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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2003, Seite 3

100000 in Berlin

Wir kommen wieder!

Endlich ist der Knoten geplatzt. Die große Blockade, die daher rührt, dass die sog. Regierungslinke das Programm der liberalen Rechten durchsetzt, dass es im Bundestag so gut wie keine Opposition mehr gibt und die Gewerkschaften nach dem Sonderparteitag der SPD Anfang Juni einen Burgfrieden mit der Regierung geschlossen hatten — diese Blockade hat jetzt einen Dammbruch erlebt. Deutschland findet Anschluss an die sozialen Massenproteste in Europa und an die globalisierungskritische Revolte. Damit hatte niemand gerechnet: In den letzten Tagen wurden die Erwartungen der Organisatoren nach oben korrigiert: von 10000 auf 20000 Teilnehmende; aber Hunderttausend überstieg alle Vorstellungen. Was ist da passiert?

Rollen wir die Ereignisse noch einmal auf. Anfang des Jahres waren die Gewerkschaften aus dem Bündnis für Arbeit ausgestiegen. Nichtsdestotrotz verkündete Schröder in seiner Rede vom 14.März, nun werde es den Sozialversicherungssystemen ernsthaft an den Kragen gehen. Die Gewerkschaften fühlten sich herausgefordert, sprachen vom historischen Tischtuch zwischen ihnen und der SPD, das damit zerschnitten werde, und zeigten Ansätze, Protest auf die Straße zu bringen. Der 17.Mai, den Ver.di seit längerem als bundesweiten Protesttag gegen die Gesundheitsreform angesetzt hatte, wurde um das Thema Arbeitslosenhilfe und Hartz erweitert. Doch die Mobilisierung blieb halbherzig; Ver.di mobilisierte nur sektoriell und mit gebremstem Schaum. Viele Kollegen kehrten deprimiert nach Hause zurück, in der Haltung: Was soll das Demonstrieren? Das ist ja eh keine Power dahinter.

Von der Defensive…

Zu dem Zeitpunkt war die Stimmung längst so, dass die Betroffenen auf eine bundesweite Gesamtmobilisierung der Gewerkschaften gegen die Agenda 2010 warteten. Eine Woche später gab es aber nur regionale DGB-Aktionen. Die Gewerkschaftsspitzen scheuten sich vor der offenen Konfrontation mit der SPD, aus Angst, die Regierung könnte stürzen. Sie setzten darauf, dass die SPD-Linke auf dem Sonderparteitag am 1.Juni für sie die Kastanien aus dem Feuer holen würde. Die Demonstrationen sollten nicht mehr als ein Schuss vor den Bug sein.
Der Sonderparteitag hätte Anlass für eine umfassende Mobilisierung sein müssen; stattdessen gab es gerade mal einen berlinweiten Aufruf, der zwar auch von den Gewerkschaften unterschrieben wurde, aber es geschah nichts, die Mitglieder zu motivieren; am Schluss blieb ein Häuflein von etwa 1000 Demonstrierenden übrig, überwiegend aus dem Spektrum der radikalen Linken. Unlust und Frust machte sich breit — den ganzen den Sommer über, nachdem DGB-Chef Sommer verkündet hatte, das breite Ja des Parteitags sei ein Faktum, an dem auch die Gewerkschaften nun nichts mehr ändern könnten. Er sicherte dem Kanzler zu, mit gewerkschaftlichen Mobilisierungen im Herbst brauche er nicht mehr zu rechnen.
Weit und breit war niemand zu sehen, der die Gewerkschaften in ihrer Rolle als Katalysatoren breiteren gesellschaftlichen Unmuts hätten ersetzen können. Die PDS blieb damit beschäftigt, sich von der Parteilinken abzugrenzen und ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen; und auf der Sommerakademie in Münster zeigte sich auch Attac vom Virus des Ohnmachtsgefühls befallen. Die Zuversicht, auch ohne Rückendeckung durch die großen Gewerkschaften einen wahrnehmbaren und sinnvollen Protest auf die Beine zu bringen, war nahe dem Nullpunkt. Den meisten steckte noch der 14.9. in den Knochen, die Demonstration in Köln vor der Bundestagswahl, für die sich Attac sehr engagiert hatte — mit mäßigem Erfolg.
In dieser Situation waren die Organisationen und Zeitungen der radikalen Linken die einzigen, die immer wieder darauf pochten, dass der Protest gegen die Agenda 2010 nicht davon abhängig gemacht werden dürfe, ob die gesellschaftlichen Großorganisationen mitziehen oder nicht. Der Protest müsse auf die Straße getragen werden, noch bevor die Agenda Bundestag und Bundesrat passiert habe. Es war eine Koalition aus Antihartzbündnissen und politischen Gruppen aus dem maoistischen und trotzkistischen Spektrum, die auf Initiative des Rhein-Main-Bündnisses — eine Koalition von Erwerbslosengruppen gegen Hartz — zu einer »Aktionskonferenz« aufrief. Ende August beschloss sie eine bundesweite Demonstration am 1.11. — gegen alle Skeptiker auch aus den Reihen von Attac, die auf dem Treffen noch abwiegelten und von der Demo abrieten.

…in die Offensive

Diese Genese mag einem gefallen oder nicht; aber wenn man versucht, den Erfolg vom 1.11. zu verstehen, muss man bei der Wahrheit bleiben und die lautet zunächst: Die radikale Linke hat eine maßgebliche Rolle für das Zustandekommen dieser Demonstration gespielt. Und so schwierig die Zusammenarbeit mit ihr im Einzelnen auch gewesen sein mag: niemand tut gut daran, sie aufzukündigen.
Ebenso wahr ist allerdings auch, dass dieser Kreis bestenfalls ein paar tausend Menschen auf die Beine gebracht hätte, wenn er unter sich geblieben wäre. Und es ist auch wahr, dass sich Gruppen wie die MLPD unfähig zeigten, das Bündnis auszuweiten — eher eine Gelegenheit witterten, die Aktion nun ihrerseits zu monopolisieren.
Dass diese Blockade überwunden wurde, ist das Verdienst von Linksruck und der Gewerkschaftslinken. Sie haben dahingehend gewirkt, dass der Berliner Vorbereitungskreis die Verantwortung für die Demonstration übernommen hat, und dass Attac sich schließlich bundesweit, ohne Wenn und Aber, entschlossen hat mitzumachen.
Einen letzten Meilenstein setzten dann die Gewerkschaftstage von IG Metall und Ver.di. Auf letzterem gelang es der Gewerkschaftslinken zum erstenmal seit langem wieder, vorbereitet und koordiniert aufzutreten, und sie brachte auch einen Antrag durch, der besagte: »Öffentlichkeitswirksam sollen der Bundesvorstand und alle Gremien sich der bundesweiten Demonstration gegen den Sozialabbau am 1.November 2003 in Berlin anschließen und alle Mitglieder zur Teilnahme aufrufen.«
Zwar krümmten die Vorstände keinen Finger zur Umsetzung des Antrags; und vor Ort blieb es dem Belieben der Hauptamtlichen überlassen, ob etwas geschah. Aber es gibt in den Gewerkschaften auf der unteren und mittleren Funktionärsebene eben noch viele, die nicht dem liberalen Kurs folgen wollen. Und die haben mobilisiert.
Allein in Stuttgart, wo der Landesbezirk Ver.di zur Demonstration aufgerufen hatte, wurden 27 Busse gefüllt; auch andere Ver.di-Bezirke konnten eine erfolgreiche Mobilisierung vermelden. Ver.di Berlin war von Anfang an mit von der Partie und eröffnete demzufolge den Demonstrationszug. Seit langem konnte man wieder IGM-Fahnen aus Betrieben im Ruhrgebiet und in Baden- Württemberg sehen, wo es noch eine Betriebslinke gibt.
Ein weiterer wichtiger Mobilisierungsblock kam aus dem Osten, die Organisatoren schätzten ihn auf etwa ein Drittel der Gesamtdemonstration. Die PDS war sichtbar vertreten; nicht die Berliner, aber die Brandenburger. Arbeitslosenverband, Gesellschaft für Menschen- und Bürgerrechte, Volkssolidarität, und auch hier wieder die Gewerkschaften haben in Ländern wie Thüringen, Mecklenburg-Vorpommmern und Sachsen massiv mobilisiert.

Neue Protestkultur

Dass dieses Bündnis zusammengefunden hat, hängt mit einem Stimmungsumschwung im September/Oktober zusammen. In diesen Wochen wurde jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben und die Bundesregierung setzte sich über jeden Protest aus den eigenen Reihen hinweg, indem sie sich bereit zeigte, mit den noch reaktionäreren Vorstellungen von CDU/CSU gemeinsame Sache zu machen. Das hat bei vielen gewerkschaftlich und politischen Aktiven das Fass zum Überlaufen gebracht. So konnten die Kollegen im Betrieb überredet werden, doch noch einmal zur Demonstration zu kommen. Von Berlin kehrten sie begeistert und mit neuem Schwung zurück.
Insgesamt wurden aus dem Bundesgebiet 300 Busse gezählt; viele andere kamen mit Auto oder per Bahn. Für den Rest aber sorgten die Berliner. »Als wir auf dem Alex losgingen, waren wir etwa 35000, als wir auf dem Gendarmenmarkt ankamen, das Doppelte. Viele Berlinerinnen und Berliner haben sich unterwegs spontan angeschlossen, die Situation in der Stadt legt es nahe«, berichtete einer der Berliner Organisatoren.
Auch das Erscheinungsbild der Demonstration war anders als sonst. Statt Trauerkloßigkeit und verbittertem Schweigen gab es viel Musik, viele selbstgemachte Schilder und Transparente, fantasievolle Sprüche. Die Stimmung war ausgezeichnet, man hat sich aneinander gefreut. Der schwarze Block war mit dem Grau alter Herren und dem Rot einiger IGM-Fahnen durchsetzt, und er war nicht mehr martialisch abgeschottet, man ging in lockeren Reihen. Auch da ist etwas aus Genua, Nizza und Florenz zu uns rübergschwappt, ein erstes Anzeichen für eine gewisse Offenheit für eine andere politische Kultur: nicht die Kultur der Niederlagen und des Todes, die von gewissen Teilen der deutschen Linken gern gepflegt wird, sondern eine der Lebenslust und der Solidarität, die soviel ansteckender und überzeugender ist.
Der Qualitätssprung in Berlin bestand darin, dass man an dem Tag um die Abhängigkeit voneinander wusste. Es gab ein neues Wir-Gefühl: Wir da unten; wir vielen verschiedenen; wir, die niemanden mehr haben, der uns vertritt; wir, die sich lange Zeit nichts mehr zugetraut haben. Wir können etwas erreichen, wenn wir uns trauen zu handeln und wenn wir gemeinsam handeln. Dieses Wissen zu bewahren und zu einem politischen Programm zu erheben, wird die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein. Denn natürlich hat der Erfolg viele Väter, und was liegt näher, als dass jede Gruppe den Erfolg der Demonstration am liebsten nur sich selbst zuschreibt?
Das ist nicht nur auf der radikalen Linken so; die Presse sprach umstandslos von einer Attac- Demonstration, und Attac trat dem nicht entgegen. Es ist längst nicht ausgemacht, dass aus der Demonstration ein breites Aktionsbündnis entstehen kann, das für die gesamte Bandbreite der Bewegung die Möglichkeit des gleichberechtigten Zusammenarbeitens bei künftigen Mobilisierungen schafft.
Der Knoten ist aber vor allem in den Gewerkschaften zerplatzt. Die Lähmung, die die Gewerkschaftslinke in den 90er Jahren befallen hat, scheint weg. Sie kann die Kolleginnen und Kollegen wieder erreichen und mobilisieren. Das Bündnis mit der globalisierungskritischen Bewegung gibt ihr Auftrieb, sich neu zu formieren und den Halbherzigkeiten der Vorstände eine Position gegenüber zu stellen, die klar sagt: Es gibt eine Alternative außerhalb der Standortlogik, der Kriege und der Konkurrenz aller gegen alle. Eine solidarische Welt ist möglich.

Angela Klein

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