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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2003, Seite 19

Ansichten eines Moralisten

Dogville: Die große Wut des Lars von Trier mit anschließender Ermattung

Der Ort ist Dogville in den Rocky Mountains, die Zeit ist jene der »Großen Depression«. Eine junge Frau versucht, die Berge zu überqueren. Die Hoffnungslosigkeit ihres Unterfangens ist ebenso offensichtlich wie ihre Angst. Tom, Orts-Chronist und selbsternannter Sprecher Dogvilles sowie Möchtegerndichter auf der Suche nach einem Werk, rät ihr, sich vorderhand in den stillgelegten Minen zu verstecken. Beim Treffen der Dörfler, einer unregelmäßigen, üblicherweise von Tom organisierten Aussprache, bringt dieser den Fall (der von Gangstern Verfolgten) zur Sprache. Man beschließt eine zweiwöchige Probezeit vor allfälliger Asylgewährung. Der Flüchtling namens Grace bietet seine Hilfe an. In Dogville sei jeder zufrieden mit den Seinen, wird Grace beschieden.
Freilich, alle finden Gelegenheit, deren Zeit zu nutzen. Ob als Kindermädchen, Erntehilfe oder Zuhörerin der Erzählungen eines Blinden, der seine Blindheit leugnet: Grace ist für alle da. Die Schutzsuchende versteht es für eine kurze Frist, scheinbar das beste aus den bei allem Gemeinsinn auf Abgrenzung bedachten Ortseinwohnern herauszuholen. Ihre Fähigkeit, zu katalysieren, findet Anerkennung: Obwohl die Abstimmung einstimmig sein muss, wird ihr vorerst unbefristeter Aufenthalt gewährt. Gerührt entdeckt Grace in ihrer Tasche Abschiedsgeschenke, die ihr die aus Dogville für den Fall ihrer Abschiebung hinein geschmuggelt haben. Nun gehört sie dazu — so scheint es, und selbst Tom, der dem Frieden nicht traut, ist optimistischer geworden für das Schicksal der Frau, in die er sich längst verliebt hat. Aber das Auftauchen eines Polizeifahrzeugs und das Anbringen eines Plakats, in dem Grace als vermisst gemeldet wird, genügt schon, um die Stimmung zum Kippen zu bringen. Grace wird zum doppelten Einsatz aufgefordert, um das Risiko zu »kompensieren«. Als dann auch noch nach Grace suchende Gangster im Ort auftauchen und der Polizist ein zweites, Grace als Bankräuberin denunzierendes Plakat aufhängt, ist diese endgültig zur Paria geworden, obgleich alle wissen, dass sie zum Zeitpunkt des Überfalls in Dogville und nicht in der »großen Stadt« war.
Nun vermeinen alle, mit Grace nach ihrem Gutdünken verfahren zu können. Demütigungen werden als »Erziehungsmaßnahmen«, Vergewaltigungen als Zahlungsmittel für männlichen Schutz definiert. Auch Tom hat die Visitenkarte mit der Telefonnummer des Grace verfolgenden Gangsters keineswegs weggeworfen, wie er ihr weiszumachen versucht.
Die Szene ein Entwurf: Bodenmarkierungen, die die Grundrisse der Gebäude und Straßen Dogvilles markieren, sind antiillusionistische Zeichen. Der Einsatz von Historisierung, Zwischentiteln, Erzähler, Verfremdungseffekten etc. lässt keinen Zweifel: Lars von Trier hat Brecht gelesen. Aber leider nicht verstanden: Brechts anlässlich seiner Anmerkungen zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny entstandener schematischer Vergleich der dramatischen mit der epischen Form des Theaters nennt u.a. folgende Gegensatzpaare betreffend die Haltung der Zuschauer: der unveränderliche Mensch — der veränderliche und verändernde Mensch; die Empfindungen werden konserviert — bis zu Erkenntnissen getrieben; Evolutionäre Zwangsläufigkeit — Sprünge.
Wenn von Trier in einem Interview sagt, Dogville sei ein emotionaler Film, so ist das Missverständnis auf den Punkt gebracht. Wohl versucht er, frei nach Brecht, der Spannung auf den Ausgang die »Spannung auf den Gang« entgegenzusetzen. Dennoch stellt sich Distanz nicht ein. Denn von Trier, unverhohlen stolz auf die dümmlichen Anwürfe US-amerikanischer Kritiker, dies sei ein »antiamerikanischer« Film, entschließt sich anstelle einer Haltung zur Welt zur Abhaltung eines Tribunals über die Schlechtigkeit der Welt. Ein erlesenes Ensemble, angeführt von Nicole Kidman, in dem es u.a. Wiederbegegnungen mit Lauren Bacall, Ben Gazzara und James Caan gibt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nahezu alle Akteure mit dem Bleigewicht des »Für-etwas-Stehen« agieren müssen. So der Blinde, der vorgibt zu sehen (die Augen verschließt), oder Tom, der mit vollem Namen allen Ernstes Thomas Edison jr. heißt. Das geht ausgerechnet bei James Caan, der frei nach Brechts Ui/Hitler-Modell als Gangster den Nixon/Johnson/Reagan/Bush verkörpern soll, schief (für die Konzeption Lars von Triers), denn der spielt entspannt und ohne Erdenschwere nicht den verabscheuungswürdigen Verwalter der Macht, sondern einen, der seiner Mittel und Möglichkeiten so sicher ist, dass er keinen Finger rühren muss, um zu erreichen, was er will.
Es könne, so schrieb einst Benjamin Henrichs, nur schief gehen, wenn selbst einem Wassereimer symbolische Bedeutung unterstellt wird. In Dogville hingegen wird Vietnam im Allgemeinen und My Lai im Besonderen (verfremdet) nachgestellt und Grace, als diese (zu Unrecht) des Diebstahls verdächtigt wird, von den Dörflern an ein eisernes Rad gekettet — Achtung, Sklaverei! Ohne die Schlusspointe zu verraten, sei noch darauf verwiesen, dass gegen Ende des Films auch der theologische Diskurs über das Gute im Menschen nicht zu kurz kommt.
In einer dramaturgischen Umkehrung des Modells der Zwölf Geschworenen werden, anders als im Bühnen/ Film-Lob des (schließlich) gerechten Amerika nicht alle von einem zum Besseren bekehrt, vielmehr wechselt hier auch der eine Gerechte schließlich auf die Seite der Schlechtigkeit.
Die Waltons sind nicht besser als die Bushs, der amerikanische Traum ist eine Schimäre. Am Schluss des Films in Standbildern zu sehen: die Armen, Ausgebeuteten, im Stich Gelassenen. Historische Fotos aus der Depressionsära als Anklage gegen die Zweidrittelgesellschaft, die Siegermentalität der Besten aller Welten, sichtbar gemacht im Zentrum der kapitalistischen Aktivitäten. Der Moralist von Trier wendet sich voll Abscheu vom »land of the free« ab. Er wird dies (mindestens) noch zweimal tun, ist doch Dogville der Beginn einer US-Trilogie des dänischen Meisterregisseurs. Aber so wie die Rocky Mountains nicht in einem schwedischen Filmstudio liegen, haben auch Reflexion und Radau nur den Anfangsbuchstaben gemeinsam.

Kurt Hofmann

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