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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 10

Niederlande

Widerstand gegen Sozialraub

Am 20.September organisierte eine Koalition aus mehreren hundert Aktionsgruppen und linken Organisationen eine Demonstration in Amsterdam gegen die neoliberale Sparpolitik der Regierung Balkenende.
Gewerkschaftliche Gruppen, linke Parteien und eine Vielzahl von Aktionsgruppen beteiligten sich an der Demonstration. Die Organisatoren hatten 5000 Menschen erwartet, doch es waren schließlich mehr als 25000. Zum ersten Mal seit vielen Jahren gingen in den Niederlanden wieder viele auf die Straße, um gegen den Abbau der sozialen Sicherheit, des Gesundheitssystems und des öffentlichen Nahverkehrs und gegen die Privatisierungen zu protestieren. Die Demonstration war ein vorläufiger Höhepunkt, dem vorbereitende Aktionen und Versammlungen vorausgegangen waren, womit die Koalition Keer het Tij [etwa: »Wendet das Blatt«] vor zwei Jahren begonnen hatte.
Jahrelang kannten die Niederlande das »Poldermodell«. Die großen Gewerkschaften, die sozialdemokratische Partei der Arbeit (PvdA) sowie die Liberalen und die Christdemokraten saßen an einem Tisch, um ihre neoliberale Politik zu gestalten. Kernpunkt dieser Politik war eine dauerhafte Mäßigung bei den Löhnen: Die Löhne und die Lohnnebenkosten sollten weniger steigen als im Ausland, damit niederländische Unternehmen preisgünstiger arbeiten konnten als die ausländischen.
In den letzten 15 Jahren wurden Regierungen aus Sozialdemokraten und Christdemokraten gebildet, und in den letzten acht Jahren gab es die Regierung von Wim Kok, eine Koalition aus Liberalen und der PvdA. Die politischen Gegensätze wurden unter den Tisch gekehrt, und viele Niederländer in den ärmeren Vierteln der großen Städte und Menschen mit flexibler, schlecht bezahlter Arbeit, aber auch viele mit mittlerem Einkommen waren enttäuscht über den Unwillen der »Politik«, einschließlich der Sozialdemokraten, sich ihrer Probleme anzunehmen und ihre Lage zu verbessern.
Größerer Widerstand kam nicht zustande, weil die Sozialdemokraten und die großen Gewerkschaften sich nicht daran beteiligten und es den kleineren linken Gruppierungen nicht gelang, eine Massenbewegung zu organisieren. Die Wahlen im Jahr 2001 brachten einen Schock: Viele von der Sozialdemokratie Enttäuschte stimmten für die LPF, die Partei des Rechtspopulisten Pim Fortuyn, der kurz vor den Wahlen ermordet wurde. Nach den Wahlen bildete sich eine Regierungskoalition aus Christdemokraten, Liberalen und der LPF. Das war die erste Regierung Balkenende. Streit in der LPF trug zum Zerfall der Koalition bei.
Als Reaktion auf den Aufstieg von Pim Fortuyn und die Sparpolitik der Regierung entstand im Sommer 2002 die Initiative Keer het Tij. Aktive aus verschiedenen Aktionsgruppen und der Antiglobalisierungsbewegung bildeten ein Aktionsbündnis. Dazu gehörten auch viele Menschen, die schon 1997 an der Organisation der großen Demonstration der Euromärsche in Amsterdam gegen den dortigen EU-Gipfel und an der Organisation des Gegengipfels beteiligt waren.
Das Ziel von Keer het Tij war, der in der Bevölkerung weit verbreiteten Unzufriedenheit über den Aufstieg Pim Fortuyns und die Politik der Regierung Balkenende Ausdruck zu verleihen und sie auf die Straße zu bringen. Am Tag der Parlamentseröffnung 2002 (an dem die Königin traditionell die Regierungserklärung für das kommende Jahr vorliest) gab es eine Demonstration in Den Haag; am 30.November 2002 wurde in Amsterdam ein Studientag organisiert, an dem Aktive und Vertreter politischer Parteien über Themen wie Krieg, Flüchtlingspolitik und Globalisierung diskutierten. Nach den Wahlen 2003 trat das zweite Kabinett Balkenende an, eine Koalition aus Christdemokraten und Liberalen. Die Sozialdemokraten gerieten ins Abseits. Die Regierung will innerhalb der nächsten vier Jahre 17 Milliarden Euro einsparen, ein Rekord in der niederländischen Geschichte. Die Koppelung zwischen den Löhnen und dem Arbeitslosengeld wird eingefroren, die Gesundheitsversorgung soll auf eine »zweite Säule« von Eigenbeteiligung und privater Vorsorge gestellt werden. Gleichzeitig werden die Leistungen der Krankenkassen ausgedünnt. So müssen Patienten künftig Zahnarztkosten zusätzlich selbst versichern.
Ab 2006 wird die maximale jährliche Grenze für Mieterhöhungen abgeschafft, Miethaie können »marktgerechte« Mieten verlangen. Die Möglichkeiten für Beschäftigte über 57 Jahre, in den Vorruhestand zu gehen, werden eingeschränkt. Alle müssen länger arbeiten. Das Kabinett strebt an, dass soviel Menschen wie möglich bis zu ihrem 65.Lebensjahr arbeiten — nicht durch Schaffung von Arbeitsplätzen (die Arbeitslosigkeit in den Niederlanden wächst rasch), sondern dadurch, dass Menschen gedrängt werden, jede schlecht bezahlte und flexible Arbeit anzunehmen. Das sind nur einige der geplanten Sparmaßnahmen.
Der Haupteinwand der oppositionellen Sozialdemokratie (PvdA) und des Dachverbands der Gewerkschaften (FNV) lautet: Wir müssen kräftig sparen (!), aber die Lasten sollten doch gerechter verteilt werden, die Reichen also mehr, die Armen weniger bezahlen.
Die Gewerkschaften haben die Vorstellungen der Regierung abgelehnt. Der FNV startete eine Kampagne unter dem Motto »Es geht auch anders — sozialer, besser«. Am 17.September organisierten FNV-Mitglieder Aktionen in Rotterdam und Den Haag. In beiden Städten gingen ungefähr 4000 Menschen auf die Straße. In Rotterdam blockierten Aktivisten zwei Stunden lang den Coolsingel. Diesen Aktionen gingen zahlreiche Kundgebungen in anderen Städten voraus, so in Deventer und Enschede, an denen sich einige tausend Menschen beteiligten.
Nach dem 17.September organisierte der FNV in einigen Städten Arbeitsniederlegungen, u.a. im öffentlichen Nahverkehr in Amsterdam, Rotterdam und Utrecht. Am 20.September organisierte Keer het Tij die große Demonstration in Amsterdam, an der sich auch die PvdA beteiligte.
Eine zentrale Losung gab es nicht, und das Bündnis Keer het Tij hat auch kein echtes Grundsatzprogramm, das ein gemeinsames Ziel ausdrücken würde. Die Beteiligung der Sozialdemokraten wurde im Bündnis ebenso kritisiert wie das Fehlen einer zentralen und tiefergehenden inhaltlichen Analyse. Nach Auffassung anderer hat das Aktionsbündnis denselben Charakter wie die Antiglobalisierungsbewegung, was sich sowohl an den Aktionsformen wie an der Art der Organisierung der Proteste durch Keer het Tij zeigt: große Mannigfaltigkeit der teilnehmenden Gruppen, Aktionsformen, Losungen und Analysen, aber mit einem gemeinsamen großen Ziel: Eine andere Welt ist möglich.

Eingeknickt

Doch das Poldermodell ist noch nicht tot. In den ersten Oktoberwochen begannen die Verhandlungen zwischen Unternehmern, Regierung und Gewerkschaften über ein zentrales Abkommen zur Einfrierung der Löhne. Die Regierung präsentierte ihre Sparvorhaben im Bereich der sozialen Sicherung. Unternehmer wie Regierung wollen die Löhne für zwei Jahre einfrieren — in der Zeit soll es keine einzige Lohnerhöhung, nicht einmal Inflationsausgleich geben. Das bedeutet praktisch zwei Jahre lang starke Lohnsenkungen für alle. Und dies im Tausch dagegen, dass die Sparmaßnahmen im sozialen Bereich — bei den Einkommen von Arbeitsunfähigen, Pensionären und Erwerbslosen — nicht ganz so drastisch ausfallen.
Nach zwei Wochen Verhandlungen stimmte die zentrale Leitung des FNV zu. Am 14.Oktober wurde das Abkommen von allen Sozialpartnern unterzeichnet. Ein historisches Datum, denn selbst in den Niederlanden haben die Gewerkschaften bisher nicht freiwillig Lohnsenkungen zugestimmt. Jetzt werden wir sicher billiger als Deutschland.
Doch ist das Abkommen noch nicht von den Gewerkschaftsmitgliedern angenommen worden. Alle Mitglieder des FNV müssen darüber abstimmen. Das ist eine Art Gewerkschaftsreferendum; der FNV führt es zum ersten Mal durch.
Es gibt zahlreiche Proteste von Gewerkschaftsfunktionären, die gegen das Abkommen sind. Langsam kommt eine Kampagne für ein Nein bei der Abstimmung in Gang. Die linke Sozialistische Partei (SP) hat ihre Mitglieder angehalten, mit Nein zu stimmen. Es ist noch zu früh abzusehen, wie stark der Widerstand wirklich sein wird. Einige Gewerkschaftsgruppen haben angekündigt, gegen die Regierung Aktionen durchführen zu wollen. In den Städten bilden sich örtliche Bündnisse aus Gewerkschaftsgruppen, Parteien und verschiedenen Aktionsgruppen. Allmählich kommt etwas ins Rollen.

Piet van der Lende

Piet van der Lende ist in der niederländischen Erwerbslosenbewegung und bei den Euromärschen aktiv. (Übersetzung aus dem Niederländischen: Hans-Günter Mull.)
Der nächste landesweite Aktionstag von Keer het Tij findet am 18.Dezember dezentral in zahlreichen Städten statt. Nähere Informationen unter www.keerhettij.nl.



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