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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 5

Kein Bezugspunkt mehr

Heiner Halberstadt über die alte und die neue SPD, die Rolle der SPD-Linken und die Zusammenarbeit von SPD und PDS

Er ist als langjähriges Vorstandsmitglied der SPD in Frankfurt am Main, als persönlicher Referent des damaligen Frankfurter Oberbürgermeisters Volker Hauff und als langjähriges Mitglied des linken Frankfurter Kreises ein intimer Kenner der SPD. Nachdem er 1996, zusammen mit Dieter Dehm eine Erklärung unterzeichnet hatte, in der gefordert wurde, die Gräben des Kalten Krieges zu überwinden und das Verhältnis zur PDS zu versachlichen, bekam er ein Parteiordnungsverfahren und trat in der Folgezeit in die PDS ein. 1998 wurde er Vorsitzender der PDS Frankfurt und ist seit drei Jahren Stadtverordneter im Kommunalparlament. Über die Lage in der SPD sprach mit ihm Angela Klein.

Ich möchte dich ansprechen in deiner Eigenschaft als langjähriges SPD-Mitglied, weil ich davon ausgehe, dass du immer noch guten Einblick in die Verhältnisse in der SPD und noch viele persönliche Beziehungen dazu hast.
Nicht nur das; ich setze mich natürlich auch damit auseinander, was heute die »neue SPD« darstellt und wie es dazu gekommen ist.

Wie wirkt denn die Agenda 2010 auf die SPD-Mitglieder, wie diskutieren sie das?
Ich kann nur für Frankfurt und Südhessen antworten. Alle die Vorhaben, die als »Reform« bezeichnet werden und in der Agenda 2010 gebündelt sind, lösen Resignation aus, Schulterzucken und nicht zuletzt eine steigende Zahl von Austritten. Im südhessischen Raum hat die SPD in den letzten beiden Jahren 9000 Mitglieder verloren. In Frankfurt sind es mindestens 500—800, die die SPD verlassen haben, sie haben resigniert und verfallen in politische Apathie.

Siehst du irgendwo Bestrebungen, Kontrapunkte zu setzen, sich an der Basis zu organisieren, Gegenstandpunkte zu formulieren, in organisierter Form zu sagen: Das ist keine sozialdemokratische Politik mehr?
Organisiert — das genau ist nicht der Fall. In den Ortsvereinen der SPD gibt es Diskussionen, etwas schwerfällig und mit Schulterzucken begleitet. Ein Teil der Leute, die sich gegen diese Politik wenden, äußern ihren Protest und ihren Widerstand außerhalb der SPD. Bei den Demonstrationen und Versammlungen, die hier in Frankfurt gelaufen sind — im Gewerkschaftshaus oder bei der Demonstration in Wiesbaden — sieht man schon eine Reihe von vertrauten Gesichtern, es sind Menschen, die ihren Widerstand nicht mehr in der eigenen Partei einbringen, sondern außerhalb.

Was bedeutet das für die Entwicklung der SPD? Du hast vorhin von der »neuen SPD« gesprochen. Was verstehst du darunter, und seit wann machst du solch eine Entwicklung fest?
Wir wollen historisch nicht bis in die 20er Jahre zurückgreifen. Die entscheidende Zäsur war das Godesberger Programm — auch wenn das damals nicht bewusst geworden ist, bedingt durch die lange Oppositionszeit, in der sich die SPD befand. Damals hat sich die SPD ganz ausdrücklich vom Ziel einer sozialistischen Gesellschaft verabschiedet. Danach folgte ein längerer Prozess, wo eine linke Gruppierung in der SPD sich in unterschiedlichen Ausdrucksformen bemüht hat in Erscheinung zu treten: auf Seminaren, Parteitagen, auf regionaler oder Bundesebene. Doch die Konturen einer sich sozialistisch verstehenden Gegenposition sind dabei immer unschärfer geworden, sie waren immer auch ein Stück weit vom Versuch bestimmt, irgendeine Form zu finden, die die rechte Mehrheit in der SPD akzeptiert.
Diese rechte Mehrheit verkörpert ja nicht eine ideologisch abgrenzbare »neue Rechte«, sondern eine Orientierung, die sich rein pragmatisch mit den herrschenden Verhältnissen abgefunden, diese als das effektivste Wirtschaftssystem aufgenommen und sich darauf festgelegt hat. Das geht schon seit längerem so, in einem langsamen Prozess von oben nach unten und umgekehrt, durch alle Gliederungen der Partei hindurch.
Man könnte das so zusammenfassen: Es gibt die Vorstellung, dass es möglich sein müsste, den Kapitalismus demokratisch zu zähmen und sozial auszugestalten. Aber eine Orientierung über den Kapitalismus hinaus ist im Großen und Ganzen in der SPD verloren gegangen. Was übrig geblieben ist, nenne ich die »neue SPD« — ähnlich wie New Labour.

Nun wird New Labour ja verbunden mit einer nochmaligen Anpassung der Labour Party an die neoliberalen Doktrinen, im Gegensatz zu Old Labour, das — auch im Rahmen des Kapitalismus — eine keynesianische, wohlfahrtsstaatliche Orientierung versucht hat.
Als keynesianisch kann man die Blair-Politik auch schon nicht mehr bezeichnen und die der Schröder-Regierung schon gar nicht. Die hat sich vom Keynesianismus längst verabschiedet — wenn sie ihn jemals aufgenommen hat. Man sagt ja nicht zu Unrecht, dass die derzeit herrschenden Parteien in ihrer Programmatik eigentlich im Großen und Ganzen untereinander austauschbar seien — sofern Programmatik noch eine Rolle spielt. Aber, wenn man genauer hinschaut, sind die Programme nicht mehr das Entscheidende, entscheidend ist der Pragmatismus, und das ist nichts anderes als ein Sich- politisch-Bewegen in Vorgaben, die letzten Endes von den Interessen der Herrschenden in dieser Gesellschaft vorgegeben sind. Politik ist eine Dienstleistung für diese Interessen geworden. Diese neue Rolle, die die Politik zu spielen hat, ist ja auch im Schröder-Blair-Papier dargelegt worden.

Ja, das Schröder-Blair-Papier wurde aber als qualitativer Bruch gegenüber der Politik selbst noch von Helmut Schmidt empfunden; auch der Bruch zwischen Schröder und Lafontaine als Bruchlinie zwischen einer keynesianischen und einer wirtschaftsliberalen Orientierung begriffen. Siehst du das auch so? Ich habe bei dir den Eindruck, du sagst, dass ist eigentlich gar nicht so wichtig.
Wichtig oder weniger wichtig will ich damit nicht sagen. Ich meine, dass das Schröder-Blair-Papier eine Kontinuität in einem längeren Entwicklungsprozess zum Ausdruck bringt, damit ist es keine Zäsur, nicht ein neuer Schritt, sondern eine Folge dessen, was voraus gegangen ist und das, worin es mündet. Ich sehe da keinen Bruch.

Wenn Lafontaine heute versuchen würde, in der SPD eine Fraktion auf seinen keynesianischen Grundlagen zu bilden, dann würden die Puppen tanzen.
Ich glaube, da gibt sich Lafontaine einer Illusion oder einer falschen Einschätzung hin. Ich glaube nicht, dass er weit über das hinaus, was er im Saarland oder hier und da vereinzelt in der Bundesrepublik an Getreuen um sich zu scharen vermag, noch eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der künftigen SPD spielen kann.

Wieso meinst du das?
Weil die Erosion, die Veränderung im Denken und Handeln der heutigen SPD-Mitglieder kaum noch mit der »alten SPD« vergleichbar ist. Die Älteren, die noch Vorprägungen haben aus der Zeit nach 1945, sind altersmäßig aus der Politik schon ausgeschieden. Die Jüngeren, die nachgewachsen sind, haben sich noch nie mit Keynes und einer Politik der staatlichen Intervention in die Ökonomie beschäftigt. Die Partei hat immer noch den Namen SPD, aber es ist im Laufe der Zeit eine ganz andere Partei daraus geworden, die mit der alten SPD kaum noch etwas gemein hat. Ein paar kritische Geister, Menschen, die in der sozialen Arbeit stecken oder eine gewisse gewerkschaftliche Orientierung haben, die sind für Lafontaine erreichbar. Aber die Partei in ihrer Gesamtheit wird keine große Gefolgschaft für Lafontaine hergeben. Ich kann mich natürlich irren und vielleicht gibt es morgen neue Konstellationen, aber das ist meine Einschätzung auf der Grundlage von Erfahrungen, die ich in der SPD im Laufe der Jahrzehnte nun mal gesammelt habe.

Aber dann muss doch in den 80er Jahren Entscheidendes passiert — oder nicht passiert — sein. Also in der Periode, wo die SPD in der Opposition war. Mit den 68ern ist ja eine neue Generation in die SPD geströmt, die links orientiert war. Sie hat es in den 80ern aber nicht vermocht, gegen die Regierung Kohl ein Oppositionsprojekt zu entwickeln. Wie reimt sich das? Hast du eine Erklärung dafür?

1961—63 wurden im Zusammenhang mit dem Ausschluss des SDS eine Reihe von linken Intellektuellen aus der SPD ausgeschlossen. Das waren die inzwischen alt gewordenen Linken. Was mit dem Scheitern der Oppositionsbewegungen von 68 an bis in die 70er Jahre in die SPD eingetreten ist, fand dort Verhältnisse vor, die nicht gerade ihren Ideenwelten entsprachen. Dennoch sagten sie, es gibt keine andere Möglichkeit: das eine ist gescheitert, jetzt muss man versuchen, in der SPD einen gewissen Einfluss aufzubauen. Dabei wurden sie natürlich auch mehr oder weniger von den administrativen Möglichkeiten der SPD — in Landesregierungen, auf kommunaler Ebene, in die Bundestagsfraktion — integriert.
Dieser Frankfurter Kreis, der sich damals als Verständigungsgruppe gebildet hat, umfasste keine uninteressanten Leute. Aber schon damals war deutlich absehbar, dass die Linken, die in die SPD eingetreten sind — nehmen wir nur mal jemanden wie Karsten Voigt — schnell begriffen haben, dass mit einer sozialistischen Orientierung in der SPD kein Spiel zu machen ist, höchstens mit politischen Operationen, die in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit oder mehr Demokratie gingen. Sie haben sich in sehr kurzer Zeit dem Spielraum angepasst. Ob in Ortsvereinen, Land oder Bund — dieser Prozess war überall gleichermaßen feststellbar. Man muss nur wissen, dass der heute Regierende Bürgermeister von Bremen auch mal dem Frankfurter Kreis angehört hat — dann weiß man, welche Entwicklung da stattgefunden hat.

Man kann also nicht mehr damit rechnen, dass sich aus der Sozialdemokratie heraus noch mal eine Strömung bildet, auf die sich sozialistische Politik beziehen kann.
Auf keinen Fall. Etwas anderes ist es, dass sich die SPD natürlich als Organisation — wenngleich reduziert in Mitgliederzahl und Wählerstimmen — als Faktor in der Bundespolitik halten wird. Wenn es also gelänge — und deshalb bin ich ja in der PDS —, neben der SPD eine PDS mit einer gewissen Wirksamkeit aufzubauen, kann es auch Formen der Kooperation mit der SPD geben — so opportunistisch sind ja Teile dieser Partei. In Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern geschieht das ja schon, vielleicht demnächst auch in Brandenburg oder Sachsen. Im Westen geht dies derzeit höchstens auf kommunaler Ebene.
So ist es auch im Frankfurter Stadtparlament: da gibt es bestimmte Fragen, die die CDU so dominiert, dass selbst die SPD da nicht mitmachen kann, wo ein Zusammenwirken von SPD und PDS oder auch Grünen möglich ist, z.B. beim Versuch der CDU, Obdachlose aus der Innenstadt zu verdrängen und Bettelei zu unterbinden. Hier gibt es dann gemeinsame Abstimmungen. Aber in grundsätzlichen Fragen, wenn es beispielsweise um die Wirtschaftsförderung geht oder um den Flughafenausbau, da gibt es erhebliche Differenzen.

Dort, wo es eine solche Zusammenarbeit gibt, wie in Berlin, ist es aber eher so, dass die PDS dem Kurs der SPD folgt und nicht umgekehrt.
Das sehe ich von meiner Kenntnis her im Einzelnen anders. In Berlin geht es z.B. um die Erhöhung der Kita-Gebühren. Die linke Presse unterschlägt da, dass bis zu einer Einkommensgrenze von 50000 Euro die Kitabgebühren bleiben, und nur über diese Einkommensgrenze hinaus ein höherer Beitrag verlangt wird. Das hat die Sozialsenatorin der PDS, Heidi Knake-Werner, durchgesetzt. Dass natürlich bei der Finanzmisere, in der Berlin steckt, nicht viel Raum ist für Gestaltung, das liegt auf der Hand und ist Ergebnis einer Vorgeschichte.

Du siehst die PDS nicht auf einem falschen Weg in ihrem Bemühen, in gemeinsame Regierungen mit der SPD zu kommen?
Es kommt immer darauf an, was miteinander vereinbart wird. Und es muss immer die Option vorhanden sein, die Koalition wieder zu beenden. Die Grundfrage bei der Regierungsbeteiligung ist ja die, dass wir in Deutschland eine Situation haben, in der keine großen gesellschaftlichen Umwälzungen zu erwarten sind. Die Menschen, die die PDS wählen, erwarten von ihr natürlich, dass sie sich aktiv in die Politik einbringt. Das kann sie nicht, indem sie nur in Opposition verharrt.

Ist diese Erwartungshaltung — die Parteien sollen die Probleme in den Parlamenten lösen — nicht ein Abwälzen des Problems? Wie sollen die Parteien im Parlament etwas durchsetzen, wenn in der Gesellschaft relative Passivität herrscht?
Bei den Jungsozialisten gab es mal einen Begriff, der hieß Doppelstrategie. Der besagte, es darf nicht die gesamte Tätigkeit auf die Parlamente konzentriert werden, es muss auch außerparlamentarische Opposition aufgebaut werden, z.B. die Wiedereinführung der Vermögensteuer wäre gar nicht denkbar, ohne vorher in der Gesellschaft eine Stimmungslage dafür zu schaffen und die Menschen zu mobilisieren. Es muss ein Transformationsprozess auf der ganzen Linie hergestellt werden: Einflussnahme in den Parlamenten, aber auch Mobilisierung der Betroffenen.

Eine solche Strategie würde in der Bundesrepublik sicher viel verändern, aber im Programmentwurf, den die PDS Ende Oktober diskutiert, findet man davon nichts.
Darüber können wir uns unterhalten, wenn das Programm verabschiedet ist.

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