| SoZ Sozialistische Zeitung |
Im Juli und August 1920 tagte in den beiden sowjetrussischen Metropolen Petrograd und Moskau der II.Kongress der
III.Internationale. 218 Delegierte aus 37 Ländern repräsentierten 67 kommunistische Parteien und Arbeiterorganisationen und widmeten sich mit
Leidenschaft der Theorie und Praxis der Weltrevolution. Einer der Anwesenden, der Künstler Isaak Brodski, hatte vom Petrograder Arbeiter- und Bauernsowjet
den Auftrag bekommen, die feierliche Eröffnungssitzung auf Leinwand zu bannen. Sein monumentales Gemälde (»Der II.Kongress der
Kommunistischen Internationale«) wurde zwar erst im Jahre 1924 fertig, machte dann aber umso schneller »Karriere«, da es in ganz Sowjetrussland
gezeigt und im Westen vielfach reproduziert wurde. Nur wenige Jahre später verschwand es allerdings wieder aus der kommunistischen Öffentlichkeit, da
es allzu realistisch angelegt war. Es zeigte all jene Revolutionäre, die zu »Renegaten« und »Revisionisten« erklärt worden
waren und bald nur noch als »Volksfeinde« und »faschistische Saboteure« behandelt wurden. Und es zeigte den zwischenzeitlich zum
weisen Führer des Weltproletariats aufgestiegenen Stalin als einen unter vielen, weit abseits von Radek, Trotzki, Bucharin, Sinowjew u.a., die in der
Podiumsanordnung gleichsam das revolutionäre Zentrum bilden.
Das historische Schicksal meinte es mit dem Künstler besser als mit seinem bekannten
Gemälde. Brodski erarbeitete sich in den 30er Jahren als Hofmaler Stalins und seiner Getreuen so große Verdienste um das, was man seitdem
»sozialistischen Realismus« zu nennen hatte, dass er 1934 immerhin zum Präsidenten der russischen Akademie der Künste ernannt wurde.
Das Originalgemälde kann nun in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle besichtigt werden, in einer Ausstellung zur visuellen Kultur der Stalinzeit. Seinen
besonderen Reiz bekommt das Gemälde allerdings durch die in der Schirn beigefügten Brodski-Studien zum späteren Bild. Es handelt sich hierbei
um eine Auswahl der insgesamt weit über 100 Porträtzeichnungen, die der Maler von den Kongressteilnehmern angefertigt hatte. Diese 1938 ebenfalls in
sowjetischer »Sicherheitsverwahrung« verschwundenen Zeichnungen sind erst Ende der 90er Jahre wieder aus dem Keller des sozialistischen Realismus
aufgetaucht, und bilden nun einen kleinen Teil einer umfangreicheren Ausstellung, in der neben vielen Gemälden auch Plakate, Zeichnungen, Fotos und
Skulpturen gezeigt werden.
Die meisten der Ausstellungsbilder haben einen künstlerischen Wert allenfalls in dem Sinne,
dass man an ihnen sehen kann, wie man es nicht machen sollte. Die Exponate, das hat Kulturstaatsministerin Christina Weiss in ihrer Rede zur
Ausstellungseröffnung treffend benannt, »haben nicht nur etwas Unheimliches, sie wirken in ihrem grenzenlosen Kitsch oft auch unfreiwillig
komisch«. Das trifft jedoch nicht auf die genannten Porträtzeichnungen Brodskis zu. Ohne jede Verherrlichung, aber doch mit tiefer Sympathie, erlauben
sie einen lebendigen Blick auf die Dargestellten seien es Bekannte wie Karl Radek, Clara Zetkin, John Reed, seien es weniger Bekannte wie Paul Levi, Otto
Kuusinen oder Manabendra Nath Roy.
Mit interessanten Abweichungen sind diese Studien in das erwähnte Gemälde
eingegangen und machen einen Großteil von dessen Faszination aus. Auch dort leben die Dargestellten auf eigenartige Weise. »Eigenartig«, da sie
kein organisches Ganzes bilden, sondern wie individuelle Mosaiksteinchen vor einem stilisierten Kollektivhintergrund erscheinen. Auf dem Gemälde ist so
bereits jener Zug ins Ikonografische sichtbar, der sich in den folgenden Jahren Bahn brechen sollte. Und es spricht einmal mehr für Lenin, dass er schon bei den
Zeichnungen ein feines Gespür für ihre Dialektik hatte. Als ihn Brodski um ein Autogramm auf die Porträtzeichnung bat, soll er gesagt haben:
»Zum ersten Mal in meinem Leben unterschreibe ich etwas, womit ich nicht einverstanden bin!«
Drei Jahre nach dem Brodski-Gemälde stellte Dmitri Kardowski ein vergleichbares
Gemälde fertig auch dies ist in Frankfurt zu betrachten , das die »Sitzung des Rats der Volkskommissare unter dem Vorsitz von
W.I.Lenin« (so der Titel) darstellt. Nicht nur die politische Verengung vom revolutionären Weltparlament auf den, mittlerweile ausgedünnten,
sowjetischen Führungszirkel spricht hier Bände, auch künstlerisch ist ein entscheidender Schritt weiter getan. Kardowski löste sich von
seinem fotografischen Vorbild (das die Ausstellung leider nicht zeigt) und veränderte sowohl das Interieur des Saales, die Anzahl und die Sitzordnung der
Teilnehmer, als auch ihre Gestik und Mimik. Das Gemälde war keine (wie auch immer künstlerisch frei gestaltete) »Abbildung« der
Realität mehr, sondern die bildhafte Umsetzung einer Herrschaftssituation und des Herrschaftsanspruchs des nun offiziell verordneten »Marxismus-
Leninismus«.
Der »sozialistische Realismus« hat seitdem, nicht nur auf der Linken, für viele
kontroverse Diskussionen gesorgt, politisch wie ästhetisch. Und dass dieser Kosmos der sowjetischen Kunst der Stalinzeit im Westen wenig bekannt sein soll,
diese Behauptung der Frankfurter Ausstellungsmacher ist ernsthaft kaum nachzuvollziehen. Stalinismus wie Antistalinismus haben sich auch und gerade in kultureller
Hinsicht zutiefst in die westeuropäische Geschichte des 20.Jahrhunderts eingegraben. Dass herausragende Exponate dieser stalinistischen Kunst jahrzehntelang
nicht im Original zu besichtigen waren, sollte eigentlich Rechtfertigung genug sein für eine Ausstellung, die einen nennenswerten Teil dieser Werke zeigt. Als
wichtiger dürfte sich dabei der Blickwinkel erweisen, mit dem man diese Werke ausstellt. Und hier sind durchaus Fragen angebracht.
Zum einen fällt die begriffliche Hilflosigkeit auf, mit der man diese Kunst historisiert. Ist sie nun totalitär im Sinne der Totalitarismustheorie oder ist
sie totalitär im Sinne der modernen Massenkultur? Die Ausstellungsmacher können sich nicht so richtig entscheiden.
Schwerer ins Gewicht fällt, dass man sich des Weiteren explizit wehrt, den
»sozialistischen Realismus« als Rückfall in die Tradition der naturalistischen Malerei des 19.Jahrhunderts zu verstehen, und ihn stattdessen als,
wenn auch nicht bruchlose, so doch weitgehend organische Fortsetzung der russischen Avantgarde betrachtet. Diese Sichtweise offenbart die Ausstellung als Produkt
des Kunstwissenschaftlers Boris Groys, der just diese These in seinem 1988 erschienenen Werk Gesamtkunstwerk Stalin entfaltet und sich mit dieser Ausstellung, wie
die Süddeutsche treffend schrieb, ein eigenes Denkmal gesetzt hat.
Nicht dass es zwischen Avantgarde und »sozialistischem Realismus« nicht
Überschneidungen formeller und mehr noch persönlicher Natur gab. Der Übergang vom einen zum anderen ist insofern, so Christina Weiss, auch
eine künstlerische Tragödie die man in der Ausstellung bspw. an den drei Bildern von Kasimir Malewitsch beobachten kann. Trotzdem
überwiegen die Elemente des Bruchs die der Kontinuität so offensichtlich, dass man die groyssche Sichtweise nur zurückweisen kann. Wie will
man die Kunst- und Kulturgeschichte des 20.Jahrhunderts schreiben ohne die nachhaltige Auseinandersetzung zwischen den sich mehrfach kreuzenden und
gegeneinander abgrenzenden Polen von Klassik und Avantgarde? So sehr es auch Überschneidungen und Parallelen expliziter und impliziter Art gab und gibt,
die Differenzen sind nicht nur deutlich, sondern auch geschichtsmächtig.
Groys Sichtweise eignet sich allerdings hervorragend für jene auch kunstpolitische Tendenz, den Sack zu schlagen und den Esel zu meinen, sprich: mit dem
Stalinismus auch den der allgemeinmenschlichen Emanzipation verpflichteten Sozialismus auszutreiben. Dies erklärt jene eigenartige Tendenz der Ausstellung,
die stalinistische Kunst als Ausdruck des avantgardistischen Strebens nach einer Utopie des »Neuen Menschen« zu interpretieren. Eine Sichtweise, die
natürlich sofort genüsslich vom zynischen Medienbetrieb aufgegriffen und zugespitzt wurde.
Die visionäre Kraft der Idee eines »Neuen Menschen« zieht ihre Kraft weniger
aus der wesentlich technologisch gefassten Reichtumsproduktion einer Gesellschaft, sondern daraus, dass sich materieller Überfluss und revolutionärer
Kampf in einer höheren, der kapitalistischen Klassengesellschaft überlegenen Form solidarischer Vergesellschaftung auszudrücken habe. Im
vulgären Mechanismus sozialdemokratischer und v.a. stalinistischer Provenienz wurde gerade diese Seite »verdrängt« zugunsten einer
subalternen Unterordnung unter die Imperative einer technokratischen Bürokratie, die Befreiung nur als unerreichbares Ziel oder als das »kleine
Glück« individueller Freiräume zu denken vermochte. Mit dem »Neuen Menschen« hatte dies nichts mehr zu tun. Es sei denn, man
nimmt Zynismus für Wahrheit was ja heute durchaus nicht mehr so selten der Fall sein soll, weder im Bürgertum noch auf der Linken.
Wer deswegen die sowjetische Kunst der Stalin-Ära als Utopie des »Neuen
Menschen« darstellt, offenbart seine distanzlose Bereitschaft, die Herrschaftsmythen der stalinistischen Bürokratie zu übernehmen, während
doch schon der Name des »Sozialistischen Realismus« signalisiert, dass es dabei nicht um den Aufschein eines utopischen Noch-Nicht, sondern um die
erschöpfte Unterordnung unter das real Existierende geht. Jene physische und moralische Vervollkommnung des Menschen, die die Ausstellungsmacher am
Beispiel von Bildern von Alexander Deineka, Alexej Pachomow und Alexander Samochwalow konstatieren, ist eben keine Ausrichtung auf einen allseits befreiten
neuen Menschen, sondern die Zurichtung des alten Menschen für eine neue Herrschaftsclique.
Dass dies keine historische oder rein theoretische Debatte ist, wurde auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion deutlich, die am 13.10. in den
Ausstellungsräumen stattfand. Das von Boris Groys am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie geleitete und von der Kulturstiftung des
Bundes großzügig geförderte Forschungsprojekt The Post-Communist Condition soll im Anschluss an die Ausstellung die aktuelle Lage von Kunst
und Kultur in den »postkommunistischen« Staaten Osteuropas untersuchen.
Was folgt aus dem vermeintlichen Ende des utopischen Zeitalters für den Osten Europas,
für jene intellektuelle Szene, die seit Ende der 80er Jahre aufgebrochen war, Marktwirtschaft, Warenkultur und ethnisches Bewusstsein halb zu entdecken, halb
anzupreisen? Wie ist die Lage nach mehr als einem Dezennium? Gibt es eine neue Utopie jenseits des Marktes, gibt es neue, dem Westen noch unbekannte
künstlerische Potenziale? Bieten künstlerische Entwürfe einen Ausblick auf eine neue Welt, die auf dem postkommunistischen Experimentierfeld
der Geschichte entstehen könnte?
Weitgehend blieben die Diskutanten den über 150 Besuchern eine Antwort schuldig.
Stattdessen stritt man sich beherzt über gerade jenen Utopiebegriff, der wie dargestellt den Subtext auch der Ausstellung abgibt. Während sich Boris
Groys dem Thema mehr fragend näherte, ließ der Medientheoretiker Peter Weibel seiner gleichsam existenziellen Verzweiflung freien Lauf und beklagte
in eindringlichen Worten die sich in der Herrschaft »performativer Sprechakte« vermeintlich ausdrückende »Restalinisierung des Westens
durch die Unterhaltungsindustrie«. Wie ein Schatten legte sich über die im Hintergrund gegenwärtigen Monumentalschinken vom Generalissimus
Stalin der von Weibel mehrfach heraufbeschworene Louis Althusser als Kritiker »ideologischer Staatsapparate«.
Endgültig zum Tanzen gebracht wurde die Veranstaltung dann vom Linksphilosophen Slavoj
Zizek (die beiden auf dem Podium sitzenden und um Antworten auf die gestellten Fragen bemühten Wissenschaftlerinnen gingen im Feuerwerk
männlicher Leidenschaften schnell unter). Zizek polemisierte mit Verve sowohl gegen US-Präsident Bush als zeitgenössische Verkörperung
des heilsbringenden Diktators wie gegen den neuen Konformismus der Nonkonformisten Hardt und Negri, die mit ihrer Betonung von Multitude und
Produktivität nur den postmodernen Kapitalismus in eigene Worte fassen. Das vermeintliche Ende der Utopie, so Zizek, war selbst eine Utopie, und diese
Utopie sei mit dem 11.9. an ihr Ende gekommen.
Zizek erinnerte daran, und dies ist um einiges substanzieller als seine praktizierte Ästhetik des
politischen Spektakels, dass Kommunismus mit Marx gesprochen weniger ein Ideal als eine wirkliche Bewegung sei. Im Angesicht des neoliberalen
Schreckens gehe es deswegen um eine konkrete Utopie, die sich mehr aus der Negativität des Existierenden als aus der Positivität des zukünftig
Ausgemalten speise. Zizek verwies dabei auf die in den Elendsquartieren bspw. Lateinamerikas entstehenden Formen von Selbstorganisation.
Hier wäre ein guter Anknüpfungspunkt gewesen zu den von Jekaterina Degot und
Martina Weinhart stark gemachten Hinweisen, dass man genauer noch als bisher auf das Schicksal der sowjetischen Samisdat-Kunst der 80er und 90er Jahre schauen
müsste. Die Ausstellung versäumt dies komplett. Statt eines Blickes auf diese sicherlich lebendigere Gegenkultur zeigt sie als Kontrast zum
stalinistischen Kitsch einige Werke der zeitgenössischen Soz-Art-Künstler (Bulatow, Kabakow u.a.), die eine Kunst ironisch zu entlarven versuchen, die
wirklich keiner Entlarvung mehr bedarf. Ob das Karlsruher Forschungsprojekt diese Sackgasse vermeiden kann, bleibt abzuwarten. Zu wünschen wäre es.
Christoph Jünke
The Post-Communist Condition, Forschungsprojekt der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation
mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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