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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 20

Jüdisches Überleben in Weißrussland

Projektgruppe Belarus (Hg.), »Existiert das Ghetto noch?«, Berlin: Assoziation A, 2003, 319 S., 15 Euro

Sechs Wochen nach der Bombardierung der Stadt Minsk wurde 1941 der Befehl zur Errichtung des Ghettos erteilt. »Das Gebiet des Ghettos umfasste ein paar Straßen und Nebengassen in der Altstadt, die mit Stacheldraht umzäunt wurden. Dort standen hauptsächlich alte Holzhäuser. Die Fläche des Ghettos war nicht groß: etwa 900 mal 800 Meter, trotzdem wurden dort fast hunderttausend Juden hineingepresst. Die Enge war unerträglich, in jedem Zimmer hausten 15—20 Menschen«, so erzählt der Arzt Felix Lipski.
Das Buch lässt zwölf jüdische Frauen und Männer als Zeitzeugen in Interviews zu Wort kommen. Die Überlebenden erzählen, wie sie als Kinder oder Jugendliche die Zeit im Ghetto oder in Verstecken auf dem Land überlebten. Sie schildern ihren Werdegang nach der Befreiung, ihre schulische, berufliche und familiäre Situation in der Nachkriegszeit, berichten über ihre psychische Situation und ihr Engagement in sozialen Organisationen.
Bis zum Krieg bestand eine gute Nachbarschaft zwischen der russischen und der jüdischen Bevölkerung. Mit dem Umzug ins Ghetto 1941 ändert sich die Situation schlagartig. Durch die Isolation von der Mehrheitsbevölkerung kommt es zu einem feindlichen Verhalten gegenüber den jüdischen Ghettobewohnern und Verleugnung der ursprünglich guten Beziehungen.
Neben den »Erinnerungen« bietet das Buch weitere Beiträge zum Ausmaß der Vernichtungspolitik durch die Nazis, zum jüdischen Widerstand in eigenen Partisanengruppen, aber auch zu den deutschen Wirtschaftsinteressen im Osten zwischen Eroberungspolitik und Völkermord. Ein Beitrag beschäftigt sich mit der justiziellen Aufarbeitung der NS- Verbrechen. Es wird ein kurzer Überblick über die historische Entwicklung gegeben, die das gesellschaftliche und politische Leben der Juden prägte.
Die jüdische Bevölkerung hatte in Weißrussland eine lange Tradition. Sie war seit den 20er Jahren in der Belorussischen Sowjetrepublik ebenso wie Weißrussen und Polen am Staats- und Parteiaufbau beteiligt. Juden waren sowohl im Staatsapparat als auch in öffentlichen Einrichtungen aktiv. Die europäischen Antisemiten konstruierten eine »jüdisch- bolschewistische« Verschwörung — Klischees, die heute noch bedient werden.
Vor dem Krieg lebten in Minsk rd. 71000 Juden, das war ein Bevölkerungsanteil von etwa 30%. Allein hier werden über 60000 Jüdinnen und Juden ermordet.
Von 1944 bis 1953 haben sich die Juden, die Krieg und Verfolgung überlebt hatten, aktiv am Wiederaufbau beteiligt. Sie spielen bis 1949 eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft und im Bildungswesen, in Wissenschaft und Forschung sowie in der Kunst. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keinen ausgeprägten staatlichen Antisemitismus, und doch werden ihre in den Jahren 1937/38 geschlossenen und zerstörten jiddischen Schulen nicht wieder aufgebaut und die wenigen Synagogen nicht wieder geöffnet. 1949 wird die antijüdische Agitation durch Beschlüsse des 19.KPdSU-Parteitags angeheizt, in deren Folge jüdische Einrichtungen, Zeitschriften, Verlage und Künstlerverbände aufgelöst werden. Jüdische Künstler werden verhaftet und verurteilt. Ihnen allen wird mangelnder Nationalismus und die Verbreitung bourgeoiser Ideen vorgeworfen. In dieser Zeit werden auch Mitglieder des Jüdischen Antifakomitees verhaftet und Schweigen breitet sich über die Judenverfolgung und den Beitrag der Juden am Sieg über Deutschland aus. Mit dem Fall der Sowjetunion und der Gründung selbstständiger Staaten wird dieser Teil der Geschichte neu aufgerollt. Jüdische Überlebende können nun offen über ihre Situation nach 1944 sprechen.
Es ist das Verdienst der vorwiegend jüngeren Historiker, dieses dunkle Kapitel intensiv recherchiert und aufgearbeitet zu haben. Damit wird mündlich überlieferte Geschichte zu einem wichtigen Hilfsmittel, um den Zugang zu Vergangenem zu erschließen und die historische Forschung zu unterstützen.

Larissa Peiffer-Rüssmann

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