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Zweieinhalb Jahre nach der Ver.di-Gründung fand vom 19. bis 25.Oktober in Berlin der erste ordentliche
Bundeskongress statt. Von den 1007 Delegierten waren 908 erschienen, rund die Hälfte war weiblich. Die Delegierten hatten in den fünf Tagen des
Kongresses ein riesiges Pensum zu erledigen. Nicht nur über die vergangenen zwei Jahre, sondern auch über eine Anpassung der Strukturen der
Organisation an vermeintliche Realitäten sollte diskutiert und entschieden werden. Viele Delegierte waren darüber hinaus mit der Politik des
Bundesvorstands zu den Hartz-Gesetzen und der Agenda 2010 unzufrieden und traten für einen Kurswechsel ein.
Am Eröffnungstag kamen nach dem üblichen Procedere erst einmal die
Gäste dran: der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und Vizekanzler Fischer. Sie redeten so, dass jedem klar wurde, wohin die
Reise geht. Während Wowereit auf die gute Zusammenarbeit mit dem Ver.di-Vorsitzenden verwies, stellte Fischer in oberlehrerhafter Art und Weise klar,
dass es zur Politik der Bundesregierung keine Alternative gebe, und dass die Gewerkschaften dies gefälligst zu akzeptieren hätten.
Die Rede von Fischer wurde durch Zwischenrufe und Pfiffe unterbrochen, am Ende schloss er
sichtlich genervt: »In einem Europa, das zusammenwächst und das ein kleines Europa ist, muss die Bundesrepublik ein Sozialstaat bleiben, in der
die Ausbildung der Jungen eine gemeinsame Aufgabe ist, Bildung und Ausbildung, Forschung und Technologie vorankommen und in dem die Alterssicherung
für eine immer älter werdende Gesellschaft und die Gesundheitssysteme erneuert sind, aber sozial und gerecht bleiben. Dafür kämpfen
wir, dafür stehen wir, und dafür werden wir uns eines Tages auch wieder vertragen.«
Ob er damit die Delegierten meinte oder die Gewerkschaften insgesamt, deren
Führungen doch eher pfleglich mit der Bundesregierung umgehen, ist keine nebensächliche Frage. Hatte der DGB-Vorsitzende Sommer in seinem
Grußwort doch vor »Aktionismus« gewarnt. Hoffentlich bleiben nach der Durchsetzung der Hartz-Gesetze 3 und 4 und Agenda 2010 noch
genug Kräfte, die sich gegen die Abschaffung der Tarifautonomie zur Wehr setzen. Kampflose Niederlagen bereiten weitere vor.
Die Geschäftsberichte von Margrit Wendt und Frank Bsirske waren sehr positiv
gehalten. Dabei ist nicht zu übersehen, dass es erhebliche Probleme gibt. In der Aussprache wurde nicht nur die fehlende Kampagnen- und
Mobilisierungsfähigkeit, sondern vor allem die fehlende politische Klarheit kritisiert. So fragte die Delegierte Stephanie Nitschke: »Wo ist die
Kampfkraft der größten Einzelgewerkschaft der Welt? Die Gewerkschaften dürfen Rot-Grün nicht mehr den Rücken freihalten
für ihre unsoziale Politik. Es wird Zeit, alle gewerkschaftlichen Kampfmittel bis hin zum politischen Streik einzusetzen.«
Bei den Wahlen zum Bundesvorstand bekam Frank Bsirske über 92%.
Bei der Antragsberatung nahm allein die Beratung zur Strukturreform in Ver.di mehr als einen
halben Tag in Anspruch. Sie wurde mit einer Mehrheit von 90% abgeschlossen. Für die »restlichen« rund 1000 Anträge blieb dann
noch ein Tag Zeit. Über die meisten Anträge wurde im Blockverfahren abgestimmt. Es gab einen Initiativantrag, in dem Ver.di aufgefordert wurde,
zur Demonstration am 1.11. in Berlin aufzurufen und zu mobilisieren. Dieser Antrag wurde ohne Diskussion angenommen.
Zum Bündnis für Arbeit, zur Auflösung der Bundeswehr oder zur Frage, ob
Migranten einen Gruppenstatus bekommen, wurde teilweise kontrovers und auch emotional diskutiert. Die Ergebnisse waren nicht immer erfreulich.
Erfreulich war aber, dass der Kongress den beiden Vertretern der im Bundestag vertretenen
Parteien, Angela Merkel von der CDU und Franz Müntefering von der SPD, deutlich ihr Missfallen über ihre Politik zum Ausdruck brachten. Ihre
Reden wurden mit eisigem Schweigen quittiert.
Einen der stärksten und bewegendsten Auftritte hatte die Präsidentin der
kolumbianischen Gewerkschaft Asodefensa, María Clara Baquero Sarmiento. Ihr Bericht über die Situation ihrer Gewerkschaft in Kolumbien
rührte die Delegierten zutiefst. Für die meisten war es kaum vorstellbar, Gewerkschaftsarbeit unter solchen Bedingungen machen zu können.
900 ermordete Gewerkschafter in de letzten fünf Jahren sprechen eine deutliche Sprache. Oft werden die Familienmitglieder der Aktivisten bedroht. Mit
einem beeindruckenden Gefühl von Solidarität und viel Beifall wurde sie vom Kongress bedacht.
Die Gesellschaft für Legalisierung verteilte auf dem Kongress Flugblätter, um
über die Situation von Menschen ohne Papiere (sog. »Illegale«) zu informieren. Es konnte erreicht werden, dass Vertreterinnen dieser Gruppe
auf dem Kongress redeten. Barbara Miranda führte in ihrem Beitrag aus: »Wir möchten nicht mehr während der Arbeit sexuell
missbraucht werden. Wir möchten nicht mehr viel zu wenig Gehalt bezahlt bekommen. Wir möchten endlich ganz normal und in Würde
arbeiten, wie ihr alle auch. Wir sind Arbeiterinnen. Wir brauchen die Unterstützung der Gewerkschaft. Wir brauchen jemanden, der unsere Stimme nach
außen trägt. Deshalb möchten wir Mitglied in der Gewerkschaft werden.«
Was sind die Ergebnisse dieses Kongresses? Wir können davon ausgehen, dass die
Ver.di-Führung weiterhin versuchen wird, der rot-grünen Bundesregierung den Rücken freizuhalten. Der Kongress hat zwar zu einzelnen
Fragen positive Beschlüsse gefasst (Demo 1.11.03, Bündnis für Arbeit etc.). Bei der Abfrage, wer denn am 1.11. in Berlin zur Demo kommen
wird, hoben sich jedoch erstaunlich wenig Hände. Es gibt zu dem Kurs des Bundesvorstands Dialog und eingeschränkte Mobilisierung
keine ausreichende Opposition, die zu einem Kurswechsel zwingen würde. Für einen konsequenten Kurs gegen die herrschende neoliberale
Politik aller Parteien müssten erst einmal vorurteilsfreie Diskussionen geführt werden.
Am Rande des Kongresses trafen sich auf Initiative der Ver.di-Linken NRW erstmalig
Delegierte, die den Kern für eine bundesweite linke Strömung bilden könnten. Manche von ihnen lieferten wichtige Beiträge auf
diesem Kongress. Von einem koordinierten Vorgehen konnte aber nur bei einzelnen Punkten gesprochen werden. Immerhin, ein Anfang ist gemacht. Für
das kommende Frühjahr wurde ein Treffen vereinbart, zu dem bundesweit eingeladen wird.
Helmut Born
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