose 10,8.10). Nach der Sintflut siedelten die drei Söhne Noahs (Sem, Ham und Jafet) mit ihren Stämmen in der Ebene Schinar. Wegen Übervölkerung forderte Jahwe sie auf, Kolonien zu gründen, damit sie nicht miteinander in Streit gerieten. Doch Nimrod überzeugte sie, ihr Glück nicht Gott, sondern ihrer Tüchtigkeit zuzuschreiben und sich auf die eigene Kraft zu verlassen. Er baute einen Turm, der so hoch sein sollte, dass er sie vor einer neuen Sintflut schützen könne.
Josephus interpretierte die Sprachenvielfalt noch als etwas Positives und Zeichen für die Größe des Römischen Reichs. Erst Augustinus begründete die mittelalterliche Tradition, Sprachverwirrung und Zerstreuung der Völker als Strafe Gottes für den Hochmut der Menschen zu betrachten. Umberto Eco merkt dazu an: »Der Grund [für die Turmbaudarstellung] ist, dass in diesen sog. ›dunklen‹ Jahrhunderten sich gewissermaßen die Katastrophe von Babel wiederholt. Von der offiziellen Kultur ignoriert, beginnen struppige Barbaren, Bauern, Handwerker, analphabetische ›Europäer‹, eine Vielzahl neuer Idiome zu sprechen, von denen die offizielle Kultur noch nichts zu wissen scheint.«
Im 16.Jahrhundert vollzieht sich ein entscheidender Wandel. Der Turm wird zum Synonym für die Darstellung von Größe. Pieter Bruegel d.Ä., an dem sich die Turmdarstellungen in den folgenden Jahrhunderten orientieren werden, stellt ihn dar als das »Unvollendbare«, in seinem Größenwahn lückenhafte, ja fehlerhafte Unterfangen. »Infolge des eklatanten Mangels an Koordination der zahllosen winzigen Einzelhandlungen, die einem undurchsichtigen, von Anfang an mit Unausführbarkeit behafteten Konzept folgen, gewinnen diese den Charakter hilfloser Lächerlichkeit gegenüber dem grandiosen Hohn eines alptraumhaften Bankrotts der Vernunft, den die gewaltige Baustelle ausdrückt. Vor allem ist die Konstruktion, der Bauplan des Turms in sich selbst unmöglich und absurd. Dem Aufweg der Schneckenrampen des Mantels konkurriert im Innern ein radiales Ansteigen zur Mitte, dem jedes Ziel mangelt.«
Ernst Bloch interpretiert das Gemälde etwas anders. Er spricht im Zusammenhang mit Bruegels Turmbaubildern von einem »prometheischen Gebilde« und »rebellischen Bauwerk«. »Es lag der Zeit Fausts durchaus nahe … ein Wunschbau … mit keinesfalls eindeutiger Verwerfung und als leider durchkreuztes Denkmal eines Schaffenwollens wie Gott … das zwar, wie Jacob Böhme sagt, einen hoffärtigen Ausgang hat, aber ein großes Ziel.« Hoffart wird verworfen, »nicht aber der Licht- und Höhentrieb in ihr«.

Als Archetypus steht der Turm von Babel für den ewigen Kampf zwischen dem Bauen für die Ewigkeit und der Vergänglichkeit allen menschlichen Schaffens — zwei unüberbrückbare Gegensätze, auch in der Architektur. Es gibt kein Bauwerk, so groß und fest es auch sein möge, das diesem Kreislauf nicht unterworfen wäre.
Dieses Infinitum ist das erste, was wir bei den meisten Darstellungen des Babylonischen Turms bemerken; die Winden und Aufzüge, die Meißel und Hämmer, die vielen dargestellten Menschen scheinen es nie zu schaffen, das Bauwerk wirklich zu vollenden. Wir erinnern uns an die großen Kathedralen der Gotik; auch sie sind in den meisten Fällen Torsi geblieben; sollten sie dann und wann fertiggestellt worden sein, sind sie in den älteren Teilen längst wieder zur Baustelle geworden.
Antonio Gaudí hat diese Gedankenwelt geradezu zum Gestaltungsprinzip für seine Sagrada Familia in Barcelona erhoben, auch ein Bauwerk, das viel zu groß, viel zu kompliziert ist. Niemand weiß, ob es wirklich jemals vollendet wird — aber was ist schon vollendet, wenn im Hintergrund der Zahn der Zeit nagt, der alles wieder zerstört.
Die klassische Antike interessierte sich für das Turm-Thema nicht. Erst mit der von der Bibel inspirierten Geschichte des frühen Christentums lassen sich auch die ersten bildlichen Zeugnisse belegen — ausgenommen einige Darstellungen auf Rollsiegeln aus babylonischer Zeit.
Eine Sonderstellung nimmt die islamische Welt ein, die sich lange der Typen der Antike und des Orients bediente: In den Minaretten der frühen Moscheen lebt das Motiv des Babylonischen Turms weiter. Das Minarett der Großen Moschee in Samarra und dasjenige der Moschee des Ibn-Tulun in Kairo stehen in dieser Tradition. Weiter in den Westen ist dieses Wissen jedoch nicht gleich vorgedrungen, obwohl zwischen dem Vorderen Orient und Europa ein blühender Handel ablief und kulturelle Informationen intensiv ausgetauscht wurden.
In mittelalterlichen Bibelhandschriften sind Turmbau und Sprachverwirrung ein beliebtes Thema für Illustrationen. Die Darstellungen fußen auf dem Vorbild römischer Wehrtürme — hohe, quadratische Bauwerke. Sie zeigen den Turm im Bau, mit allem dafür notwendigen Werkzeug und Personal. Die Vergänglichkeit wird hier oft weggeschoben, im Mittelpunkt steht die detailgetreue Darstellung dessen, was am Bau passiert, wodurch diese Abbildungen zu entscheidenden Quellen über den mittelalterlichen Baubetrieb geworden sind.
Die Spiralform, die in der späteren Zeit dominiert, taucht erstmals im frühen 16.Jahrhundert auf. Sie könnte Symbol des himmelstrebenden Wissens mit all seinen Facetten sein, Symbol der Gratwanderung zwischen den Möglichkeiten rationaler Erkenntnis und dem Unvermögen, die einfachsten und trivialsten Fragen des Menschseins einer Antwort zuzuführen. In der Mitte des Jahrhunderts bricht der Niederländer Cornelis Anthonisz erstmals mit der mittelalterlichen Darstellungstradition. Er zeigt nicht den Zustand des Werdens, der nahenden Vollendung, sondern den Augenblick der Zerstörung durch die Mächte des Himmels. Entsetzt flüchten die Menschen am Fuß des Bauwerks, liegen erschlagen von seinen Trümmern am Boden. Die Bibel weiß von einer Zerstörung des Turms nichts. Die Turmgeschichte wird hier eigenwillig zu Ende gedacht; in späteren Jahrhunderten wird diese Variation noch mehrmals aufgegriffen.
Dominant aber wurde die ganz anders geartete Auffassung Bruegels. Bei ihm bildet der Turm noch eine hoffnungvolle Baustelle. Gewaltig ragt er über die übrigen Häuser. Der Mensch greift nach dem Himmel, kratzt die Wolken mit seinem Tun; der Mensch der Renaissance mit seinen Fähigkeiten und seinem Selbstbewusstsein feiert hier einen uneingeschränkten Sieg.
Zur Zeit der Französischen Revolution tauchen erneut gigantische Architekturveduten auf. Losgelöst von jedem Umfeld stehen jetzt ungeheure Architekturmonumente in leeren Landschaften. Es gibt für diese Bauten keine Umwelt, sie existieren in sich und für sich selbst, als Beweis dafür, wozu der Mensch als Überwinder der Natur fähig ist. Der Mensch mit seinen Dimensionen verliert hier vollkommen an Bedeutung, in Form von Reliefbändern wird er zum Dekor an einem Gebäude, das den Maßstab des Universums anstrebt.
Diese autonome Architektur beeinflusste die Architektur der Moderne am Anfang ihrer Entwicklung ganz entscheidend. Als sich diese an der Wende des 19. zum 20.Jahrhunderts aus dem Kanon der stilistischen und gesellschaftlichen Konventionen befreite, begann eine Zeit der individualistischen, megalomanischen Fantasien, die im einzigartigen, genialen Werk der Architektur das Potenzial eines sinngebenden Monuments der jeweiligen Epoche vermutete.
Frank Lloyd Wright, der amerikanische Pionier der modernen Architektur, hat hier den nachhaltigsten Einfluss ausgeübt; zunächst mit seiner Gründung von neuen »Bauhütten«, privaten Architekturschulen. In Illinois und Arizona sollten sich auserwählte Schüler in klösterlicher Atmosphäre einzig den Ideen einer zukünftigen Architektur widmen. Vergleichbar damit waren das Bauhaus-Konzept in Deutschland und die Wchutemas-Schulen in der revolutionären Sowjetunion, die dazu noch möglichst alle anderen Künste zu integrieren und in den Dienst der Architektur zu stellen versuchten.
Alle diese Schulen am Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten die Wiege der Moderne der Architektur und verstanden sich als Laboratorien für neue babylonische Versionen davon. Verlassen wurde die Rolle des Architekten als Baumeister eines vorhandenen gesellschaftlichen Zustands. Ab nun war der Architekt aufgerufen, in jedem seiner Werke ein Bild von Zukunft zu antizipieren: bewusst gegen den Geist der Zeit, bewusst gegen den vorhandenen gesellschaftlichen Konsens.
Frank Lloyd Wright entwarf für Chicago den Mile High Illinois, kein Wolkenkratzer mehr, sondern die vertikale Stadt schlechthin: eine Meile hoch, für 130000 Einwohner gedacht, auf mehr als 500 Stockwerken, mit atomar betriebenen Fahrstühlen. Es scheint so, als ob die heutigen Visionen von Investoren und Architekten noch immer versuchen, Frank Lloyd Wrights Idee von 1956 zu erreichen und irgendwann einmal zu übertreffen.

Aus dem Katalog der Grazer Ausstellung zusammengestellt von Angela Klein.



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