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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 12

Lateinamerika

Aufschwung der sozialen Bewegungen

Der Neuaufschwung der sozialen Bewegungen und linken Parteien in Lateinamerika begann in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Er weist von Land zu Land ganz unterschiedliche Facetten auf, hat jedoch — hier liegt ein erster gemeinsamer Nenner — mittlerweile in einigen Ländern wie Argentinien, Brasilien, Bolivien, Ecuador oder Venezuela die politischen Kräfteverhältnisse deutlich nach links verschoben.
Die 80er Jahre waren für Lateinamerika ein »verlorenes Jahrzehnt« — mit kontinentweit nominalen Wachstumsraten von weniger als 2%, was pro Kopf ein Minuswachstum bedeutete. Im Folgejahrzehnt stimulierten bis etwa 1997 Privatisierungen der produktiven Staatsbetriebe, die Deregulierung der Ökonomien, Haushaltskonsolidierung, Inflationsbekämpfung und Öffnung zum Weltmarkt das Wachstum und brachten einen wahren Kapitalschub für Lateinamerika. Die Wachstumsraten des BIP lagen im Durchschnitt über 3% und die Kapitalzuflüsse schossen ab Beginn der 90er Jahre förmlich nach oben — bis auf über 100 Milliarden US-Dollar im Jahr.
Rasch zunehmende Auslandsinvestitionen und der Aufbau von weltmarktorientierten Lohnfertigungsindustrien schienen zu beweisen, dass die neoliberale Rosskur allmählich Wirkung zeigte. Sie nährten die Erwartung, die soziale Schere werde sich, wenn auch zeitlich verzögert, schließen. Leichte Verbesserungen bei den Armutsindizes schienen dafür erste Anzeichen zu sein.
Die Hoffnungen, die sich mit dieser Periode verbanden und die zugleich die sozialen Bewegungen und linken Parteien in eine Position der Schwäche und der Defensive verwiesen, brachte keiner besser auf den Punkt als Carlos Salinas de Gortari, 1988—1994 Präsident in Mexiko. Für ihn gehörte Mexiko schon zur Ersten Welt, nicht mehr zur Dritten. Die Dresdner Bank Lateinamerika, traditionell auf dem Subkontinent vor allem im Kreditgeschäft stark engagiert, sah in Anspielung auf die ostasiatischen Tigerstaaten sogar schon »Die Dekade des Jaguars« herannahen, wie eine 1997 erschienene und an Kapitalinvestoren gerichtete Publikation titelte.
Spätestens die mexikanische Finanzkrise 1994/95 und die Folgen der Ostasienkrise 1997 zeigten jedoch, dass die Hoffnungen auf Sand gebaut waren. Dem ökonomischen Einschnitt folgte der politische. Im Gefolge des Zapatistenaufstands 1994 konnte die jahrelange Lähmung linker Politik in Lateinamerika durchbrochen werden. Ein neuer Kampfzyklus begann. Soziale Bewegungen und die Arbeiterpartei Brasiliens (PT), die sich vom allgemeinen Rückzug der Linken hatten abkoppeln können, erstarkten.
Seit 1997/98 stagniert die Ökonomie Lateinamerikas, und die Armutsschere öffnet sich weiter. Während sich die beiden bedeutendsten Länder Mexiko und Brasilien noch vergleichsweise gut halten konnten, stürzten die nächstwichtigen, Argentinien und Venezuela, förmlich ab. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle nur folgende Fakten, die sich auf ganz Lateinamerika beziehen:
♦  die Auslandsverschuldung stieg auf über 700 Mrd. US-Dollar;
♦  der Schuldendienst beträgt jährlich ca. 140 Mrd. Dollar oder ein Drittel der Exporte; in Argentinien lag die Quote zeitweise bei 100%, in Brasilien zwischen 60 und 70%;
♦  die Zuflüsse von Kapital schwanken heftig, ebenso die Zinsen und der Risikoaufschlag für unsichere Schuldner auf dem internationalen Kreditmarkt; in akuten Krisenphasen betrug er für Brasilien 25% für Dollar-Bonds zuzüglich zum Zinssatz der als Referenz dienenden US-Staatsanleihen;
♦  die Bedeutung der verarbeitenden Industrie für die Erwirtschaftung des Bruttoinlandsprodukts hat bei stagnierendem Agrarsektor auf etwa 25—30% abgenommen; was zunimmt sind vorwiegend (Billig- )Dienstleistungen aller Art (abgesehen von den Ausnahmen Mexiko und Brasilien).
Die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme wurden generell abgesenkt, der Anteil an der Gesamtbevölkerung, der Anspruch darauf hat, hat abgenommen, Teilbereiche (so die Altersvorsorge in Chile/Mexiko; die Gesundheitsfürsorge; Erziehung) wurden privatisiert. Die Bevölkerungsschichten, die im informellen Sektor arbeiten — und das kann mitunter die Mehrheit der Gesamtbevölkerung sein — sind häufig vom Zugang zu den Sozialversicherungssystemen ausgeschlossen. Sie werden nur noch über spezielle Armutsbekämpfungsprogramme erreicht.
Über die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Subkontinents (2003: 524 Millionen) ist — bei einem durchschnittlichen Sozialprodukt pro Kopf und Jahr von 3300 Dollar — arm oder sehr arm. Hier wäre unter den gegebenen Umständen erst bei langfristigen Wachstumsraten von über 5% im Durchschnitt Besserung in Sicht. Doch es ist völlig unrealistisch, dass es dazu kommen kann. Somit wird der soziale Druck weiter zunehmen.

Krise und Niedergang der Parteien

Diese Entwicklung hat mittlerweile weitreichende Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik: Festzustellen ist eine allgemeine Enttäuschung über die eingetretene Wirtschaftsstagnation und vor allem über die ausgebliebenen sozialen Erfolge des Neoliberalismus. Die Folge ist die Abkehr von den Parteien bzw. ganzen Parteisystemen, die diesen Weg als den alleinseligmachenden predigten. Ganze Strömungen wie etwa die Christdemokratie, die in vielen Ländern jahrzehntelang zu den Hauptkräften gehörte, sind zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft.
Die gesellschaftliche Unrast bzw. die Suche nach Alternativen, welcher Art auch immer, gewinnt weiter an Dynamik. Allgemein ist ein Neuaufschwung sozialer Bewegungen und deren wachsender politischer Einfluss zu konstatieren. In einigen Ländern gewinnen linke Optionen wahlpolitisch wieder Relevanz. Parallel dazu steigen Außenseiter, Newcomer, Populisten aller Couleur oder selbsternannte Retter des Vaterlandes in der politischen Arena geradezu kometenhaft auf, um dann eben so schnell auf Nimmerwiedersehen im politischen Nirwana zu verschwinden. In einer ganzen Reihe von Ländern ist die politische Sphäre nach knapp zwei Jahrzehnten relativer Ruhe mit geordneten Wahlen und einander ablösenden Regierungen und Parlamenten heftig in Bewegung geraten.
Bei aller Unterschiedlichkeit und Heterogenität der sozialen Bewegungen lassen sich doch einige Gemeinsamkeiten herausarbeiten, sowohl räumlich wie auch sozial:
Räumlich gesehen hat sich das Gravitationszentrum der Unruhe von Zentralamerika (80er Jahre) in den Andenraum und nach Südamerika verlagert. Standen in den 80er Jahren kleine bis mittlere und für den Gesamtkontinent vergleichsweise wenig bedeutende Staaten Mittelamerikas (bzw. Peru) im Zentrum der Konflikte, so sind es heute die drei großen, bevölkerungsreichen und ökonomisch dominanten Länder Brasilien, Argentinien und Mexiko sowie der Andenraum.
Während die sozialen Bewegungen sich in den drei großen Ländern auf jeweils ganz spezifische Weise und sehr wirksam ins politische Geschehen einmischten (Argentinien: der Präsident stürzt im Dezember 2002 durch den Druck der Straße; Brasilien: Amtsantritt von Lula im Januar 2003; Mexiko: Abwahl der autoritären Staatspartei PRI im Juli 2000), finden die Kämpfe im Andenraum zu einem erheblichen Teil außerhalb dessen statt, was bei uns »freiheitliche demokratische Grundordnung heißt«: es handelt sich vielfach um außerinstitutionelle, mitunter militante bis hin zu offen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Konflikte im Andenraum bergen ein überaus hohes Gewaltpotenzial, das macht sie so gefährlich. Noch schlimmer ist, dass die USA mit dem Plan Colombia/Plan Andino, der eine Aufrüstung und Ausweitung der kolumbianischen Auseinandersetzungen mit sich bringt, konfliktverschärfend wirken.
Dabei ist aber nicht nur an Kolumbien zu denken, das seit vielen Jahren in allen einschlägigen Kategorien — ob Vertreibung, politischer Mord oder Entführung — Weltspitze ist und dennoch hierzulande weiter als »Demokratie« bezeichnet wird. Auch in Bolivien, wo Straßenblockaden mit einer Repressionswelle beantwortet wurden, die dem Präsidentensturz vom Oktober 2003 vorausging und etwa 80 Todesopfer sowie Hunderte Verletzte kostete, oder in Peru, wo im vergangenen Mai nach Protesten von Lehrern und Campesinos der Notstand ausgerufen wurde, und selbstverständlich auch in Venezuela, wo die Konflikte zwischen Chávez-Gegnern und -Befürwortern keineswegs beigelegt sind, ist Gewalt ein wichtiger Bestandteil der Konflikte.

Grundtypen sozialer Bewegung

Nach sozialen und politischen Gesichtspunkten lassen sich einige Grundtypen sozialer Bewegung herausschälen:
♦  Es gab und gibt breite, klassenübergreifende, in der Regel von Mittelklassen dominierte städtische Anti-Regimebewegungen mit dem Ziel, den Präsidenten abzulösen (Fujimori in Peru; die PRI in Mexiko; Collor de Mello in Brasilien; mehrfach in Ecuador etc.), weil dessen Wirtschaftskurs nicht mehr mitgetragen wurde. Die Kritik entzündete sich häufig an einer Person und zielte gegen Autoritarismus und Korruption, ohne das politische System als solches in Frage zu stellen und ohne ein eigenes, positiv definiertes Projekt vorzutragen. In einer weiter entwickelten Form traten diese Akteure als Teil breiter Mitte/Links-Koalitionen auf, wie etwa im Fall Ecuadors seit Januar dieses Jahres bis zum Ausscheiden der indianischen Bewegungen im Herbst 2003.
♦  Indianische Bewegungen haben seit Beginn der 90er Jahre in mehreren Ländern erheblich an Gewicht gewonnen. In Ecuador waren sie mit der Partei Pachakutik direkt an der Regierung beteiligt; in Bolivien konnten sie zunächst ihre Parlamentspräsenz ausweiten und waren dann im vergangenen Oktober die tragende Kraft beim Sturz des Präsidenten. In Mexiko sind sie in Gestalt des Zapatismus als außerparlamentarischer Akteur präsent.
♦  Agrarische Bewegungen überschneiden sich in einigen Fällen mit indianischen. Die wichtigste von allen ist die brasilianische Landlosenbewegung MST, die 200000—300000 Familien in Produktionsgenossenschaften zusammenfassen konnte und Zehntausende für ihre Forderungen auf die Straße bringen kann. Sie fordern zuerst und vor allem eine umfassende Agrarreform.
Andere, neuere Agrarbewegungen wie die Zapatisten fordern darüber hinaus die Gleichberechtigung der Indígenas oder, wie die Cocaleros, die Kokapflanzer in den Andenländern, die Legalisierung ihres Produkts und den Stopp staatlicher Repression. Letzteres spielte vor allem in Kolumbien Ende der 90er Jahre eine Rolle, als Hunderttausende wochenlang die Verkehrsadern mehrerer Landesteile blockierten, und in Bolivien, wo in den letzten Jahren mehrmals Ähnliches gelang. In vielen anderen Ländern befinden sich die Bewegungen der Landarbeiter in der Defensive, weil ihre Produktionsweise gesamtgesellschaftlich an Bedeutung verloren hat und sie auf dem Markt angesichts gesunkener Zölle nicht konkurrieren können. Ihre Abwehrkämpfe sind oft durchtränkt von Bitterkeit, Verzweiflung und einer strategisch aussichtslosen Radikalität.
♦  Gewerkschaftliche Bewegungen bzw. klassenkämpferische Ansätze im traditionell sozialistischen Sinne sind eher schwach und tendenziell rückläufig wegen der Veränderungen in der sozialen und betrieblichen Struktur. Als Bastionen bleiben die öffentliche Unternehmen und der Staatssektor (Lehrer/Universitäten, Gesundheitsbereich, Ölindustrie, Elektrizitätswesen).
In diesen Sektoren sind die Gewerkschaften am mobilisierungsfähigsten. Hier haben sie sich in einigen Fällen erfolgreich mit Bewegungen gegen die Privatisierung der Versorgungsunternehmen (Strom, Wasser, Gesundheit, Erziehung) verbündet. Hier gab es in den letzten Jahren in einer Reihe von Ländern massive Bewegungen.
Ende November kam es in Mexiko zur bisher größten Mobilisierung seit der Wahlniederlage der PRI im Juli 2000. Etwa 100000 Menschen demonstrierten in der Hauptstadt, weitere Zehntausende gleichzeitig in über hundert weiteren Städten im ganzen Land gegen die Privatisierung der Elektrizitätserzeugung und gegen die Einführung der Mehrwertsteuer auch für Grundnahrungsmittel und Medizin. In Mexiko kam es zu einem ähnlichen Bündnis wie in anderen Ländern. Teile der Mittelklassen, Studenten, Gewerkschaften, linke Parteien und einfache Bevölkerungsschichten treffen sich an dem Punkt, die Grundversorgung mit öffentlichen Gütern zu verteidigen. In mehreren Fällen konnten hierbei Teilerfolge erzielt werden.
Bei den Zapatisten, den Cocaleros oder den Piqueteros in Argentinien haben die Aktionsformen bzw. die politischen Forderungen den Rahmen des Systems gesprengt und die Suche nach neuen Horizonten damit forciert.

Unterschiedliche Wege

Auf dem Subkontinent scheinen sich drei Großräume mit deutlich unterscheidbaren Entwicklungsrichtungen und -dynamiken herauszubilden:
♦  Da ist erstens das Nafta-Mitglied Mexiko und in seinem Gefolge Zentralamerika. Als bedeutendster Industrieproduzent, Exporteur und Importeur des Subkontinents (2003: jeweils ca. 170 Mrd. Dollar an Exporten und Importen) hat es sich eng an die von den USA dominierte Freihandelszone gebunden. Die Folge ist eine vergleichsweise dynamische Entwicklung: Handel, Lohnfertigung und Migration sind nach Norden gerichtet, die Gastarbeiterüberweisungen nach Süden (2002: 25 Mrd. Dollar); beide nehmen zu. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA wird damit noch größer, als sie ohnehin schon ist. Soziale sowie regionale Spannungen nehmen zu.
♦  Die beiden südamerikanischen Gravitationszentren Brasilien und Argentinien und mit ihnen die übrigen Mitgliedsländer der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur bilden den zweiten Großraum. Anders als das US-orientierte Mexiko setzt Brasilien unter Präsident Ignácio Lula da Silva deutlichere Akzente zur Stärkung des Binnenmarktes, der 85% des Bruttoinlandsprodukts (2003: 470 Mrd. Dollar) absorbiert. Sozialpolitische Reformansätze sowie Programme zur Armutsbekämpfung wie z.B. das Programm »Null Hunger« sollen die sozialen Spannungen dämpfen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln. In außenpolitischer Hinsicht sucht Brasilien als Gegengewicht zu den USA engere Beziehungen zur EU.
Argentinien ist unter dem neugewählten Präsidenten Kirchner auf diesen gemäßigten Reformkurs eingeschwenkt. Die Reaktivierung des Mercosur hat nicht nur das Ziel, die südamerikanischen Nationalökonomien enger zusammenzuführen. Er dient auch als Druckmittel, damit bei der von den USA vorangetriebenen Bildung einer kontinentalen Freihandelszone (FTAA/ALCA) die Belange Lateinamerikas stärker berücksichtigt werden, etwa durch die Öffnung des US- Agrarmarkts.
♦  Im Gegensatz zu den zwei erstgenannten Großräumen weist der dritte, die Gemeinschaft der Andenländer, eine deutlich negativere Entwicklungsdynamik auf. Wirtschaftliche Stagnation, schwache staatliche Institutionen und ein dauerhaft hohes Niveau politischer Gewalt prägen diese Region. Kolumbien befindet sich de facto im Kriegszustand, und in Venezuela lähmt die politische Polarisierung pro/contra Präsident Chávez Politik und Wirtschaft.
In Ecuador, Peru und Bolivien wurden in den letzten fünf Jahren fünf gewählte Präsidenten vorzeitig aus dem Amt gejagt. Dafür war hauptsächlich der Druck von der Straße verantwortlich, der sich meist an konkreten Auswirkungen der strikt neoliberalen Wirtschaftspolitik entzündete. Der Rücktritt des bolivianischen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada, der Mitte Oktober nach wochenlangen Demonstrationen, Straßenblockaden und blutigen Konfrontationen Amt und Land Richtung Miami verließ, war hierfür nur das jüngste, sicher nicht das letzte Beispiel.
Anders als Mexiko oder Brasilien, die über wettbewerbsfähige industrielle Potenziale verfügen, sind die Andenländer mit ihren vergleichsweise kleinen Binnenmärkten lediglich als Rohstofflieferanten und Agrarproduzenten in den Weltmarkt integriert. Die Ökonomie Venezuelas mit einem BIP (2003) von 72 Mrd. Dollar hängt am Öl. Damit wurden 2002 knapp 25 Mrd. Dollar oder 85% der Exporteinnahmen erzielt.
In Venezuela lagern 50% der Gasvorkommen sowie zwei Drittel der nachgewiesenen Erdölreserven Lateinamerikas, wobei der Subkontinent über ebenso viele Ölvorräte verfügt, wie Europa, die USA und die frühere UdSSR zusammengenommen. Die Ölindustrie ist noch verstaatlicht; das Unternehmen PdVSA ist einer der größten staatlichen Ölkonzerne weltweit. Das politische Ringen in Venezuela ist nicht zuletzt ein Kampf um die Kontrolle des staatlichen Ölkonzerns. Es geht darum, wer wie viel und wofür aus den Kassen des größten Devisenbringers entnehmen kann. Während Präsident Chávez einen starken Staatskonzern als Wirtschaftslokomotive mit seinen Gefolgsleuten an der Spitze will, spricht sich die Opposition, selbstverständlich unter dem Beifall potenzieller ausländischer Investoren, für eine Teilprivatisierung und die Einbindung von Auslandskapital aus.
In Bolivien (BIP 2003: 7,5 Mrd. Dollar) geht es um Gas. Hier befinden sich 10% der Gasreserven Lateinamerikas. Die Vorkommen wurden 1997 per Präsidentendekret zu einem Spottpreis (2—3% des derzeitigen Weltmarktpreises oder 4% dessen, was die brasilianische Petrobras für bolivianisches Gas zahlt) einem US-geführten Konsortium übereignet und sollten via Chile außer Landes fließen. Während die Eigentumsüberschreibung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion noch ohne größeren Widerstand über die Bühne ging, entzündete sich an der geplanten Pipelineführung der Volkszorn. Dabei mischten sich soziale und nationale Argumente und mündeten im Rücktritt des Präsidenten, in der Forderung nach Rückabwicklung des Verkaufs sowie in einem Referendum.
Rohstoffabbau und -verarbeitung bieten jedoch nur kleinen Segmenten der ökonomisch aktiven Bevölkerung qualifizierte Arbeitsplätze. Da sonstige Industriearbeitsplätze fehlen, bleiben nur zwei Einkommensquellen: die Landwirtschaft (meist Subsistenzwirtschaft) und in der Stadt der informelle Sektor mit Kleinhandel und billigen Dienstleistungen.

Neue Akteure

Mittlerweile kristallisieren sich in einigen Andenländern (aber nicht nur dort) hinsichtlich der Zusammensetzung der politischen Akteure und des Kräfteverhältnisses neue Tendenzen heraus. In Venezuela kann Präsident Hugo Chávez seine Parlamentsmehrheit halten, in Bolivien stellt die MAS (Bewegung zum Sozialismus), die Evo Morales ursprünglich als parlamentarische Interessenvertretung indianischer Kokapflanzer gegründet hatte, die zweitgrößte Fraktion im Parlament, und in Ecuador zogen die indianische Bewegung Pachakutik und andere linksoppositionelle Kleinparteien ebenfalls gestärkt in den Kongreß. Daneben haben die sozialen Bewegungen neuen Aufschwung erfahren.
Bei allen Unterschieden im Einzelnen weisen sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Es handelt sich um klassenübergreifende Bewegungen mit unklarer politisch-ideologischer Ausrichtung. In der Regel entstehen sie um konkrete, auch kurzfristige Forderungen und weisen eine Rhetorik auf, in der sich das Verlangen nach mehr nationaler Souveränität mit dem nach mehr sozialer Verantwortung des Staates mischt. »Die Globalisierung« und die internationalen Finanzinstitutionen werden als Haupt- oder Mitverantwortliche für die eigene schlechte Lage bezeichnet. Anders als in den 70er und 80er Jahren werden diese Bewegungen nicht von marxistisch inspirierten Mittelschichtangehörigen geführt, sondern von Vertretern lokaler oder regionaler Interessenverbände, Repräsentanten von Armenvierteln und vielfach von Indígenas.
Sie entstehen oft dann, wenn auf einem bestimmten Gebiet kollektive Grundbedürfnisse verteidigt oder erstritten werden sollen. Die jüngsten Zusammenstöße in Bolivien weiteten sich erst dann zum Präsidentensturz aus, als die Einwohnerschaft der Elendsgroßstadt El Alto, die zu 95% aus indianischen Binnenmigranten besteht, in den Konflikt zwischen Straßenblockierern und Armee eingriff. Ursprünglich hatte man in El Alto »nur« kommunale Dienstleistungen verlangt und die Zahlung einiger kommunaler Abgaben verweigert.
Das Gros der Chávez-Anhänger in Venezuela sind ebenfalls Bewohner von Armen- und Elendsvierteln, die sich primär um konkrete soziale Alltagsforderungen herum organisieren. Diese, vorwiegend Schwarze und Farbige, wollen darüber hinaus verhindern, dass Chávez gestürzt wird. Umgekehrt halten die weißen Eliten sowie ein Großteil der weißen Mittelschichten Abstand zu diesen Bewegungen (so in Bolivien) oder stellen sich gegen sie (wie in Venezuela).
Auch die Arbeitslosenbewegung »Piqueteros« — eine der Hauptkräfte in der dramatischen politischen Veränderung, die Argentinien seit einigen Jahren durchlebt — ist sowohl hinsichtlich ihrer Zusammensetzung wie auch ihres Agierens eine völlig neuartige Bewegung. Auch hier fällt ins Auge, dass es sich um soziale Gruppen handelt, die sich außerhalb der formellen Ökonomie organisieren (müssen).

Naturressourcen und öffentliche Dienste

Diese wenig strukturierten und heterogenen Zusammenschlüsse waren wiederholt zu großen Massenmobilisierungen im Stande, die jedoch in vielen Fällen nach wenigen Monaten wieder im Sand verliefen. So kam es etwa ausgehend von der »Verteidigung des Wassers«, d.h. einer billigen Grundversorgung durch kommunale Unternehmen, in diesem Jahr in Arequipa, im Süden Perus, zu heftigen Unruhen, die sich an der geplanten Privatisierung entzündeten.
Davor waren im Jahr 2000 in Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens, monatelange Konflikte zwischen einer lokalen Interessensvertretung, der Coordinadora del Agua, und einem internationalen Investorenkonsortium gar zu einem »Krieg um das Wasser« eskaliert. Nach Straßenblockaden, Streiks und allgemeinen Unruhen, die mehrere Tote und viele Verletzte kosteten, fiel nicht nur die geplante Preiserhöhung aus, auch die Privatisierung wurde zurückgenommen. Allerdings ist die Wasserversorgung weiterhin mangelhaft, die sie betreibenden öffentlichen Unternehmen sind defizitär, unterfinanziert und wenig effizient.
Auch der »Krieg um das Gas« in Bolivien oder der massive Widerstand von Hugo Chávez und seiner Anhängerschaft gegen die Privatisierung der staatlichen Ölgesellschaft PdVSA fällt in diese Kategorie von Kämpfen, die sich gegen die Privatisierung von Naturressourcen wenden. Vergleichbare Bewegungen in anderen Ländern Lateinamerikas wenden sich ebenfalls gegen die Privatisierung von Wasser, Erdöl oder der Stromproduktion.
Das große Problem ist, dass es sich in der Regel um defensive Ansätze und heterogen zusammengesetzte Verhinderungskoalitionen handelt. Die öffentlichen Unternehmen genießen ja vielfach zu recht einen schlechten Ruf. Sie erbringen schlechte Dienstleistungen für zu teures Geld und sind korrupt. Mit Ausnahme einiger lokaler bzw. regionaler Ansätze fehlen jedoch bisher positive Strategien, wie diese Sektoren modernisiert werden können.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht ganz überraschend, dass staatszentrierte Forderungen, wie sie etwa die Debatte populistischer und teilweise sozialdemokratischer bzw. moskauorientierter Kräfte in den 40er, 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts prägten, wieder aus der Klamottenkiste geholt werden.
In der Rhetorik des bolivianischen Oppositionsführers Evo Morales finden sich deutliche Anleihen aus diesem Fundus, ganz ähnlich ist es bei Hugo Chávez in Venezuela. Hier handelt es sich m.E. um personenfixierte und tendenziell autoritär strukturierte Bewegungen mit verschwommenen Inhalten.
Als anderes Modell steht vor allem Brasilien zu Verfügung. Dort ist es die Verknüpfung verschiedener Gesellschaftsschichten, politischer Teilelemente, die sich auch widersprechen können, sozialer Bewegungen, Intellektueller und der PT, die gesellschaftliche Experimente ermöglicht. Wie weit diese tragen oder inwieweit der vorauseilende Gehorsam gegenüber dem internationalen Finanzkapital und den nationalen ökonomischen Eliten ernsthafte Reformen vereiteln, müssen die kommenden Jahre zeigen.

Albert Sterr

Albert Sterr ist Lateinamerikaexperte und Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien von ihm in Zusammenarbeit mit Dieter Boris FOXtrott in Mexiko. Demokratisierung oder Neopopulismus? im Neuen ISP Verlag (siehe S.21).



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