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Mit der Verabschiedung eines »Nationalen Plans für die Agrarreform« sollen in Brasilien noch in diesem
Jahr die Weichen neu gestellt werden. Bereits im Vorfeld gibt es heftige Kontroversen zwischen der Linken und der Rechten. Nur eine ist ausgeblieben: die
zwischen der Landlosenbewegung MST und dem seit zehn Monaten im Amt befindlichen Präsidenten Luis Inácio »Lula« da Silva.
»Unser Feind ist nicht die Regierung, sondern der Großgrundbesitz«, stellten die Vertreter der brasilianischen Landlosenbewegung
bei einem Anfang November stattgefundenen Gespräch in der Zentrale der MST in São Paulo einmütig fest. Damit wandten sie sich gegen ein
hartnäckiges, u.a. von der regierungskritischen Tageszeitung Folhas de São Paulo, aber auch internationalen Kommentatoren verbreitetes Gerücht,
es gäbe in der für Brasilien so entscheidenden Agrarfrage ernsthafte Widersprüche zwischen der MST und Lula.
Wahr ist vielmehr, dass Mitte Oktober von einer eigens dafür eingesetzten Kommission unter Leitung des historischen Mitbegründers der
Arbeiterpartei (PT), Plínio Arruda Sampaio, ein »Nationaler Agrarreformplan« unter Mitwirkung der MST ausgearbeitet wurde. Der in
fünf Punkte gegliederte Plan, der Ende November dem Parlament unterbreitet werden soll und der viel weiter geht als das seinerzeit unter Präsident
Fernando Enrique Cardoso verabschiedete Agrarreformgesetz, sieht vor allem eine Reform jener Verfassungsartikel (Art.184191) vor, die sich mit der
Agrarpolitik beschäftigen:
Dieser Teil setzt sich mit den Landrechten der etwa 160000 Familien auseinander, die bereits jetzt in den Siedlungen (asentamientos) der MST
untergebracht sind. Insgesamt sollen in den nächsten drei Jahren über einer Million Familien Landtitel zugesprochen werden.
Hier geht es um einen Nationalen Entwicklungsplan, der die Finanzierung von landwirtschaftlichen Krediten, technischen Expertisen, Förderung von
Kooperativen sowie die Mindestpreise für landwirtschaftliche Produkte vorsieht. Davon sollen sowohl die 350000 Familien begünstigt werden,
denen die Regierung Cardoso in den letzten drei Jahren die versprochenen Fördermittel vorenthalten hatte, als auch die eine Million, die in den
nächsten drei Jahren in den Genuss der Landtitel kommen soll.
Eingedenk dessen, dass ein derart ambitionierter Plan nur dann nachhaltig wirken kann, wenn es auch die dafür notwendigen humanen Ressourcen
gibt, soll das gesamte Erziehungssystem auf dem Land reformiert werden. Alphabetisierungskampagnen und die Reform des auf acht Jahre angelegten
Grundschulwesens stehen dabei ebenso auf dem Programm wie die Errichtung technischer Fortbildungsanstalten.
Trinkwasser, Elektrizität, Abwasserkanäle usw. zählen zu den vorrangigen Bauvorhaben einer auf Selbstversorgung ausgerichteten
Landwirtschaftspolitik.
Das staatliche Agrarreforminstitut, dem in den letzten Jahren der Großteil seiner Ressourcen entzogen wurden (der Förderbetrag schrumpfte
während der Regierung Cardoso von 2,7 Milliarden Reals etwa 1 Milliarde Euro auf knappe 700 Millionen zusammen) soll wieder
gestärkt werden, um u.a. auch den derzeit arbeitslosen Agronomen, Ökologen, Topografen und Sozialwissenschaftern zu einem
regelmäßigen Einkommen zu verhelfen.
Alle diese Vorgaben sollen dem Hauptziel untergeordnet werden, die brasilianische
Landwirtschaft von einem exportorientierten Modell zu einem agrarökologischen Modell umzugestalten, das die Selbstversorgung
(Ernährungssouveränität) und den Binnenmarkt ungeachtet der internationalen Preisentwicklungen garantieren soll.
Dass die politische Umsetzung des Plans weitaus schwieriger sein wird als seine Ausarbeitung, ist inzwischen jedem Fernsehzuschauer klar geworden. Seit
Anfang September läuft dort eine Hetzkampagne gegen die acampados etwa 300000 Familien, die entlang der Hauptstraßen im ganzen
Land ihre Lager aufgeschlagen haben. Zwar versichern die Koordinatoren der Landlosenbewegung, dass die tatsächlichen Landbesetzungen in diesem Jahr
nur geringfügig zugenommen haben und dass die »institutionalisierte Repression« durch die brasilianische Militärpolizei stark
abgenommen hat.
Umso entschiedener treten jetzt allerdings die mit den Großgrundbesitzern eng
verbundenen Richter auf und verurteilen die Landlosen reihenweise zu teilweise sehr langen Haftstrafen. Insgesamt sind es im Augenblick 19 Aktive der MST,
die in den Gefängnissen jener Bundesstaaten schmachten, deren Gouverneure der Opposition angehören. »Von ihnen redet aber niemand und
manche Medien sagen sogar, sie wären Gefangene Lulas«, sagt ein Führungsmitglied der MST, »das allein schon zeigt den politischen
Charakter dieser Verhaftungen.«
Auch die Tatsache, dass in diesem Jahr bereits 50 Landlose von den pistoleiros, den
Sicherheitskräften der Großgrundbesitzer ermordet wurden, zeigt an, dass der Kampf ums Land, der die semifeudale Gesellschaftsordnung in ihren
Grundfesten erschüttert, noch lange nicht zu Ende ist.
Leo Gabriel
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