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Es scheint mir selbstverständlich zu sein, dass es im existenziellen Interesse der PDS liegt, bei den Europawahlen 2004 nach dem
Rückschlag 2002 bei den BTW wieder die 5%-Grenze zu überschreiten, und zwar deutlich. Andernfalls würde sich in der Wählerschaft
der Eindruck festsetzen, die PDS sei auf Bundesebene ein für alle Mal kein politisch beachtlicher Faktor mehr.
Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wahlkampf der PDS wären jedoch zwei
Einsichten, und zwar
dass für ein Überschreiten der 5%-Grenze der Wähleranteil im
»Westen« deutlich erhöht werden müsste, und
dass im »Westen« der PDS-Wahlkampf nach Form und Inhalt anders
angelegt werden müsste als im »Osten«.
Zum Einen: Der PDS-Anteil lag bei der Bundestagswahl 2002 im »Westen« nur
knapp über 1%; nur in einem guten Dutzend von Wahlkreisen im »Westen« erreichte sie 2% oder etwas mehr. Bei einem Anteil von rd.
1617% im »Osten« wie 2002 ist das für das Erreichen der 5%-Grenze nicht genug. Nur ein Anteil von deutlich
über 20% brächte die Partei (wenn überhaupt) über die 5%-Hürde. Ob das erreichbar ist, erscheint mir sehr fraglich. Hingegen
halte ich einen Anteil von rd. 2,5% im »Westen« für ein wenig realistischer. Er würde mit 1617% im »Osten« die
5%-Quote vermutlich sicherstellen.
Ich habe allerdings den Eindruck gewonnen, dass die politische Problematik des
»Westens« bisher in der PDS nicht genügend beachtet worden ist. Die Schwäche der PDS im »Westen« trotz 13
Jahren Bemühungen ist offen gesagt katastrophal und schließt eigentlich eine Rolle der PDS als einer wirklichen gesamtdeutschen Partei
aus. Soweit ich aus Parteimedien etwas darüber entnehmen kann, ist dieser Umstand bisher auch nicht gründlich analysiert worden. Punktuelle
Kommunalwahlerfolge (Marburg, Duisburg, OB-Wahl Lörrach z.B.) scheinen mir nicht daraufhin untersucht worden zu sein, ob die dortigen Bedingungen
sich nicht verallgemeinern und übertragen ließen. Auch finde ich keine tiefer gehende Diskussion der Frage, warum und wieso die Idee des
»demokratischen Sozialismus« vor allem angesichts des Zustands der SPD im »Westen« keine größere
Resonanz findet, obwohl seriöse Umfragen auch und gerade von Forschern aus dem »Osten« deutlich zeigen, dass ein
politisches Potenzial hierfür im »Westen« durchaus vorhanden ist gar nicht viel schwächer als im »Osten«.
Zum anderen: Der PDS-Wahlkampf müsste auch auf die jeweiligen besonderen
gesellschaftlichen, politischen und ideellen Bedingungen in den beiden Teilen Deutschlands zugeschnitten sein. Im »Osten« geschieht das
vermutlich ganz selbstverständlich, im »Westen« anscheinend nicht.
Im Zentrum solcher Überlegungen müsste die Einsicht stehen, dass die separate Entwicklung der deutschen Gesellschaft von 1945 bis 1990 in
Ökonomie, Sozialstruktur, gesellschaftlichen Einstellungen und Verhaltensweisen (der französische Soziologe P. Bourdieu nennt diesen
Zusammenhang »Habitus«) zu tiefgreifenden Unterschieden geführt hat, die gar nicht überschätzt werden können. Das
radikal verschiedene Wahlverhalten in West- und Ost-Berlin ist eine drastische Illustration dieses Sachverhalts. Die genauere historisch-soziologische Analyse
dieses Problems kann hier nicht dargestellt werden. Es sei nur auf einige zentrale Umstände verwiesen, die mir offen zu Tage zu liegen scheinen.
Die PDS ist im östlichen Parteiensystem eine der drei großen
»Volksparteien«, die als seriöse Alternativen der praktischen Politik wahrgenommen und gewählt werden. Im »Westen« ist
die PDS hingegen eine Splitterpartei, die zu wählen lediglich eine Art von politischem Glaubensbekenntnis darstellt, nicht aber einen Akt praktischer
Politik wenn wir von dem kleinen (zu kleinen) Beitrag zum Wahlergebnis auf Bundesebene einmal absehen.
Schon allein dieser Umstand erfordert eine eigenständige Wahlkampagne
»West«. Es ist nicht bloß ein quantitativer Unterschied, sondern ein qualitativer Unterschied, ob ich meinem Wahlkampf in meinem
örtlich-regionalen Umfeld das realistische Ziel setzen kann, meinen Stimmanteil von 15% auf 20% oder 25% zu steigern, oder ob mein realistisches Ziel
sein muss, 23% oder ein bisschen mehr zu erreichen.
Unmittelbare Hauptursache ist die Tatsache, dass die PDS im »Westen« wegen
ihrer geringen Mitgliederzahl (kaum mehr als die Rest-DKP) und ihrer bisherigen bescheidenen Stimmergebnisse schlechterdings nicht flächendeckend
präsent sein kann, wie Union und SPD oder (zumindest weitgehend) FDP und Grüne.
Direkte Folge dieser Umstände ist, dass im »Westen« ein umfassender
Appell an eine breit gestreute Wählerschaft wie im »Osten« weder möglich noch sinnvoll ist. Die Stoßrichtung
einer Kampagne, die sich realistischerweise nur auf ein Ziel von 23% ausrichten kann, muss sich daher auf bestimmte ausgesuchte, relativ kleine
Teilgruppen der Wählerschaft konzentrieren.
Diese Teilgruppen finden sich in jenen Sektoren der Wählerschaft, die von der
(seriösen) Wahlforschung und der politischen Soziologie als entschieden »links« identifiziert werden, d. h. als potenziell sozialistisch
gestimmt, zumindest als konsequent sozial, arbeitnehmerorientiert oder gewerkschaftsnah. Das sind im »Westen« mindestens 10%.
Dieser Teil der Wählerschaft findet sich (natürlich) unter bisherigen, nun
enttäuschten SPD- und Grünen-Anhängern, insbesondere unter aktiven kämpferischen Gewerkschaftern, unter kritischen Intellektuellen
und in den Milieus der Globalisierungskritiker, der entschiedenen Kriegsgegner und der Befürworter alternativer Lebens- und Gesellschaftsmodelle. Attac
mit dem Slogan »Eine andere Welt ist möglich« repräsentiert einen besonders aktiven, überwiegend jüngeren Teil dieser
Strömung.
Im »Osten« gibt es diese Milieus, vor allem ihre im »Westen«
vorherrschenden Ausdrucksformen, wie mir scheint, in dieser Form nicht. Die etablierte »Linke« hier in und neben der PDS hat
einen anderen Charakter. Das gilt insbesondere für die unabhängige »Gewerkschaftslinke«, die weitgehend parteiunabhängige
»Friedensbewegung«, die radikale Ökologiebewegung und die intellektuelle gesellschaftskritische Linke im »Westen«.
Zwischen dieser zugegeben nicht einheitlichen und kaum organisierten »West«-Linken und der etablierten Linken in der PDS
und in ihrem Umfeld besteht eine beträchtliche Distanz bis hin zu feindseligem Nicht-Verstehen. Die betonte Orientierung im »Osten« auf
klassische »radikale« (im Grunde linkssozialdemokratische und staatsorientierte) Politikmodelle stößt im »Westen« oft auf
Misstrauen. Hingegen werden im »Osten« z.T. erhebliche Vorurteile gegen »Dogmatismus« und »Linkssektierertum« im
»Westen« gepflegt, wobei die Kenntnis der konkreten Vorstellungen und Diskussionen im »Westen« nicht immer ausreichend ist. Der
mit viel Misstrauen, ja manchmal geradezu Hass erfüllte und zuweilen fast paranoide Umgang mit dem sog. »Trotzkismus« ist dafür ein
besonders krasses Beispiel und erscheint kritischen Beobachtern als eine Spätfolge stalinistischer Verleumdungen.
Diese Differenzen wurzeln, wie ich meine, vor allem in der unterschiedlichen
gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 in »West« und »Ost«. Dies gilt insbesondere für das Feld der gewerkschaftlichen
Tätigkeit. In der heute im »Osten« in und im Umfeld der PDS politisch aktiven Generation gibt es keinerlei eigene
Erfahrungen mit einer Gewerkschaftsarbeit in einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft mit ausgeprägten Klassenkonflikten. Und zwar unter
den Bedingungen einer relativ stabilen »bürgerlichen« parlamentarischen Demokratie. Die kämpferische und kritisch gegen
Unternehmer und bürgerliche Klasseninteressen gerichtete Haltung vieler »linker« Gewerkschaftler erscheint im »Osten« als
Ausfluss eines ideologischen oder gar sektiererischen »Radikalismus«, der eigentlich überholt sei. In Wirklichkeit ist diese Haltung aber das
Ergebnis jahrzehntelanger z.T. sehr bitterer persönlicher Erfahrungen, die diese Kolleginnen und Kollegen gemacht haben und immer noch machen
(übrigens auch mit sozialdemokratischer Kompromisspolitik und gewerkschaftlicher sozialpartnerschaftlicher Bürokratie).
Vergleichbare Differenzen gibt es auch zwischen kritischer Intelligenz im
»Westen« und im »Osten«. In der alten BRD war die linke Intelligenz zwar zu Zeiten in einer durchaus prekären
Minderheitsposition, die auch soziale Diskriminierungen und Belästigungen durch die staatlichen Sicherheitsorgane einschließen konnte. (Was
manchmal dazu verführte, die Verhältnisse in der DDR zu verkennen.) Aber diese Position war, wie mir scheint, nicht zu vergleichen mit der
Isolierung und Verfolgung intellektueller »Dissidenten« in der alten DDR. Diese hat, wie ich meine, eine z.T. tief greifende und heute noch
wirksame Abneigung gegenüber früheren SED-Kadern zur Folge gehabt, wenn nicht gar eine prinzipielle Distanz zur Tradition der sozialistischen
Arbeiterbewegung überhaupt.
Gewerkschaftliche Linke und gesellschaftskritische Intelligenz sind aber die wesentlichen
Potenziale einer (derzeit freilich eher virtuellen als realen) unabhängigen »West«-Linken neben der SPD und den Grünen. Diese
unabhängige Linke müsste die PDS fördern und als gleichberechtigten Partner zu entwickeln und zu gewinnen suchen.
Die Idee der »Westausdehnung« der PDS war bisher insofern nicht mehr als eine
Schimäre. Sie wurde und wird als der Versuch verstanden, der (zugegeben unentwickelten, zersplitterten und z.T. sektiererischen verengten)
»West«-Linken einfach das PDS-Modell überzustülpen. Daher ist dieser Versuch nicht ohne Grund erfolglos geblieben.
Unterschiedliche Erfahrungen und lebensgeschichtliche Prägungen lassen sich nicht einfach wegdiskutieren und wegorganisieren, sie können auch
nicht durch Beschluss geändert werden. Erfahrungen muss man machen.
Aus allen diesen Gründen ist es auch nicht realistisch, zu erwarten, die wechselseitigen Vorbehalte ließen sich mit einer intelligenten und
cleveren Wahlkampfführung durch die derzeitige PDS-Führung einfach überspielen. Erreichbar scheint mir hingegen ein Wahlkampfkonzept,
das diese Situation ehrlich eingesteht und Zeichen für eine Entwicklung setzt, die die gegenseitige Fremdheit allmählich abzubauen geeignet ist.
Auch diese bescheidene Zielsetzung erfordert freilich die Bereitschaft, auf Überlegungen wie diese (oder ähnliche) inhaltlich einzugehen
was nicht heißen soll, sie pauschal zu akzeptieren. Dabei müsste freilich die in allen festgefügten Organisationen mehr oder weniger offen
praktizierte alte Bürokraten-Weisheit aufgegeben werden, die da lautet: »Das haben wir ja noch nie so gemacht; das haben wir schon immer so
gemacht; da könnte ja jeder kommen!«
Im Folgenden stelle ich einige konkrete Überlegungen zur Diskussion, die solche
politischen und organisatorischen Schritte skizzieren, durch die die PDS ihre Kontakte zur »West«-Linken und ihr Image als eine wählbare
»linke« Alternative im »Westen« verbessern zu können:
Es wäre sinnvoll, wenn die vorhandenen, mehr oder weniger »linken«
Organisationen und Strömungen (Gewerkschaftslinke, Attac, Sozialforumsbewegung, Euromärsche, Friedensgruppen, sog. antikapitalistische Linke
usf.) sich aus Anlass der Europawahlen zu einer überparteilichen, unabhängigen Kampagne für ein friedliches, demokratisches, soziales,
ökologisches Europa zusammenschließen würden, auf der Basis eines knappen Aktionsprogramms, das einen Minimalkonsens zwischen den
Beteiligten ohne ausdrückliche Ausrichtung auf eine der kandidierenden Parteien enthält. Auf den zustande kommenden öffentlichen
Veranstaltungen sollten die kandidierenden demokratischen Parteien und ihre Vertreter intensiv über ihre Politik zur Rede gestellt werden. Die PDS-
Vertreter würden dort Diskussions- und Darstellungsmöglichkeiten finden, welche die Partei sich aus eigener Kraft im »Westen« nicht
zu schaffen vermöchte. Voraussetzung wäre natürlich, dass die PDS sich von Anfang an an einem solchen Bündnis aktiv, loyal und
ohne Führungsanspruch beteiligte.
Die PDS müsste hierbei und ganz allgemein nicht nur in verbalen Erklärungen,
sondern durch konkrete politische und organisatorische Schritte zu erkennen geben, dass sie den anderen »linken« Strömungen kooperativ und
»auf Augenhöhe« begegnet. Sollte sie sich dabei als starke organisatorische Kraft bewähren (was bei Beteiligung von Attac und/oder
Teilen der Gewerkschaften gar nicht selbstverständlich sein würde), muss dieser Umstand weder verschleiert noch besonders betont werden.
Peter von Oertzen
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