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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2003, Seite 16

Russland

Die Chodorkowski-Affäre

von Boris Kagarlitzki

Die Inhaftierung des Finanzoligarchen Michail Chodorkowski war für Oppositionspolitiker und Aktivisten das beherrschende Thema der letzten Wochen. Wer ist dieser Typ? Ein Opfer der Umverteilung des Eigentums? Ein Verfechter demokratischer Freiheiten? Oder ein Frontmann des »Kompradorenkapitals«, ausgepresst von einer nationalistischen Regierung? Auf einem Forum linker politischer Organisationen vor einigen Wochen in Moskau konzentrierte sich die Diskussion auf Chodorkowski, wenngleich das Thema des Tages »Internationalismus oder Nationalismus?« lautete.
Das Argument, dass Chodorkowski, das Opfer einer Regierung ist, die versucht, die russische Wirtschaft von ausländischen Einflussen zu befreien, ist nicht stichhaltig. Putins Mannschaft hat ihr Möglichstes getan, Russland in die WTO zu bringen und die Rolle des ausländischen Kapitals in der Wirtschaft zu stärken.
Chodorkowskis Inhaftierung könnte einer gewöhnlichen Schlacht um die Umverteilung von Eigentum zugeschrieben werden, wenn da nicht zwei Dinge wären.
Das erste ist Putins Ankündigung, dass die gesetzlichen und wirtschaftlichen Resultate der Privatisierung keiner Revision unterzogen werden. Dies bedeutet, dass die von Quasimonopolen über die Rohstoffe beherrschte oligarchische Struktur der Wirtschaft, ungeachtet der Besitzverhältnisse, beibehalten wird. Die bloße Tatsache, dass die Quasimonopole vor der Verstaatlichung geschützt sind, heißt, dass die Führer dieser Unternehmen in jedem Konflikt mit dem Regime schutzlos sind. Der Kreml hat sich verpflichtet, das Privateigentum zu verteidigen, nicht die Eigentümer.
In einem Land, wo die breite Mehrheit der Bevölkerung will, dass diese Unternehmen wieder verstaatlicht werden, kann das Regime nur autoritär sein. Um das Privateigentum zu verteidigen, hat das Regime keine andere Wahl, als die öffentliche Meinung zu ignorieren. Ein offener politischer Wettstreit kommt nicht in Frage. Das Äußerste, was das Regime erreichen kann, ist der Anschein einer demokratischen Regierung.
Doch früher oder später wird die Willkürherrschaft, der die meisten Russen alltäglich ausgesetzt sind, die oberen Stufenleitern der Gesellschaft erreichen. Wenn die Bürokraten allmächtig sind, ist niemand sicher. An einem bestimmten Punkt fangen die Verteidiger des Privateigentums an, ihren gerechten Anteil einzufordern. Einige Geschäftsleute entscheiden sich für einen Deal. Andere, insbesondere Chodorkowski, haben versucht zu einem direkten Dialog mit der Bevölkerung zu kommen, um sich aus der Abhängigkeit vom Staat zu befreien. Deshalb hat Chodorkowski so nachhaltig auf eine größere Offenheit gedrängt und so viele Wohltätigkeitsorganisationen zur Unterstützung von Bildung, Zivilgesellschaft und sogar der politischen Opposition gegründet.
Es war stets zweifelhaft, wie erfolgreich diese Strategie sein würde. Doch der Kreml spürte die Bedrohung und verfolgte Jukos heftig. Chodorkowski landete hinter Gittern, doch nimmt man die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen für bare Münze, müsste die gesamte russische Elite — angefangen mit dem Kreml — mit ihm zusammen hinter Gittern landen.
An diesem Punkt kommt ein zweiter Faktor ins Spiel, der die Lage dramatisch verändert. Chodorkowski trat als Chef von Jukos zurück und deutete an, dass er glücklich wäre, nur die von ihm gegründeten Stiftungen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft zu leiten. Aus marxistischer Sicht wurde der Oligarch zum »Führer der bürgerlich-demokratischen Opposition«. Er bleibt ein Mitglied der oligarchischen Elite. Aber der Eigentümer eines bedeutenden Unternehmens, der versucht, seinen Anteil des dem Volk Anfang der 90er Jahre weggenommenen Kuchens zu behalten, ist eine Sache; ein Politiker, der das Regime herausfordert, ist eine völlig andere Sache.
Die Presse vergleicht Chodorkowski häufig mit dem berühmten Industriellen Sawwa Morosow, der zu Beginn des 20.Jahrhunderts die Bolschewiki finanziell unterstützt hatte. Passender wäre jedoch, Chodorkowski mit zwei Männern zu vergleichen, die sich in einer ähnlich komplexen Lage befanden: Benigno Aquino auf den Philippinen während der Marcos- Diktatur und Pedro Joaquín Chamorro in Nikaragua während der Somoza-Diktatur. Beide waren liberale Vertreter einer traditionellen Oligarchie, die Gegner der autoritären Herrschaft waren. Sie waren weder radikal noch links, aber die Logik der politischen Konfrontation trieb sie in einen dermaßen scharfen Konflikt mit dem Regime, dass kein Kompromiss möglich war.
Heute ist Chodorkowski so ziemlich die einzige Person in Russland, für die eine demokratische Reform in Russland nicht nur ein erstrebenswertes Ziel, sondern eine Frage von Leben und Tod ist. Ihm ist das Schicksal seiner Vorgänger gewiss bekannt: Die Familien Aquino und Chamorro kamen zwar schließlich auf den Philippinen und in Nikaragua an die Macht, beide Männer bezahlten diesen Triumph jedoch mit dem Leben.

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