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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 3

Sparzwang und Verschwendung

Was »wir« uns wirklich sparen können

Heute ist die Vorstellung (fast) allgegenwärtig, »die Gesellschaft« müsse sparen und könne sich deshalb vieles nicht »leisten«. So werden Kürzungen bei Sozialleistungen und Einsparungen bei öffentlichen Ausgaben verteidigt. Die Kritik daran greift hauptsächlich die Ungerechtigkeit in der Steuerpolitik und die »Umverteilung von unten nach oben« an. Viel zu wenig bekannt ist, wie materielle und finanzielle Ressourcen in riesigem Umfang verschwendet werden. So bekommt die Diskussion darüber, wo es etwas einzusparen gibt, eine bemerkenswerte Schieflage. Im Unterschied zu den vom Bund der Steuerzahler jährlich auf ca. 30 Milliarden Euro bezifferten Fehlausgaben soll es hier um Varianten der Verschwendung gehen, die für die gegenwärtige Wirtschaftsweise zentral und ihr eigen sind.
1 Eine erste Variante der Verschwendung betrifft Produkte, die schon ganz immanent gesehen schlicht überflüssig sind. Im einschlägigen Standardwerk Bittere Pillen (1999) werden 17,5% der Arzneimittel auf dem deutschen Markt als »wenig zweckmäßig« und 13,6% als »abzuraten« eingestuft. Laut Stiftung Warentest ist ein Viertel der häufig verschriebenen Arzneimittel ungeeignet. Auch von den »im Laufe der Jahre für Raumfahrtprojekte aufgewandten Kosten« seien die indirekten und direkten produktiven Effekte »gesamtwirtschaftlich nicht sehr bedeutend«, so das Ergebnis eines für die Koordination für Luft- und Raumfahrt der Bonner Ministerien erstellten Gutachtens.
2 Eine zweite Variante der Verschwendung besteht in der künstlichen Verkürzung der Lebensdauer von Gebrauchsgütern durch eingebauten vorzeitigen Verschleiß. D.Dante (Fünf Stunden sind genug, 1993) zufolge »kann heute die Lebenserwartung aller Gebrauchsgüter ohne Weiteres um das Sieben- bis Achtfache gesteigert werden, bis eine eintretende Materialermüdung ihre Funktion zerstört«. Kugellager seien so ausgelegt, »dass sie eine im voraus bestimmte Betriebsstundenzahl nicht überschritten«. Gemessen am gleichen Ausmaß der Bedürfnisbefriedigung werden mit der Verlängerung der Lebensdauer von Gebrauchsgütern weniger Produkte benötigt. Es entstehen also riesige Einsparpotenziale an materiellen und finanziellen Ressourcen.
Anbieter wollen materielle Mittel und Arbeitskosten sparen. Die Kunden haben nicht nur einen überhöhten Preis für eine nur gut aussehende, tatsächlich aber fehlerhaft erbrachte Leistung zu zahlen, sondern auch noch Folgekosten durch erst nach und nach auffällig werdende Schäden. Deren nachträgliche Beseitigung kostet mehr als die durch die Pfuschproduktion gesparten Aufwendungen. Ein prominentes Beispiel dafür ist der »Pfusch am Bau«, der jährlich 7,5 Milliarden Euro Baumängel verursacht, so der Leiter des Geschäftsbereichs Bau und Qualität beim TÜV Süddeutschland, Harald Spornraft 1999: »Gründe für Baumängel seien immer kürzere Bauzeiten, der Preisdruck und ein Mangel an Facharbeitskräften … Oft beschränken sich sog. Schnellsanierer darauf, die Fassaden optisch aufzupolieren, echte Bauschäden werden häufig nicht behoben, sondern nur zugekleistert.« Für die Instandsetzung von 10 bis 30 Jahre alten Häusern werde bereits fast so viel Geld ausgegeben wie für Häuser, die seit mehr als 89 Jahren stehen.
3 Eine dritte Quelle von massiver Verschwendung fällt mit der Produktion von Gütern (z.B. von Autos) an, insofern deren Kauf infolge herrschender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nahe liegt, obwohl gesamtgesellschaftlich andere, kostengünstigere Systeme zur Gewährleistung des einschlägigen Erfordernis (hier: der Mobilität) möglich wären. Nach 1945 wurden in Deutschland 200000 Kilometer neue Straßen gebaut, zugleich aber 15000 Kilometer Schienennetz abgebaut. Die Verkehrspolitik war von der Automobilbranche, der Mineralölindustrie, der Straßenverkehrs- und Luftfahrtwirtschaft bestimmt. Mit der Produktion der einschlägigen Produkte lässt sich mehr Profit machen als mit der Bereitstellung eines gesamtgesellschaftlich weit kostengünstigeren Verbundsystems von öffentlichen Verkehrsmitteln, öffentlich subventionierten (Sammel-)Taxis, Car-sharing usw. (Eine ganz eigene Verschwendung besteht darin, den endlichen und kostbaren Rohstoff Erdöl ausgerechnet in Autobenzin umzuwandeln.) Die Form des privaten Konsums im Unterschied zur gemeinsamen Nutzung bspw. des Autos, wie sie bei intelligenten und materiell großzügig ausgestatteten Car-sharing-Systemen möglich wird, entspricht dem Bedürfnis der Kapitale, möglichst viel Waren abzusetzen, damit in ihrer Produktion möglichst viel mehrwertschaffende Arbeit verausgabt werden kann.
4 Gesellschaftlich gründet eine gewaltige Verschwendung viertens in technokratischer Problembearbeitung. Sie kultiviert das Spezialistentum und ignoriert die Vielschichtigkeit und Komplexität von Problemen, frönt der Symptombehandlung, vernachlässigt die Ursachen von Problemen und blendet die strukturpolitisch vorsorgende Komponente zugunsten nachträglicher Maßnahmen aus. Der Medizinsoziologe Hans-Ulrich Deppe spricht davon, dass »sich rund 25—30% der heutigen Gesundheitsausgaben in Deutschland durch langfristige Prävention und Gesundheitsförderung vermeiden lassen«. Deppe zufolge sind »die Arbeitsbedingungen der krankmachende Faktor Nr.1 … Es sind offensichtlich viel mehr Krankheiten durch Arbeit verursacht, als offiziell anerkannt wird.« Die Konzentration auf Symptombehandlung begünstigt z.B. Medikamentenabhängigkeit.
5 Eine fünfte Variante der Verschwendung resultiert aus Arbeiten, die allein der Konkurrenz geschuldet sind und dem in ihr notwendigen Bemühen, Käufer vom Angebot des Konkurrenten auf das eigene umzulenken. Nur zum geringsten Teil geht es bspw. in der Werbung um sachliche Produktinformation und neutrale Verbraucherberatung. Die Werbewirtschaft hat 2001 einen Umsatz von 32 Milliarden Euro und kostet jeden Einwohner Deutschlands einen auf die Produkte aufgeschlagenen Betrag von 400 Euro. Tendenz steigend.
Auch in der Versicherungsbranche wird als überflüssig zu bezeichnende Arbeit verausgabt, insofern sie sich durch die Konkurrenz in der Branche begründet und deren Leistung nicht erhöht, sondern den Wettbewerb zwischen den verschiedenen Unternehmen und ihren jeweiligen Außendienstmitarbeitern und Marketingspezialisten. »Forschungsinstitute und Unternehmen in Deutschland«, so die Frankfurter Rundschau 1991, »vergeuden jedes Jahr rund 20 Milliarden Mark, weil ihre Wissenschaftler versuchen, Dinge zu erfinden, die längst erfunden sind. Nach Angaben des Präsidenten des Deutschen Patentamts, Erich Häußer, entspricht diese Summe etwa einem Drittel des gesamten jährlichen Forschungsaufwands öffentlicher und privater Stellen.«
»Ca. 85—90% der Projekte in den industriellen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen befassen sich mit der Entwicklung von Scheininnovationen und defensiven Produktveränderungen«, sparen also die Kosten, die bei »radikalen Neuerungen« entstünden, und stellen so eine »suboptimale Ausnutzung der vorhandenen Innovationskapazität« dar, so Werner Rammert in seinem Buch Soziale Dynamik der technischen Entwicklung (1983). Bei den 2000 in Deutschland neu zugelassenen 913 Fertigarzneimitteln mit bislang nicht allgemein bekannten Arzneistoffen handelt es sich zumeist um Analogpräparate, und die Zahl der tatsächlich neu in die Therapie eingeführten Wirkstoffe beschränkt sich auf 31 Substanzen. Von diesen wiederum stellen höchstens 13 echte Innovationen mit belegbaren pharmakologischen Vorteilen dar. Auch in der Produktion von komplizierteren Verbrauchsgütern herrscht eine immense Verschwendung von Know-how und Erfindungsgeist vor, insofern beide verausgabt werden, um ein Übermaß an Oberflächendifferenzen zwischen den Produkten zu schaffen und den Narzissmus der kleinsten Differenz zu kultivieren.
6 Eine sechste Form der Verschwendung betrifft die unbekümmerte Produktion bzw. Inkaufnahme von massiven Schädigungen der Gesundheit durch in der Gesellschaft übliche, weil profitabel produzierbare und verkaufbare Waren. Zwar schafft die Produktion dieser Waren Reichtum für die Unternehmer und (davon abhängig, also nur sehr bedingt) Arbeitsplätze, zugleich aber wird schon mit den Produkten und ihrem Gebrauch massiv menschliche Gesundheit verschwendet.
Der Autoverkehr hat seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland 600000 Tote gefordert. Die diese Ziffer mehrfach übersteigende Zahl der schweren Verletzungen und die damit entstehenden medizinischen u.a. Ausgaben werden als Folgekosten nicht in eine Wirtschaftlichkeitsprüfung des privaten Autoverkehrs einbezogen. Menschlicher Schmerz zählt nicht. Dies betrifft nicht nur massive Verletzungen durch Unfälle, sondern auch die schleichende Unterhöhlung der Gesundheit durch Produkte der Nahrungsmittelindustrie. Chemikalien, die Menschen und Umwelt gefährden, entweichen aus den Schornsteinen und Abwasserrohren der Industrie und aus den produzierten Waren. Betroffen sind bspw. Flammschutzmittel aus Autopolstern und Computern, Weichmacher aus Kinderspielzeug und Farben, hormonähnliche Substanzen aus Reinigungsmitteln und Unkrautvernichtern.
7 Eine siebte Variante der Verschwendung betrifft die Ex-und-hopp-Kultur von Handwerkern, die zu bloßen Teileaustauschern der Industrie degradiert werden. Christine Ax hat 1997 darüber informiert, dass Reparaturen zwar z.T. arbeitsintensiver, aber umweltfreundlicher und weniger Material verbrauchend möglich sind, bspw. dadurch, dass tatsächlich nur die kaputten Kleinteile und nicht große und komplexe Bauteile ausgewechselt werden.

Der falsch gebundene Reichtum

Insgesamt stellt sich heraus, dass es nicht an Reichtum fehlt, um bestimmte Zwecke (Bildung, Gesundheit usw.) zu finanzieren. Vielmehr ist problematisch, auf welche Güter und auf welche Arbeiten und Dienste der Reichtum verausgabt wird.
Wer der gegenwärtigen Umstrukturierung der Sozialleistungen und öffentlichen Ausgaben lediglich mit Forderungen nach Umverteilung entgegentritt, wagt sich nicht an die Inhalte der Arbeiten und Dienstleistungen heran, die in der herrschenden Ökonomie gang und gäbe sind. Man verfällt somit der durch Bruttosozialprodukt, Bruttoinlandsprodukt und ähnliche Kennziffern verkürzten Darstellung des gesellschaftlichen Reichtums. Wer sich an solchen Kennziffern orientiert, unterliegt schon einer für die herrschende Ökonomie charakteristischen Abstraktion von dem, was die Produkte, die Arbeiten und Dienstleistungen für die Menschen sind. Das Bruttosozialprodukt erhöht sich auch, wenn es mehr Autounfälle, also mehr Reparaturen der Körper und Fahrzeuge gibt.
Wer nur gegen Kürzungen protestiert, ist oft wehrlos gegen das Argument, die Ökonomie müsse heute und morgen durch einige Opfer in Fahrt gebracht werden, damit dann auch übermorgen wieder jene Zwecke bedient werden können, an denen gegenwärtig zu sparen sei. Wer die Inhalte der herrschenden Wirtschaft nicht in Frage gestellt, büßt ohne Not viele Möglichkeiten ein, ihren »Sachgesetzlichkeiten« und den ihnen anhaftenden, für »bedauernswert, aber unumgänglich« gehaltenen Konsequenzen zu widersprechen. Wer die in der herrschenden Ökonomie und Politik steckenden Ursachen von Verschwendung kennt, hat gute Argumente dafür, Einsparpotenziale nicht ausgerechnet bei den angeblich zu hohen Ausgaben für menschenfreundliche Zwecke zu suchen. Wer dagegen das Wohlergehen der herrschenden Wirtschaft als Voraussetzung für ein hohes Steueraufkommen und für die aus ihm finanzierbaren Wohltaten betrachtet, kann sich zwar mit einer anderen Steuerpolitik für Umverteilung aussprechen. Der Protest gegen die Kürzungspolitik ist aber halb bereits geistig verloren, wenn die Frage nach Verschwendung allein auf die Besteuerung, nicht aber auf die ihr zugrunde liegende Wirtschaft bezogen wird.
Erst wer sich von der tatsachenwidrigen Vorstellung verabschiedet, die herrschende Wirtschaft sei eine zwar ungerechte, aber effiziente Angelegenheit, muss beim Sparen nicht allein an außerökonomische Belange denken, sondern kann fragen, wie wir uns viele Arbeiten, Produkte und Dienste sparen können, um Reichtum aus dieser Fehlverwendung freizubekommen für Zwecke, die heute eher vernachlässigt werden. Erst wer sich klarmacht, wie viel Reichtum in der gegenwärtigen Ökonomie falsch gebunden existiert, wird die weit verbreiteten Argumente für »das Sparen« durchkreuzen können. Die gegenwärtige Koexistenz von Sparzwang und Verschwendung lässt sich nicht durch punktuelle Eingriffe kurieren. Vielmehr stellt sich die Frage nach einer Wirtschaftsweise, zu deren notwendigen Bedingungen nicht die Rücksichtslosigkeit gegen die Menschen und ihre natürlichen Lebensbedingungen und die massenhafte Existenz von unnützen, aber profitablen Arbeiten und Dienstleistungen gehören.

Meinhard Creydt

Angaben zu den benutzten Quellen.


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