SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 14

Venezuelas Arbeiterbewegung

Erste Schritte zur Autonomie

»Verstaatlicht die Banken! Übernehmt die stillgelegten Betriebe und lasst sie stattdessen von den Beschäftigten führen! Weigert euch die Auslandsschulden zu zahlen und benutzt das Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen! Senkt die wöchentliche Arbeitszeit auf 36 Stunden! Schafft neue Betriebe unter Arbeiterkontrolle!« Dies waren einige der Forderungen, die die Arbeitsgruppe für ein Aktionsprogramm auf dem ersten landesweiten Kongress des neuen venezolanischen Gewerkschaftsdachverbands Unión Nacional de los Trabajadores (UNT) Anfang August erarbeitet hatte und die von den Delegierten des Kongresses begeistert unterstützt wurden.

Die jahrelange Unterstützung für den Neoliberalismus durch die von der bürgerlichen Acción Democrática beherrschte Gewerkschaftszentrale CTV gipfelte in der Verwicklung dieser Organisation in den rasch niedergeschlagenen Putsch vom April 2002 gegen Präsident Hugo Chávez und der anschließenden Unterstützung der CTV für den Unternehmerverband Fedecamaras beim sog. Generalstreik im vergangenen Dezember und Januar. Daraufhin wurde im April die UNT gegründet, um den Arbeitenden wieder eine Stimme und ein Instrument ihrer Kämpfe zu verschaffen.
Der erste Kongress führte mehr als 1300 Teilnehmende zusammen, die über 120 Gewerkschaften und 25 regionale Föderationen repräsentierten, um die allgemeinen Konturen des neuen Verbands zu bestimmen — seine internen Statuten, Wahlregularien, Verhaltenskodizes, Grundprinzipien sowie sein Aktionsprogramm.

Ein wichtiger Schritt nach vorn…

Die größte Ubereinstimmung und die leidenschaftlichste Debatte gab es bezüglich der Prinzipien und des Aktionsplans. Aus der Arbeitsgruppe zu den Prinzipien kam die eindeutige Forderung der Verwandlung der »kapitalistischen Gesellschaft in eine sich selbst verwaltende Gesellschaft« und eines »neuen Modells antikapitalistischer und autonomer Entwicklung, welche die Menschen von Klassenausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung und Ausgrenzung befreit«. Diese Erklärung für eine autonome, demokratische, solidarische und internationalistische, unabhängige und umfassende, die gesamte Arbeiterklasse repräsentierende Bewegung mit Gleichberechtigung für Männer und Frauen wurde von allen auf der Vollversammlung Anwesenden begrüßt. Mehrfach wurde die Losung skandiert: »Die Arbeiterklasse vereint wird niemals besiegt werden!«
Die Bedeutung vieler dieser Prinzipien wurde bei den in das Aktionsprogramm aufgenommenen Punkten deutlich. Während die Teilnehmenden unzweideutig viele der Initiativen der Regierung Chávez unterstützten (z.B. das Alphabetisierungsprogramm, die Arbeit kubanischer Ärzte in den Armenvierteln, den Wohnungsbau, das Gesetz gegen Entlassungen und die Ablehnung des lateinamerikanischen Freihandelsabkommens ALCA), ging ihre Haltung zur Verstaatlichung der Banken, zur Auslandsschuld, zur Arbeitszeit sowie zu anderen Punkten weit über die aktuellen Positionen der Regierung hinaus. Darüber hinaus zeigte sich die Unabhängigkeit der UNT in ihrer entschiedenen Haltung gegenüber einzelnen Ministerien — so forderte sie vom Arbeitsministerium die Entlassung arbeiterfeindlicher Arbeitsinspektoren und vom Gesundheitsministerium die Ausrufung des nationalen Gesundheitsnotstands — und in ihrem Aufruf zu Reformen der staatlichen Verwaltung (zur »Schaffung der Revolution innerhalb der Revolution«).
Weniger Übereinstimmung gab es jedoch bezüglich der internen Statuten und der Wahlverfahren. Einigen ähnelten die Statuten zu sehr denen der CTV, die wegen ihres Mangels an Demokratie und wegen ihrer Korruption berüchtigt ist. Zu diesen Statutenfragen, die ein großes Spaltungspotenzial in sich bargen, traf der Kongress eine wichtige Entscheidung: Sie wurden an die Einzelgewerkschaften zurück verwiesen, damit an der Basis eine vollständige Debatte erfolgen kann. Gleiches wurde hinsichtlich der Wahlverfahren beschlossen.
Der erste Kongress der UNT endete mit der Verabschiedung einer Erklärung, die die US-Invasion in Afghanistan und im Irak ebenso verurteilte wie den Plan Colombia. »ˇHasta la victoria siempre!« — Che Guevaras Motto — war hier wie bei anderen Tagesordnungspunkten zu hören.

…aber kein totaler Erfolg

Der UNT-Kongress war ein bedeutender Schritt im Prozess der Abwendung von der »Achse des Bösen«, wie die Arbeitsministerin María Cristina Iglesias das Bündnis aus Fedecamaras und CTV nannte. Aber er war kein vollständiger Erfolg. So beschloss kurz vor Beginn des Kongresses das provisorische Leitungsgremium der UNT, dass der Gewerkschaftsverband CUTV, der dem Weltgewerkschaftsbund (WGB) angehört und von Beginn an der Schaffung der UNT beteiligt war, sich nicht mit seinen regionalen Organisationen anschließen könne. Das führte dazu, dass die CUTV-Mitglieder dem Kongress fernblieben.
Auffallend war außerdem das Fehlen von Ramón Machuca, dem einflussreichen Führer der Stahlarbeitergewerkschaft SUDISS, der sich früh aus den Debatten der UNT zurückgezogen hatte und stattdessen die Notwendigkeit betonte, von Anfang an mehr an der Basis zu arbeiten und im ganzen Land konstituierende Versammlungen der Arbeitenden zu initiieren. (Vertreter der entschiedensten Pro-Chávez-Elemente in der UNT äußerten den Verdacht, dass es Machuca darum ginge, der Führer des neuen Verbandes zu werden.)
Am meisten fiel allerdings das Fehlen von Hugo Chávez selbst auf. Er war eingeladen worden, die Schlusssitzung des Kongresses zu leiten, und die Organisatoren erhofften sich eine Krönung der neuen Organisation durch seine Anwesenheit. Aber weder er noch der Vizepräsident oder die Arbeitsministerin waren auf dem Kongress erschienen.
Schlechte Koordination? Am darauf folgenden Tag legte die wöchentliche Radio- und Fernsehsendung des Präsidenten nahe, dass vielleicht mehr hinter Chávez‘ Fehlen stecken könnte. Neben einem Hinweis auf den Kongress der UNT gratulierte Chávez ausdrücklich Machuca (»ein Freund«) zu seiner Wiederwahl als Stahlarbeiterführer (mit 63% der Stimmen gegen einen rechten Herausforderer). Es schien ein klares Signal dafür zu sein, dass die »Einheit der Arbeiterklasse« nötig sei und der UNT-Kongress nur als ein erster Schritt in diesem Prozess betrachtet werden sollte.
Es ist allerdings weit mehr erforderlich, um die Arbeiterklasse zu vereinigen, als lediglich die UNT, die CUTV, Machucas Kräfte und lokale Gruppen, die noch an die CTV angeschlossen sind, zusammenzuführen — ein Prozess der am besten durch gemeinsame Aktionen (z.B. durch die gemeinsame Unterstützung von Beschäftigten, die Betriebe besetzen, welche die Eigner schließen wollen) erreicht werden kann. Nur 12% der Arbeiterklasse im formalen Sektor Venezuelas gehören zu diesen Gewerkschaften. Außerhalb von ihnen gibt es eine riesige Anzahl von Armen, die sich in erster Linie mit der Regierung Chávez identifizieren können.
Wenngleich die Orientierung der UNT auf die gesamte Arbeiterklasse durch den Nachdruck betont wurde, den sie auf die Schaffung von Erwerbslosenkomitees und die Ausgabe von Nahrungsmittelkarten an Pensionäre und Erwerbslose legt, bleibt die Frage: Wie ist das genaue Verhältnis zwischen den Beschäftigten des formalen Sektors und den etwa 50% im informellen Sektor, zwischen den in den Gewerkschaften Organisierten und den breiten Massen, die sich in lokalen Gemeinschaften organisieren? Diese Kräfte zusammenzubringen scheint prioritär, wenn die Arbeiterklasse nicht besiegt werden soll.
Die Realität einer polarisierten Gesellschaft, als die sich Venezuela heute präsentiert, wurde auf dem UNT-Kongress deutlich. Die privaten Fernsehstationen (die sich im Brennpunkt des letzten Putschs befanden) waren nirgendwo zu sehen; für ihr Publikum fand der Kongress nicht statt. Die staatliche Fernsehstation fiel durch ihren niedrigen technischen Standard und die Ausstrahlung von Interviews gerade in den Momenten auf, als auf dem Kongress die wichtigsten Entwicklungen stattfanden. In den Auseinandersetzungen, die heute in Venezuela stattfinden und bei denen die traditionellen herrschenden Klassen in Konfrontation mit der Regierung Chávez stehen, schafft die überwältigende Dominanz der Opposition über die Medien eine virtuelle Realität, welche die Vereinigung der Arbeiterklasse zu einem weitaus schwierigerem Unterfangen macht, als sie es eigentlich sein sollte.

Michael A. Lebowitz

Der Autor ist emeritierter Dozent für Ökonomie der Simon Fraser University, Kanada. Entnommen aus: Red Pepper online, September 2003 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang