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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2003, Seite 17

Arno Klönne: Plädoyer für eine selbstkritische Linke

Gebeten hatten wir Arno Klönne, einen der Veteranen der deutschen Linken, um einen Beitrag zu den Perspektiven der Antikriegsbewegung. Unter der Hand des Schreibens und inspiriert durch viele persönliche Gespräche mit namhaften und weniger namhaften Zeitgenossen ist ihm daraus ein Grundsatztext zur Diskussion um die Perspektiven der deutschen Linken geworden, der uns als sinnvolle Ergänzung/Erweiterung der eigenen Diskussion um einen neuen Antikapitalismus auch in Deutschland notwendig erscheint. Die Zwischenüberschriften stammen von uns.

Die Bundesrepublik befindet sich in einem gesellschaftspolitischen Umbruch, auf den der beliebte Begriff von einer »historischen Wende« diesmal nun wirklich zutrifft.
Die deutsche Militärpolitik löst sich aus den Zurückhaltungen, die ihr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Übergang des deutschen Faschismus durch die weltpolitische Konstellation auferlegt waren. Die Entwicklung und der Gebrauch »militärischer Fähigkeiten« werden zur Normalität in der geopolitisch geformten Durchsetzung hiesiger ökonomischer Interessen. Offen ist lediglich, ob dies eher in einer europäischen Koalition oder vielleicht doch in der gewohnten Anlehnung an die Vereinigten Staaten geschehen soll, zumal man mit dieser ja nicht auf »gleicher (militärischer) Augenhöhe« agieren kann. Die grundsätzliche Beschränkung militärischer Aufgaben auf den Verteidigungsfall entfällt — sang- und klanglos.
Stückweise wird ferner das sozialstaatliche Korrektiv weggeräumt, mit dem sich der (west-)deutsche Kapitalismus über lange Jahre hin abgefunden hatte. Dieser Vorgang vollzieht sich allerdings unter lautstarker ideologischer Begleitmusik, kennzeichnend ist hier das Loblied auf die »produktive Ungleichheit«, wie es der Bundessuperminister Wolfgang Clement zu singen pflegt. Die deutsche Sozialdemokratie, die (was immer sonst zu ihrer Geschichte zu sagen wäre) historisch die Partei des Sozialstaats war, räumt diese Position.
Zugleich zerfallen die demokratischen Gepflogenheiten, die sich seit Gründung der Bundesrepublik im Parlaments- und Parteienbetrieb immerhin herausgebildet hatten. Erkennbar ist dies etwa an der nur noch akklamierenden Funktion, die jetzt Parteitagen zugeschrieben wird, oder an dem grundgesetzwidrigen Rollenverständnis, das die Parteiführungen den Parlamentariern auferlegen. Parteien und Fraktionen verwandeln sich in Instrumente der Machterhaltung oder des Machterwerbs von Führungsgruppen, die ihrerseits darum wetteifern, den Willen von Wirtschafts-»Eliten« zu erfüllen. Die gesellschaftspolitische Eintönigkeit in der Profipolitik wird für das Publikum aufgelockert durch personelle Kokurrenzspiele, dies vor allem zum Gefallen der Medien…

Die Linke im Ghetto

Altgestandene Linke und ihre ja nicht gerade zahlreiche Jüngerschaft können es sich angesichts dieses Umbruchs in der deutschen Politik leicht machen als Interpreten: Da zeigt nun der Kapitalismus sein wahres Gesicht und erweist sich in neuer Eindeutigkeit auch hierzulande als imperialistisch, sozial brutal und demokratieverachtend. Und einige können diese Deutung variieren und erklären: Am gefährlichsten ist das kapitalistische Deutschland, und deshalb lassen sich anderen kapitalistischen Staaten denn doch Vorzüge abgewinnen. Mit Hilfe solcher Interpretationen ist die Welt dann in Ordnung gebracht — aber es handelt sich dabei um die Innenwelt der Interpreten.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Mit dieser Bemerkung will ich nicht von einer radikalen Analyse gesellschaftspolitischer Zustände abraten und selbstverständlich muss diese auch die spezifischen Tatbestände deutscher Geschichte und Gegenwart aufgreifen. Aber analytische Anstrengung besteht nicht in der gedanklichen Selbstbestätigung von Insidern für Insider. Wer sich durch den deutschen linken Blätterwald hindurch liest und sich von dem Gedanken nicht trennen möchte, dass theoretische Ambitionen sich in der Praxis wiederfinden sollten, bekommt unbehagliche Gefühle. Woher kommt die Distanz gegenüber gesellschaftlicher Empirie? Weshalb diese Vorliebe für den Wertehimmel? Warum fixieren sich viele Bemühungen auf die Binnenkonflikte in der eigenen Szene? Eine gewisse Verwandtschaft, was Mentalität und Diskursstruktur angeht, linker Kleingruppen oder Redaktionszirkel mit den Verhaltensweisen religiöser Rechthabergemeinden ist unverkennbar, und die einen wie die anderen haben offenbar eine starke Abneigung gegenüber dem »Diesseits«, was auch daran liegen mag, dass es im Jenseits übersichtlicher zugeht — imaginativ.
Um noch einmal vom gesellschaftlichen Umbruch zu reden, wie er sich in der deutschen Gegenwart bemerkbar macht: Es ist überhaupt nicht so, als ginge dieser über die Bühne, ohne massenhaft Verdruss, Ablehnung und Widerspruch hervorzurufen. Zum Beispiel: Die Entdemokratisierung im Politiksystem wird von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen — die meisten der Kritiker ziehen sich erst einmal zurück auf die Weigerung, am Wahlritual teilzunehmen. Selbst Edmund Stoiber, angeblich »triumphaler Wahlsieger«, verlor mit seiner Partei bei der jüngsten bayrischen Landtagswahl in großem Umfang WählerInnen. Die Sozialdemokratie, und das ist kein Wunder, verlor freilich noch heftiger.
Die Demontage sozialer Sicherungssysteme erzeugt weitreichende Opposition. In seiner Mehrheit hält das Wahlvolk nichts von diesen »Reformen« — obwohl fast alle Massenmedien deren »Notwendigkeit« wie einen Glaubenssatz verkünden. Im gewerkschaftlichen Feld drückt sich diese Opposition darin aus, dass bei den Aktiven vor Ort die überkommene Bindung an die SPD-Politik sich auflöst. Die Gewerkschaftsvorstände, ganz überwiegend nach wie vor mit der Kanzlerpartei verbandelt, nehmen inzwischen verbal auf diesen Umwillen an der Basis Rücksicht.
Bei der Vorbereitung des Irakkrieges zeigte sich, dass alle diejenigen im Irrtum waren, die (hocherfreut oder resignativ) von einem »epochalen« Ende der Bewegungen gegen Kriegspolitik ausgegangen waren. Es gab — auch hierzulande — eine große Protestwelle, auch bei den jungen Leuten. Und man muss von allem Konkreten so weit entfernt sein wie einige Konkret- Autoren, um zu der Annahme zu kommen, die Opposition gegen den Irakkrieg sei im Wesentlichen auf deutsch-national-antiamerikanische Gefühle zurückzuführen.Es gibt inzwischen auch aussichtsreiche Versuche, Gegner der Kriegspolitik, Kritiker der kapitalistischen Globalstrategie und Opponenten der sozialen Demontage praktisch in Verbindung zu bringen, gemeinsame Themen zu entwickeln, Formen der Kooperation aufzubauen. Und bei alledem verbreitet sich die Einsicht, dass schon verlassen ist, wer sich auf den jetzt herrschenden Politik- und Parteienbetrieb verlässt.
Eigentlich müsste dies doch eine günstige Lage sein für die Linke in der Bundesrepublik? Und dennoch: deren informierender, aufklärender, gedanklich anregender, politische Praxis organisierender Einfluss ist zur Zeit gering. Vermutlich wäre es nützlich, die Linke würde Gründe dafür bei sich selbst suchen, also nicht nur im »Verblendungszusammenhang« des modernisierten Kapitalismus.

Warum eigentlich nicht?

Dazu, ganz unsystematisch, einige Fragen: Weshalb gibt es keinen Versuch, die argumentativen Ressourcen der pluralen linken Szene (und deren publizistische und operative Fähigkeiten) so zur Zusammenarbeit zu bringen, dass eine bundesweite Wochenzeitung für das »normale« Publikum entsteht, soweit es in die Militärpolitik, die Gesellschaftspolitik und die Institutionen der herrschenden politischen Klasse kein Vertrauen mehr setzt? Es kann ja sein, dass ein solches Projekt nicht realisierbar ist — aber warum dies nicht erst einmal abklären?
Weshalb wird nicht versucht, ein allgemeinverständliches Sprachrohr zum Austausch von Erfahrungen kritischer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter bereitzustellen — ohne die Tendenz, in die Gewerkschaften theoretisch hinein regieren zu wollen?
Weshalb wird nicht versucht, regelmäßig bundesweit eine Übersicht zu linken lokalen Initiativen, Veranstaltungen und Aktionen bereitzustellen — als Informationsplattform, gruppenübergeifend, ohne Eingriff in die organisatorische und inhaltliche Vielfalt?
Weshalb gibt es keine kooperative Werbung der kleinen linken Verlage?
Bei diesen Fragen geht es um mögliche Operationen. Zu fragen ist allerdings auch nach analytischen Defiziten: Wieso wird in der deutschen Linken kaum irgendwo soziologisch und sozialpsychologisch über mögliche Ursachen der eigenen Schwäche diskutiert, auch über Desaster in der eigenen Vorgeschichte? Es war und ist nicht nur immer »fehlerhafte Theorie«, die auf Fehlwege oder in Misserfolge führte und führt, es wirkten auch fragwürdige Strukturen (auch der Theorieproduktion) mit, es lassen sich lähmende oder zerstörerische Formen von Kommunikation und Organisation erkennen, kontraproduktive Konventionen linker Sozialisation. Exemplarisch: Wenn Menschen wie Joseph Fischer und Gerhard Schröder so geworden sind, wie sie heute sind, und Politik machen, dann ist das nicht nur individuellen Eigenschaften zuzuschreiben — da äußert sich Typisches, das auch mit ihrer linken Vergangenheit zusammen hängt.
Kurzum: Es ist, meine ich, an der Zeit, dass die deutsche Linke sich Gedanken macht über den selbst zu verantwortenden Teil der Gründe für ihre Schwäche. Es müsste bei einer solchen Reflexion nicht verbiestert zugehen. Und wer gesellschaftlich Solidarität im Sinne hat, könnte es ja in der eigenen Subkultur schon mal mit solidarischen Umgangsweisen probieren.

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