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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 7

Studierendenproteste in Berlin 2003

Radikale Kritik kaum verbreitet

Noch im Sommer dieses Jahres konnte niemand ahnen, dass sich im Herbst an den Berliner Universitäten eine der größten Protestbewegungen der letzten Jahrzehnte Luft machen würde. Im Gegenteil, große Frustration hatte sich breit gemacht. Aktionstage, welche über geplante Einsparungen von ungekannten Ausmaßen informieren sollten, blieben weitgehend ohne Resonanz. Eine Demonstration von einigen tausend Menschen war das Maximum. Eine Großdemo sollte folgen. Dem Aufruf schlossen sich jedoch nur einige hundert Teilnehmenden an, die vom Regen pudelnass und umringt von Polizisten ein trauriges Bild abgaben. Der RefRat (die Studierendenvertretung) der HU erklärte — voreilig, wie sich später herausstellte — den Protest für beendet.
Doch die Stimmung gärte weiter — unabhängig von der organisierten Linken. Die Debatten breiteten sich jenseits der etablierten Strukturen aus. Verschiedene Schriften aus betroffenen Instituten tauchten immer wieder auf. Dozenten unterhielten sich mit den Studierenden. Die erste Überraschung war der Run auf Attac Campus. Bis zu 50 Leute drängelten sich in den ersten Wochen des Semsters regelmäßig in dem kleinen Seminarraum an der HU, der als Ort des Wochenplenums diente. An der FU war der Andrang ähnlich. Vielleicht hätte man dies schon als grelles Signal interpretieren müssen, dass sich etwas grundlegend geändert hatte.

Die Wende

Am 1.11. protestierten 100000 gegen die Agenda 2010. Die Demontration hatte enormen Einfluss auf die politische Landschaft in Deutschland; es zeigte sich, dass sich gegen Sozialabbau und Entsolidarisierung wieder einiges in Bewegung setzen ließ, auch unter einer »Linksregierung«.
Die Studierenden blieben davon nicht unberührt. Am 4.11. beschlossen sie in Frankfurt am Main den Ausstand, am 5.11. an der Technischen Universität in Berlin. Mit großer Entschlossenheit wurden Gebäude besetzt, Vorlesungen aufgelöst, Spontandemos organisiert. Doch auf sich allein gestellt konnte der Protest nicht erfolgreich sein.
Nach zwei Wochen isoliertem Protest war die Entschlossenheit schon auf eine harte Probe gestellt. Die Studierendenvertreter an HU und FU zögerten mit der Einberufung einer Vollversammlung. Noch gaben die Pessimisten den Ton an. Attac Campus drängte, und diejenigen, die den Streik befürworteten, nahmen dies positiv auf. Trotzdem zog sich die Entscheidung zwei Wochen hin. Quasi übers Wochenende kippte die Stimmung an der HU zugunsten der Streikbefürworter.
Nun musste plötzlich alles sehr schnell gehen. In nur zwei Tagen wurde für die erste Vollversammlung mobilisiert. Die Resonanz war riesig. Auf dem ESF in Paris erreichte uns die Meldung, dass das Audimax an der HU überfüllt war und für den folgenden Mittwoch eine Streikvollversammlung mobilisiert werden sollte. Am 19.11. drängelten sich die Studierenden der HU in drei großen Sälen. Die Naturwissenschaftler aus Adlershof waren live zugeschaltet. Eine überwältigende Mehrheit stimmte für den Streik. Die Vollversammlung der TU fand zeitgleich statt.
Binnen kürzester Zeit bildete sich eine Spontandemo von einigen tausend Studierenden, die zur TU zog, um die Solidarität der HU zu bekunden. Der Jubel an der TU war riesig, die Zweifler verstummten. Die Protestbewegung war gerettet und konnte sich nun voll entfalten. Am 20.11. beschloss auch die Vollversammlung an der FU den Streik. Überall entstanden Dutzende Arbeitsgruppen, die alle nur denkbaren Aufgaben übernahmen (Aktionen, Inhalte, Pressearbeit, Infopool, Streikposten usw.).
Oft wird in den Medien der Vergleich mit ‘68 bemüht. Man versucht alte Stereotypen von kulturrevolutionären Hippies oder steinewerfenden Revoluzzern auf die Bewegung von heute zu projizieren, doch irgendwie passen diese Bilder nicht. Die Bewegung ist geprägt von einfachsten Reformforderungen. Jedem Studierenden in Berlin ist bewusst, dass die Streichung von 75 Millionen Euro die öffentliche Hochschullandschaft zerstört. Und alle wissen, dass die zu zahlenden Studiengebühren im Berliner Korruptionssumpf versacken werden.

Kein Vergleich

Radikale Kritik ist kaum verbreitet. Der verbliebene Rest der revolutionären Linken bringt ihre Themen äußerst zurückhaltend ein. Die entschlossenen Aktionsformen täuschen darüber hinweg, dass die Mehrheit linksradikalen Inhalten gegenüber äußerst skeptisch eingestellt ist. Die Krise der revolutionären Linken ist aber eine Krise alter elitärer Flausen. Das ist auch als Chance zu verstehen.
Ein negativer Ausdruck der mangelhaften Radikalität bei vielen Studierenden ist die hohe Akzeptanz von »sozial verträglichen« Modellen für Studiengebühren. Das öffnet nicht nur ein Einfallstor für ein Zwei-Klassen-Bildungssystem, sondern versetzt die Studierenden auch in ein Kundenverhältnis. Unter solchen Umständen würden sie die Bildungsinhalte vollständig von ihren zukünftigen Arbeitgebern diktiert bekommen. Diese wollen aber eine kleine gehorsame Elite, die kein soziales, ökologisches oder friedenspolitisches Gewissen mehr hat. Die Infragestellung der kostenlosen, öffentlichen Massenuniversität wäre ein gesellschaftliches Desaster.
Trotz der zahllosen, mitunter an der Grenze der Legalität kratzenden, kreativen Aktionen — z.B. wurde der Weihnachtsbaum vor dem Roten Rathaus »gekürzt« — erscheint der Studierendenprotest sehr friedlich und ernsthaft. Eine Ausweitung der Bewegung wird dadurch ermöglicht. Eine der wichtigsten Aktionsformen ist die öffentliche Vorlesung. Professoren und Dozenten verlegten ihre Lehrveranstaltungen in den öffentlichen Raum und unterstützen auf diese Weise den Protest. Ein anderes Mittel ist die Besetzung der Büros von verantwortlichen Politikern.
Von einer Kulturrevolution im Stile von ‘68 ist keine Spur. Eine kulturelle Provokation, passend für die Lage 2003, scheint sich dennoch anzubahnen. Die Samstagsdemonstrationen, an denen bisher regelmäßig etwa 15000 Studierende teilnahmen, haben sich seit dem 13.12. zu einer sozialen Protestdemo ausgeweitet. Der soziale Protesttag am 13.12., an dem in Berlin über 30000 Menschen teilnahmen, war geprägt von einem Gefühl der Verbundenheit verschiedenster sozialer Gruppen. Der Ruf nach einer solidarischen Gesellschaft wird von vielen Medien allerdings unterdrückt, denn er bricht mit der neoliberalen Vereinzelungsideologie.

Uwe Lorenz

Uwe Lorenz studiert an der Humboldt-Universität Berlin.



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