SoZ Sozialistische Zeitung |
Wir nannten ihn Ritchie, den mumienalten Englisch- und Geschichtslehrer Richard W. am protestantischen Gymnasium in den
endsechziger Jahren. Er nannte uns, die Rote Schülerzelle, »subversive rats«. Ritchie hatte eine pädagogische, old-britische
Lebensregel, die er uns gern hören und spüren ließ: »repetition is the mother of all wisdom«. Dem zum Trotz haben wir uns dann
doch weniger der Wiederholung als dem Neuen, weniger der Gleichförmigkeit als dem Bruch und weniger der Bestätigung als der Entfremdung
gewidmet. Ritchie sei Dank.
Seit einigen Jahren schon nimmt unser Kuriositäten geschultes Auge eine linke
Monatszeitung zur Kenntnis, die vor kurzem sogar mit dem neuen Untertitel »Sozialistische Zeitung« ihren Anspruch auf Wettstreit mit diesem
unserem Heimatblättchen anmeldete. Sie wird von der britischsten der deutschen linken Organisationen, der Sozialistischen Alternative SAV,
herausgegeben und sie lässt uns immer an Ritchie und seine Weisheit denken. Die Zeitung ist ein einziges papiernes Déjà-vu-
Erlebnis. Wie alle Zeitungen besteht sie optisch aus mehreren Artikeln, die durch große und kleine Schrifttypen von einander abgegrenzt sind. Dem Design
nach entspricht das Seitenbild den Tafeln, die der Augenarzt für den Sehtest benutzt. Aber sie sieht Monat für Monat völlig gleich aus. Sie
beginnt mit »Für einen 24-stündigen Generalstreik« und endet mit »Für den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei«.
Dazwischen liegen ebenso nahezu identische Buchstabenreihen. Monat für Monat. Und wer nur ein einziges Exemplar in die Hand bekommt, erlebt nichts
anderes: die Zeitung sieht von vorn und hinten gleich aus und ist von merkwürdiger Symmetrie, egal wie herum sie gehalten wird. Sie beginnt mit
»Für einen 24-stündigen Generalstreik« und endet mit »Für den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei«. Und wer jetzt
ein bolschewistisches Murmeltiertagssyndrom fürchtet und nur irgendeinen Artikel anschaut, erlebt nichts anderes. Jeder Artikel gleicht dem anderen und
beginnt mit »Für…« und endet mit »Für…«.
Nun haben wir weder etwas gegen einen Streik der Generäle noch gegen einen
Generalstreik, und was die Länge angeht, fragen wir höchstens frei nach Teufels Fritz »Dürfens auch zwei Tage sein?«
Und wenn die »neue Arbeiterpartei« wirklich die »alten« im Hegel-Marxschen Doppelsinne aufhebt und zudem noch
genügend Platz für die Arbeiterinnen bietet, hätten wir auch gegen sie nichts einzuwenden. Was aber soll die badezimmerkachelgleiche
Propagandaform dieser Zeitung? Begrenzt des Texters Software die Anzahl seiner Textbausteine? Ist es Agitprop für legosteinverwöhnte Kids? Ist
es etwa Ritchies pädagogische Weisheit? Or is it British?
Ritchie mochte damals nichts weniger als Störungen. Ein Pieps der subversiven Ratte
löste in der Regel das komplette Arsenal an Gegenwaffen aus. Manchmal, vielleicht auch als Beweis echten Leserlebens bewusst platziert, wird in der
SAV-Zeitung ein Leserbrief veröffentlicht. Und dann passiert das in extenso, wogegen wir uns seit Schülerzeitungszeiten mit diversen Redakteuren
und Redaktionen gefetzt haben: es gibt eine »Antwort der Redaktion« auf den Leserbrief, doppelt bis dreifach so lang, belehrend und mit der
Mentalität des Entstördienstes geschrieben. Wir haben in dieser Angelegenheit intensive Studien betrieben und sind uns ganz sicher: immer dann,
wenn die Redaktionen der Parteizeitungen aufgaben, die Leserbriefe zu »beantworten«, gab es Aufschwünge im Kampf um eine neue
Arbeiterpartei. Die Solidarität Sozialistische Zeitung der SAV schmust deshalb in jeder Hinsicht mit der Gefahr, nicht die mother of all wisdom zu
sein, sondern the father of old disaster.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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