SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2004, Seite 24

Kinder, die sterben —
Kinder, die töten

Leah Tsemel über Kinder im Nahostkrieg

Meine Eltern verließen Europa kurz vor dem Völkermord — bei dem der größte Teil meiner Familie umkam. Sie gelangten in die Region, die damals Palästina hieß, und die wir Israel nennen, um mir ein besseres Leben und die Sicherheit eines Staates zu bieten. Fast 60 Jahre später kann ich nicht sagen, dass sie damit Erfolg gehabt hätten, ganz im Gegenteil. All jene, die den Staat Israel aufbauen wollten, scheinen nicht verstanden zu haben, dass man auf Unterdrückung keine neue Zukunft errichten kann. Seit dreißig Jahren verteidige ich nun Palästinenser vor israelischen Gerichten, und es ist mir trotz hartnäckiger Bemühungen nicht gelungen, den Richtern diese elementare Wahrheit klar zu machen. Die Lage verschlechtert sich unaufhörlich, und wenn ich im letzten Jahr einen Schritt nach vorn gemacht habe, bin ich zwei zurück gegangen.
Der Schriftsteller David Grossman spricht von sprachlichem »Recycling«. Aus »Besatzung« wird »Befreiung«, aus »Kolonisierung« »friedliche Ansiedlung«, aus »Mord« »gezielte Tötung«... Dieser Versuch, Verbrechen zu verschleiern, wird auf der Seite der Palästinenser mit einer Radikalisierung der Sprache beantwortet. Früher sprachen meine Klienten in Jerusalem von »Soldaten« oder von »Siedlern«, jetzt aber verwenden sie diese Worte nicht mehr. Sie sagen einfach Elyahud, die Juden: »Die Juden haben meinen Ausweis eingezogen«, »die Juden haben mich geschlagen«, »die Juden haben zerstört…« Dass der Staat Israel so zum Repräsentanten aller Juden in der Welt wird, erschreckt mich, denn alle Juden werden sich nicht mit dem Bild des Soldaten, des Polizisten oder des Siedlers identifizieren wollen.
Das palästinensische Kind, dass von Elyahud spricht, um die Uniformträger zu bezeichnen, ist dabei, den Weg des Fanatismus zu gehen. Aber ein Fanatismus desselben — religiösen — Typs tritt verstärkt auch auf jüdischer Seite auf. Auf den Mauern unserer Städte kann man auf Hebräisch lesen: »Araber raus!« oder »Tod den Arabern!« Und unsere Regierung diskutiert offen so über Yasser Arafat, den gewählten Präsidenten der Palästinenser: »Sollen wir ihn töten, oder deportieren, oder sollen wir zur Wahl eines anderen Präsidenten aufrufen, der so schwach ist, dass wir von ihm bekommen, was wir wollen?«
Die Hauptopfer der Besatzung und der Unterdrückung sind natürlich, auf beiden Seiten, die Kinder. Die vor 1948 unter britischem Mandat erlassenen Gesetze sind heute noch gültig. Sie erlauben jeder Besatzungsmacht die Anwendung von Kollektivstrafen.
Vor kurzem habe ich einen Prozess verloren. Ich hatte versucht, gegen die Zerstörung des Hauses eines jungen Palästinensers vorzugehen, der bei einem Militärcamp einen Selbstmordanschlag begangen hatte, bei dem acht Menschen getötet wurden. Das (britische) Mandatsgesetz verlangt, dass das Haus eines Attentäters zerstört wird. Als ich die Familie darüber informierte, dass ich den Prozess verloren hatte, sagte mir die Mutter des jungen Mannes: »Ich wusste, dass es keine Hoffnung gab, deshalb haben wir vor Stunden das Haus verlassen.«
Oft geht die Armee ohne Vorwarnung vor. »Sie haben fünf Minuten, um von hier zu verschwinden.« Alles wird zerschlagen, auch die Möbel und die persönlichen Habseligkeiten. Manchmal habe ich diese Familien gefragt, was sie mitnehmen, wenn sie nur noch wenige Minuten zur Verfügung haben. Ihre Antwort: »Die Schulzeugnisse der Kinder.« Was für ein Optimismus!
Die Kinder, die Brüder oder die Schwestern der palästinensischen Terroristen, sind für ihr Leben gezeichnet. Unter der militärischen Besatzung haben sie nicht das Recht, das Land zu verlassen, von einer Stadt in die andere zu ziehen, anderswo ihr Studium zu beenden, ihre Angehörigen im Gefängnis zu besuchen. In den letzten Jahren werden die Familien mutmaßlicher Terroristen zur Strafe deportiert. Seit dem Beginn der neuen Intifada wurden alle palästinensischen Städte und Dörfer abgeriegelt oder unter Sperrfeuer genommen, israelische Panzer betreten und verlassen diese Orte nach Belieben. Die palästinensischen Kinder gehen einem neuartigen Sport nach: Sie erklettern Hügel und alle von den Israelis errichteten Hindernisse, welche die Passage von einem Ort zum andern verhindern sollen. Wenn diese Disziplin zum Programm der Olympischen Spielen gehörte, würden die Palästinenser darin die Goldmedaille gewinnen…
Ariel Sharon errichtet zwischen Israel und Palästina einen »Sicherheitszaun«, der nicht dem Verlauf der Grenzen von 1967 entspricht. Es handelt sich um eine Mauer, die eine Form der Apartheid zwischen der jüdischen und der palästinensischen Bevölkerung schafft, indem sie die Palästinenser isoliert; das noch nicht von den jüdischen Siedlern konfiszierte palästinensische Land soll auf diese Weise unter die Kontrolle des israelischen Staates kommen.

Der Anblick der Mütter, die auf Schranken und Mauern klettern, wirkt lächerlich, aber die Anzahl tragischer Vorfälle nimmt zu: Jüngst hinderten junge israelische Soldaten eine kurz vor der Entbindung stehende junge Palästinenserin daran, eine Sperre zu passieren; das Baby starb dadurch. Unterdrückung und Demütigung lasten zunehmend schwerer. Um sein Kind behandeln zu lassen, braucht ein Vater aus einem Dorf bei Ramallah Stunden, bis er ein Krankenhaus erreicht. Und welche Demütigung hat dieser Patriarch in den Augen seiner Angehörigen zu erleiden, wenn er die Soldaten an den Schranken anflehen muss, ihn durchzulassen? Welches Bild werden die Kinder von ihren Eltern haben?
Ganz zu schweigen von dem Mord an dem Zehnjährigen, der an einer Sperre am Rande von Jerusalem von einem Soldaten getötet wurde, weil er einen Stein nach ihm geworfen hatte; oder von dem israelischen Flugzeug, das über Gaza eine Tonnen schwere Bombe abgeworfen hatte, die 16 Kinder tötete… Der kleine Mohammed Al-Dura, der vor drei Jahren tot in den Armen seines Vaters lag, ist nicht ein Symbol, sondern alltägliche Erfahrung.
Die ungeheure Tragödie liegt zum Teil darin, dass die beiden Nationen sich so ähnlich sind. Einem europäischen Freund, der mich fragte, wie denn die Soldaten Juden von Arabern unterscheiden könnten, wo sie sich doch alle gleich sehen, habe ich geantwortet, was ich habe sagen hören: »Der Soldat schaut der Person direkt in die Augen, und wenn sie jüdische Augen hat, dann ist sie gewiss ein Araber.«
Einmal habe ich an der Grenze zwischen Ost- und West-Jerusalem 150 Palästinenser eines bestimmten Alters in einem Garten versammelt gesehen. Sie kamen aus dem Westjordanland und hatten keine Genehmigung. Ich war sicher, als Frau, Weiße, Jüdin und Anwältin, alles regeln zu können, und so habe ich versucht einzugreifen. Die Soldaten hatten die Batterien ihrer Mobiltelefone eingezogen und ihnen befohlen, nicht zu sprechen. Sie blieben schweigsam und ich fühlte mich schlagartig dumm, denn sie begriffen die Situation besser als ich: Sie wussten, dass es sie teuer zu stehen kommen würde, mir zu antworten, und dass ihnen mein Eingreifen… gar nichts nützen würde. Die Willkür wiegt schwerer als das Rechtssystem, das ich repräsentiere. Ich dachte an Primo Levi und sagte mir, wie glücklich er sich schätzen kann, dass er nicht erlebt hat, wie andere von Juden unterdrückt werden.
Golda Meir hat gesagt, die schnelle Zunahme der palästinensischen Bevölkerung verursache ihr Alpträume. Damit hat sie Empörung ausgelöst, zu Recht. Am 29.August hat die Knesset einen Gesetzentwurf verabschiedet, wonach dem bei einer »Heirat zwischen einem Israeli und einer Palästinenserin aus den besetzten Gebieten die Ehefrau nicht das Recht hat, nach Israel zu kommen, und jedes Kind, das aus dieser Verbindung hervorgeht und nicht im Jahr seiner Geburt angemeldet wird, nicht in das israelische Register aufgenommen wird«. Wir versuchen mit all unseren Kräften, diese rassistische Politik der Aussonderung zu bekämpfen.

Wie soll man nicht an die Selbstmordattentäter denken? Das sind Kinder. Ich kenne die, welche nicht tot sind, und ich kenne die, welche tot sind. Täuschen wir uns nicht: Sie wählen den Tod nicht wegen der 70 Jungfrauen, die man ihnen versprochen hat, sind sie erst shahid geworden, und auch nicht, weil man ihnen das Gehirn gewaschen hätte. Wenn sich diese jungen Menschen aus allen Altersgruppen freiwillig entscheiden zu sterben, dann weil sie eine ungeheure Verzweiflung verspüren: Sie haben das Gefühl, sehr wenig zu verlieren und einigen Ruhm gewinnen zu können. Was kann man über eine Gesellschaft wie die palästinensische sagen, die Kinder hervorbringt, die zu sterben bereit sind, oder über eine Gesellschaft wie die unsrige, die eine geheime Gruppe von Siedlern hervorbringt, die imstande ist, in Jerusalem ein Auto mit einer Sprengladung neben einer Schule für palästinensische Mädchen zu platzieren?
Kinder zu töten ist eine Obsession! Seit der letzten Intifada haben 700 Palästinenser und Israelis, jünger als 16 Jahre, ihr Leben verloren. In den letzten drei Jahren haben die israelische Armee und die Siedler zusammen 382 palästinensische Kinder getötet; 79 jüdische Kinder sind tot. Ein israelisches Kind in Israel zu sein, ist ein Alptraum. Du hast Angst den Bus zu nehmen, auf den Markt oder zu einem Freund zu gehen. Und wenn du irgendwo reingehst, wirst du von Wächtern durchsucht. Und es gibt dieses fürchterliche Amalgam, gegen das ich mich empöre, das die Erinnerung an den Genozid (»Wir sind immer Opfer gewesen«) mit der neuen israelischen »Opferideologie« vermengt (»Wir sind Opfer, denn die Palästinenser töten uns«).
Dieser Vergleich ist nicht akzeptabel: In der Vergangenheit waren wir Opfer, aber derzeit sind wir es, die andere zu Opfern machen. Nach 36 Jahren Besatzung spricht eine zweite Generation von Siedlern in den besetzten Gebieten im Namen der Bibel: »Wie kann man uns aus unserer neuen Heimat fortreißen?« Unmittelbar nach 1967 fragten sich die jungen Soldaten: »Haben wir das Recht, das Land eines anderen Volkes zu erobern?« Heute stellt kaum noch einer Fragen. Alle jungen Soldaten sind vergiftet. Es gibt keinen einzigen, der nicht an einer Sperre Posten gestanden, nicht einen einzigen, der nicht einmal mitten in der Nacht eine Familie aufgeweckt hätte, um jemanden zu verhaften.

Eine kleine Minderheit, deren Reihen allmählich größer werden, weigert sich, in den besetzten Gebieten Militärdienst zu leisten. Mehr und mehr Israelis sagen sich: »Ich will da nicht reingezogen werden.« Eine weitere Hoffnung erwächst aus den heldenhaften palästinensischen Eltern, die trotz der Besatzung ihre Kinder nicht Hass lehren, die sich weigern, alle Israelis als Dämonen zu betrachten, die ihren Kindern beibringen, dass es unter Israelis unterschiedliche Auffassungen gibt und dass sie die Menschen nach ihren Taten und nicht nach ihrer Herkunft beurteilen sollen.
Diesen palästinensischen Müttern möchte ich sagen: »Habt Geduld, eine gegenseitige Anerkennung ist möglich, wir haben bereits die der PLO erreicht. Gegenwärtig gibt es in der Welt — und das war 1967 nicht so — einen Konsens für die Schaffung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels. Bahnt der nächsten Generation den Weg, denn die Zukunft trägt eine Verheißung.«
Die israelischen Mütter, die für den Frieden streiten, möchte ich daran erinnern, dass sie einen Krieg schon gewonnen haben, und dass sie weitermachen müssen. Die Organisation der Vier Mütter — eine Bezugnahme auf die Mütter der Bibel — hat bereits den Rückzug der israelischen Armee aus dem Libanon erreicht. Eine weitere Organisation, die der Frauen in Schwarz, demonstriert seit zwanzig Jahren jede Woche gegen die Besatzung. Ich sage ihnen: »Ihr werdet siegen.«
Es gibt auch eine Gruppe israelischer Frauen, welche die Sperren überwachen, an denen Grausamkeiten begangen werden. Sie gehen zu den Soldaten, ihren Kindern, und sagen ihnen, wie auch den Palästinensern: »Wir haben nichts zu tun mit diesem Rassismus, wir sind dagegen.«

Nourit Peled, deren Vater ein hochrangiger General war, setzt sich für den Frieden ein. Ihre Tochter, eine Jugendliche, wurde in Jerusalem bei einem Selbstmordattentat eines palästinensischen Jugendlichen getötet. Sie hat den Frieden gewählt, nicht den Hass. Sie hat eine Organisation geschaffen, die palästinensische und israelische Eltern umfasst, die Opfer des Terrorismus wurden; die Organisation kämpft für den Frieden.
Als sie 2001 den Sacharow-Preis erhielt, erinnerte sie vor dem Europäischen Parlament an Abraham, den mythologischen Vater von Ismael und Isaak und Symbol beider Nationen. Abraham wollte Isaak opfern, um sein Gottvertrauen zu beweisen, aber Gott verbot ihm, seinen Sohn zu opfern, und gab ihm stattdessen einen Widder. Nourit Peleds Fazit: »Wenn wir nicht wollen, dass unser Planet zum Reich der toten Kinder wird, müssen wir unsere Stimme erheben, die Stimme der Mütter, und alle anderen zum Schweigen bringen. Wir müssen erreichen, dass alle die Stimme Gottes hören, der zu Abraham spricht: ›Lege deine Hand nicht an den Knaben…‹.«

Leah Tsemel ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin in Jerusalem. Der vorliegende Artikel beruht auf ihrem Beitrag auf einem Kolloquium über »Kindheit und Menschenrechte« im September 2003 in Venedig.
Aus: Le Monde diplomatique, November 2003 (frz. Ausgabe; Übersetzung: Hans-Günter Mull).



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