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Die sozialen Sicherungssysteme werden völlig neu geordnet. Wie für vieles Neue in Zeiten ungebremster
kapitalistischer Konkurrenz gilt, dass dies für Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind oder sein werden, nichts Gutes bedeutet.
Das Tempo, das die SPD-Grüne-Regierung in ihrer zweiten Regierungsperiode,
getrieben von Kapitalistenverbänden und privaten Massenmedien, dabei an den Tag legt, sorgt für einen Sozialabbau, wie wir ihn zu
parlamentarischen Zeiten in Deutschland nur aus den Jahren 1930 bis 1932 kennen. Allein das Wissen darum, was danach kam, sollte alle Gewerkschaften und
anderen Sozialverbände in höchste Alarm- und Widerstandsbereitschaft versetzen.
Geplant ist zunächst ein vier-, später voraussichtlich ein dreistufiges System:
Für alle Erwerbstätigen, die vorübergehend nicht gebraucht und entlassen werden, wird es 6 bis 12 Monate das
Arbeitslosengeld I geben, das weiterhin aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung finanziert wird.
Für alle, die noch irgendwie mindestens drei Stunden am Tag ihre Arbeitskraft verkaufen können, wird es das steuerfinanzierte, ab
Januar 2004 im Sozialgesetzbuch (SGB) II geregelte Arbeitslosengeld II geben.
Für alle, die älter als 65, später vielleicht 67, Jahre sind und die über keine zum Leben ausreichende private oder
umlagefinanzierte Altersversorgung verfügen, sowie für dauerhaft erwerbsunfähige Behinderte und Kranke soll die steuerfinanzierte
Altersgrundsicherung das karge Überleben sichern.
Als vierte Stufe bleibt noch eine Weile die Sozialhilfe, ab Juli 2004 im SGB XII geregelt, die den Lebensunterhalt für all diejenigen
sichert, die aus den drei übrigen Sicherungssystemen nach wie vor herausfallen; sie enthält vor allem aber Bestimmungen über Hilfe für
pflegeabhängige Menschen, die Hilfe bei besonderen sozialen Schwierigkeiten und als dicksten Brocken über Eingliederungshilfe
für behinderte Menschen.
Höhe und Umfang der Leistungen der letzten drei Stufen werden auf dem Niveau der
bisherigen Sozialhilfe liegen, sodass in absehbarer Zeit zu erwarten ist, dass die Sozialhilfe ganz in die anderen Sozialgesetzbücher integriert wird, um
weitere Verwaltungskosten zu sparen.
Im Folgenden sei ein genauerer Blick auf die bisher als Entwurf für ein SGB XII bekannt gewordenen Änderungen bei der Sozialhilfe geworfen.
Wie bisher werden, bevor die Sozialhilfe einsetzt, Angehörige zur Hilfe verpflichtet. Zur
Hilfe verpflichtet werden künftig aber auch die bloßen Mitbewohner in Wohngemeinschaften. Hilfe zum Lebensunterhalt werden künftig nur
noch diejenigen erhalten, die sich nicht durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft selbst helfen können, und die nicht dauerhaft erwerbsunfähig oder
über 65 Jahre alt sind. Das werden nicht mehr viele sein. Ihr von den Sozialhilfeträgern anerkannter Hilfebedarf setzt sich weiterhin aus dem
Regelsatz und den Kosten für eine angemessene Wohnung zusammen. Diese »angemessenen« Wohnkosten müssen künftig aber
nicht mehr voll übernommen, sondern können auch als Pauschale bezahlt werden, mit der die Sozialhilfeempfänger dann eine Wohnung
mieten müssen. Wenn sie für diesen Pauschalbetrag keine geeignete Wohnung finden, dann ist das ihr Problem.
Die Regelsätze werden neu berechnet. Näheres dazu soll in einer Verordnung der
Bundesregierung geregelt werden, die noch unbekannt ist. Sicher ist, dass die einmaligen Leistungen abgeschafft und in die Regelsätze integriert werden.
Gleichzeitig bleiben die Regelsätze weiterhin an die Entwicklung der Renten gekoppelt. Die Erhöhung der Renten aber wird verschoben oder ganz
ausgesetzt, selbst eine pauschale Absenkung ist gegenwärtig im Gespräch das bedeutet, dass die Bedarfsdeckung durch die Sozialhilfe auf
der Strecke bleibt, und die Zahl der Menschen, die auf Almosen und private Wohlfahrt angewiesen sein werden, rapide wächst.
Die Paragrafen die den Beginn der Sozialhilfe und die Vorleistungspflicht regeln (wenn unklar
ist, welcher Kostenträger leisten muss), wurden sprachlich so geändert, dass zu erwarten ist: In strittigen Fällen können die Betroffenen
noch länger auf Geld vom Sozialamt warten.
Der wichtigste, weil kostenintensivste, Bereich im künftigen SGB XII regelt die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Die
Eingliederungshilfe beinhaltet ambulante, halbstationäre und stationäre Hilfen für Menschen mit Behinderung. Die Kosten für diese
Hilfe, insbesondere für die stationäre Eingliederungshilfe, steigen seit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes im Jahre 1961
ununterbrochen an.
Im Jahr 2001 stiegen die Ausgaben für »Sozialhilfe in besonderen
Lebenslagen« auf 12,7 Milliarden Euro das entspricht einer Steigerung von 4,5% gegenüber dem Vorjahr. 8,8 Milliarden Euro davon gehen
auf das Konto der Eingliederungshilfe. Diese verzeichnete sogar einen Anstieg um 5,4% gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt lagen die Ausgaben für
»Hilfe in besonderen Lebenslagen« damit erstmals über den Ausgaben für »Hilfe zum Lebensunterhalt«. Die Ausgaben
für die Eingliederungshilfe machen inzwischen 40% aller Rehabilitationsleistungen in der Bundesrepublik aus. Sie sind daher den Sozial- und
Finanzpolitikern in Ländern und Kommunen seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue drastische Sparvorschläge
veröffentlicht werden. Auch im Entwurf für das neue SGB XII finden wir solche. Besonders perfide ist der Vorschlag, Heimbewohnern, die mit
eigenen Mitteln einen Teil der Heimunterbringung selbst bezahlen, das ohnehin mickrige Taschengeld noch zu kürzen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der
überörtlichen Sozialhilfeträger geht mit ihren Wünschen noch über den Entwurf des SGB XII hinaus. Die
überörtlichen Sozialhilfeträger tragen den allergrößten Teil der Kosten für die stationäre Eingliederungshilfe. Sie
fordern, dass die Bauordnungen für Heime, die Kontrollinstanzen bei der Heimaufsicht und der Anteil des qualifizierten Fachpersonals geändert
wird, sodass die Kosten für die Heime niedriger werden. Die jetzt schon menschenunwürdigen Zustände in den Pflegeheimen und in vielen
Behindertenheimen würden sich dadurch verschlimmern und verfestigen. Behinderte Menschen werden wieder verstärkt in Zwei- und
Mehrbettzimmern untergebracht.
Sehr versteckt, aber mit später katastrophalen Auswirkungen, enthält der Entwurf
des SGB XII eine Regelung, die alle betroffenen Verbände auf die Barrikaden bringen müsste. Danach sollen künftig alle Verträge der
Sozialhilfeträger mit den Anbietern von Eingliederungshilfen an die Finanzen der Länder gekoppelt werden. Damit würde das im jetzigen
Bundessozialhilfegesetz noch geltende Bedarfsdeckungsprinzip restlos beseitigt. Die anderen schönen Regelungen im Bundessozialhilfegesetz, die schon
heute arg strapaziert werden das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, das Wunsch- und Wahlrecht, sowie das Recht auf die Hilfe, die man
benötigt wären nur noch Makulatur. Behinderte Menschen wären nur noch reine Kostenfaktoren.
Betroffen von den Kürzungen bei der Eingliederungshilfe wären zum allergrößten Teil geistig- und mehrfachbehinderte Kinder,
Jugendliche und Erwachsene: 28500 behinderte Kinder im Vorschulalter erhalten heute Hilfe in einer heilpädagogischen Tageseinrichtung; rund 33000
behinderte Jugendliche und junge Erwachsene erhalten heute Hilfen zur Schul- und Berufsausbildung; rund 170000 Menschen arbeiten in einer
Behindertenwerkstatt; 40000 behinderte Menschen erhalten ambulante Wohnhilfen. Wie schön für die Stadtkämmerer, dass wenigstens der
medizinische »Fortschritt« für eine Reduzierung dieser lästigen Kosten sorgt. Dank vorgeburtlicher Diagnostik ist die
Überlebenschance für neue Menschen etwa mit Downsyndrom oder offenem Rücken heute in Deutschland geringer als zu Zeiten des
faschistischen Massenmords an behinderten Menschen.
Wenn der Entwurf des SGB XII verwirklicht wird voraussichtlich wird er durch
Bundesrat und Vermittlungsausschuss noch verschlimmert , werden behinderte Menschen, die noch einer einigermaßen einträglichen
Erwerbsarbeit nachgehen können, drastische Einkommensverluste in Höhe von mehreren hundert Euro pro Monat hinnehmen müssen. Die
Einkommensgrenzen bei der Hilfe zur Pflege und bei der Eingliederungshilfe werden herabgesetzt, sodass eine höhere Eigenbeteiligung an den Kosten
gefordert wird. Und selbst behinderte Menschen, die so wenig durch eigene Erwerbsarbeit verdienen, dass sie zusätzlich noch laufende Sozialhilfe zum
Lebensunterhalt erhalten, bleiben von den schmutzigen Einsparfantasien der hoch bezahlten Beamten des Bundesgesundheitsministeriums nicht verschont. Die
gesetzliche Regelung, dass ein Teil dieser geringen Einnahmen frei bleibt und nicht mit der Sozialhilfe verrechnet wird, soll weitgehend abgeschafft werden.
Die Folgen dieser Maßnahmen sind absehbar. Noch weniger behinderte Menschen
werden in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbsarbeit zu bestreiten. Der Druck, sie aus der Sozialhilfe auszugliedern und sie für
dauerhaft erwerbsunfähig zu erklären, damit sie unter die Regelungen der Grundsicherung fallen, wird zunehmen. Dazu passt schrecklich genau,
dass die Maßnahmen zur Arbeitsförderung und zur beruflichen Eingliederung behinderter Menschen schon seit geraumer Zeit bis auf karge Reste
zusammengestrichen wurden. Die Unternehmer werden der Erfüllung ihres Wunsches nach olympiareifen, behindertenfreien Belegschaften wieder ein
Stück näher kommen.
Für die behinderten Menschen bedeutet diese Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt aber
noch nicht das Ende ihrer Aussonderung: Die Stimmen werden immer lauter, die fordern, die Eingliederungshilfe generell nur noch für diejenigen zu
erhalten, die in irgendeiner Form dem Arbeitsmarkt noch zur Verfügung stehen. Stellvertretend sei hier Martin Tuffentsammer, Bürgermeister der
hohenlohischen Kleinstadt Forchtenberg, zitiert: Er sagte jüngst auf einem Treffen von Bürgermeistern aus Baden-Württemberg, gerade im
Bereich der Eingliederungshilfe müsse geprüft werden, ob alles Sinn mache. »Für Behinderte ist Wärme und Zuwendung viel
wichtiger. Sie müssen nicht allseits mit den teuersten Leuten und Leistungen versorgt werden, wenn doch keine Aussicht besteht, dass sie ins Arbeitsleben
integrierbar sind.« Die nicht mehr arbeiten können, sollen zurück in die familiäre oder kirchliche Obhut, sie werden zu reinen
Pflegefällen erklärt, für die Eingliederung und Förderung rausgeschmissenes Geld ist; sie gehören in Pflegeanstalten.
Die Selektion nach Nützlichkeit, diskutiert an den deutschen Stammtischen, gefordert
von den Unternehmerverbänden, wird von den verantwortlichen Sozial- und Gesundheitspolitikern als »Reform« verkleidet in neue Gesetze
verpackt und von der Sozialbürokratie in den Städten und Gemeinden knallhart durchgezogen.
Gerlef Gleiss
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