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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 22

Ritchies Weisheit

Kolumne von Thies Gleiss

Wir nannten ihn Ritchie, den mumienalten Englisch- und Geschichtslehrer Richard W. am protestantischen Gymnasium in den endsechziger Jahren. Er nannte uns, die Rote Schülerzelle, »subversive rats«. Ritchie hatte eine pädagogische, old-britische Lebensregel, die er uns gern hören und spüren ließ: »repetition is the mother of all wisdom«. Dem zum Trotz haben wir uns dann doch weniger der Wiederholung als dem Neuen, weniger der Gleichförmigkeit als dem Bruch und weniger der Bestätigung als der Entfremdung gewidmet. Ritchie sei Dank.
Seit einigen Jahren schon nimmt unser Kuriositäten geschultes Auge eine linke Monatszeitung zur Kenntnis, die vor kurzem sogar mit dem neuen Untertitel »Sozialistische Zeitung« ihren Anspruch auf Wettstreit mit diesem unserem Heimatblättchen anmeldete. Sie wird von der britischsten der deutschen linken Organisationen, der Sozialistischen Alternative — SAV, herausgegeben — und sie lässt uns immer an Ritchie und seine Weisheit denken. Die Zeitung ist ein einziges papiernes Déjà-vu- Erlebnis. Wie alle Zeitungen besteht sie optisch aus mehreren Artikeln, die durch große und kleine Schrifttypen von einander abgegrenzt sind. Dem Design nach entspricht das Seitenbild den Tafeln, die der Augenarzt für den Sehtest benutzt. Aber sie sieht Monat für Monat völlig gleich aus. Sie beginnt mit »Für einen 24-stündigen Generalstreik« und endet mit »Für den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei«. Dazwischen liegen ebenso nahezu identische Buchstabenreihen. Monat für Monat. Und wer nur ein einziges Exemplar in die Hand bekommt, erlebt nichts anderes: die Zeitung sieht von vorn und hinten gleich aus und ist von merkwürdiger Symmetrie, egal wie herum sie gehalten wird. Sie beginnt mit »Für einen 24-stündigen Generalstreik« und endet mit »Für den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei«. Und wer jetzt ein bolschewistisches Murmeltiertagssyndrom fürchtet und nur irgendeinen Artikel anschaut, erlebt nichts anderes. Jeder Artikel gleicht dem anderen und beginnt mit »Für…« und endet mit »Für…«.
Nun haben wir weder etwas gegen einen Streik der Generäle noch gegen einen Generalstreik, und was die Länge angeht, fragen wir höchstens frei nach Teufels Fritz »Dürfen‘s auch zwei Tage sein?« Und wenn die »neue Arbeiterpartei« wirklich die »alten« im Hegel-Marx‘schen Doppelsinne aufhebt und zudem noch genügend Platz für die Arbeiterinnen bietet, hätten wir auch gegen sie nichts einzuwenden. Was aber soll die badezimmerkachelgleiche Propagandaform dieser Zeitung? Begrenzt des Texters Software die Anzahl seiner Textbausteine? Ist es Agitprop für legosteinverwöhnte Kids? Ist es etwa Ritchies pädagogische Weisheit? Or is it British?
Ritchie mochte damals nichts weniger als Störungen. Ein Pieps der subversiven Ratte löste in der Regel das komplette Arsenal an Gegenwaffen aus. Manchmal, vielleicht auch als Beweis echten Leserlebens bewusst platziert, wird in der SAV-Zeitung ein Leserbrief veröffentlicht. Und dann passiert das in extenso, wogegen wir uns seit Schülerzeitungszeiten mit diversen Redakteuren und Redaktionen gefetzt haben: es gibt eine »Antwort der Redaktion« auf den Leserbrief, doppelt bis dreifach so lang, belehrend und mit der Mentalität des Entstördienstes geschrieben. Wir haben in dieser Angelegenheit intensive Studien betrieben und sind uns ganz sicher: immer dann, wenn die Redaktionen der Parteizeitungen aufgaben, die Leserbriefe zu »beantworten«, gab es Aufschwünge im Kampf um eine neue Arbeiterpartei. Die Solidarität — Sozialistische Zeitung der SAV schmust deshalb in jeder Hinsicht mit der Gefahr, nicht die mother of all wisdom zu sein, sondern the father of old disaster.

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