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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2004, Seite 8

Gesundheitsreform

Goldgräberstimmung

Die erste Nutznießerin der am 1.1.2004 in Kraft getretenen sog. Gesundheitsreform dürfte die Deutsche Telekom gewesen sein. Jedenfalls standen in den ersten Tagen des Jahres in den Gesundheitsämtern Oberbayerns die Telefone nicht still.
Die Sachbearbeiter wurden mit Anfragen überhäuft, wer nun eigentlich die sog. Praxisgebühr bezahlen müsse und wer nicht. Die daraufhin von Ersteren gestarteten telefonischen Anfragen bei verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen ergaben zweifelsfrei, dass eigentlich niemand so genau wusste, wer nun eigentlich zahlen muss, wer unter die sog. Chronikerregelung fällt (schwer chronisch Kranke zahlen bis maximal 1% des Jahresbruttoentgelts extra, die anderen Kranken bis maximal 2%) und wer befreit ist.
Die Ärzte wussten es offenbar ebenfalls nicht, kassierten nichtsdestotrotz fröhlich drauflos. Einem Familienvater wurden (völlig widerrechtlich) für drei grippekranke Kinder 30 Euro abgenommen, einem Frührentner hingegen von einer Sprechstundenhilfe versichert, er sei befreit, was die Krankenkasse ihrerseits bestritt: Sein chronisches Asthma in Verbindung mit einer insulinpflichtigen Zuckererkrankung führe nur zur Befreiung, wenn er nachweise, dass er mindestens zweimal im Jahr jeweils eine Woche lang deswegen stationär im Krankenhaus behandelt werden müsse.
Besonders elegant zog sich ein Krankenkassenvertreter aus der Affäre, der eine rheumakranke Versicherte am Telefon damit abwimmelte, er könne offiziell ja gar nicht wissen, was für eine Erkrankung sie habe. Eine ganz radikale Methode zur Minderung der Verwaltungskosten haben sich verschiedene Altenheime ausgedacht: Sie kassieren gleich am Jahresanfang sozusagen prophylaktisch die gesamten 2% von ihren Insassen.
Das allgemeine Durcheinander wurde noch von den Augenärzten vermehrt, die nichts Eiligeres zu tun hatten, als die Tatsache, dass es keinen Brillenzuschuss mehr gibt, zum Anlass zu nehmen, ihre Patienten auch für die Sehschärfenbestimmung zur Kasse zu bitten. Zwar widersprach das Gesundheitsministerium, aber der Vorgang ist symptomatisch für die Goldgräberstimmung, die sich ausbreitet.
Der Griff in die Taschen der Versicherten ist ausgiebig: Versicherte und Patienten werden allein im Jahr 2004 mit 8,4 Milliarden Euro zur Kasse gebeten. Das steigert sich bis 2007 auf 11,6 Milliarden Euro. Neben der Erhöhung der Extrazahlungen werden u.a. Zahnersatz, Sterbe- und Entbindungsgeld aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Kassen gestrichen. Erheblich kommen die sog. Leistungserbringer davon.
Kassen, Ärzte, Apotheker und Pharmafirmen müssen zusammen 2004 nur rund 1,5 Milliarden und 3 Milliarden Euro bis 2007 beisteuern. Dabei sind die Regelungen für diese Bereiche erheblich allgemeiner gehalten als die für die Beitragszahler. Außerdem bilden die Streichungen für private wie gesetzliche Kassen ein schönes Zusatzgeschäft. Für die gestrichenen Leistungen bieten sie Zusatzversicherungen an.
Geschäftemacherei kennzeichnet die jetzigen Maßnahmen ebenso wie das, was in den nächsten Jahren folgen wird. Denn um Gesundheit geht es, wenn überhaupt, erst an letzter Stelle. Es geht auch nicht um Kostensenkung. Es geht Politik und Wirtschaft schlicht darum, wer in Zukunft bezahlen soll, oder besser, wer nicht bezahlen soll.
Die sog. Zuzahlungen, die einen immer größeren Anteil an der Gesamtzahlung der Einzelnen für ihre Versorgung im Krankheitsfall ausmachen, werden ja nur von den Versicherten geleistet. Mit jeder Neueinführung bzw. Erhöhung solcher Gebühren sinkt der prozentuale Anteil an den Krankheitskosten, den die Arbeitgeber leisten müssen. (Dieser Sachverhalt hätte schon längst Anlass sein müssen, die Mehrheitsverhältnisse in den Kassengremien, die zu jeweils 50% von Kapital und Versicherten besetzt werden, zu ändern.) Das ganze Geschrei, es gäbe eine Kostenexplosion und die Kassen seien am Ende, dient nur dazu, die wahren Gründe für den Raubzug im Gesundheitswesen zu verschleiern.
♦  An erster Stelle steht dabei die »Kostenentlastung« für das Kapital. Außenminister Fischer hatte im letzten Jahr den Vorschlag gemacht, den Arbeitgeberanteil an der Krankenversicherung einzufrieren. Die jetzige Regelung ist für das Kapital noch komfortabler: Kommt es zur angestrebten Senkung der Kassenbeiträge, profitieren in erster Linie die Arbeitgeber. Denn die Senkung wird aus den zu 100% von den Versicherten aufgebrachten Extrazahlungen finanziert. Das heißt, sie bezahlen unter dem Strich mehr, die Arbeitgeber weniger. Sollten die Beiträge mal wieder zu steigen drohen, kann man ja die Extrazahlungen erhöhen. Das ist mehr, als Fischer für seine Kumpane im Arbeitgeberlager eingefordert hat.
♦  Zweitens wird mit der jetzigen Regelung vermieden, dass die Wachstums- und Zukunftsbranche »Gesundheitsmarkt« allzusehr belastet wird. Die Praxisgebühr und die hohen Eigenanteile bei Medikamenten werden dazu führen, dass die Versicherten statt in die Praxis direkt in die Apotheke gehen. Das wird den Medikamentenkonsum eher erhöhen als reduzieren — kostenneutral für die Versicherungen und lukrativ für die Pharmaindustrie. Aus den USA ist bekannt, dass hohe Selbstbehalte zu verstärkter sog. Selbstmedikation führen, was gesundheitspolitisch höchst problematisch und wirtschaftspolitisch für die Branche hoch erfreulich ist.
♦  Drittens hat die Ausweitung der vom Kassenbeitrag abgekoppelten Zahlungen auch noch einen ideologischen Effekt, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Über ein Jahrhundert Solidarprinzip in der Krankenversicherung ist nicht so einfach aus den Köpfen der Menschen zu tilgen. Deshalb ist die (absehbare und bereits eingeleitete) Abkehr vom Prinzip »Wer viel hat, zahlt für die mit, die wenig haben« nicht so einfach durchführbar. Aber wenn man sich die in den letzten 15 Jahren turnusmäßig wiederholenden »Gesundheitsreformen« genauer ansieht, die jedesmal als der große Befreiungsschlag gepriesen werden, so stellt man fest, dass sie alle eines gemeinsam haben — gleich, ob CDU oder SPD die Regierung stellten: den Abbau der Solidarverfassung und eine zunehmend marktwirtschaftliche Zurichtung des Systems.
Dass dies nach allen Umfrageergebnissen gegen den ausdrücklichen Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung geschieht, die das Solidarprinzip beibehalten möchte, stört weder Ulla Schmidt noch Horst Seehofer. Und da es sich mit der Marktwirtschaft so verhält wie mit der Schwangerschaft — ein bisschen davon gibt es nicht —, fährt der Zug weiter in Richtung Deregulierung des medizinischen Systems.
Da man den »dummen« Bürgern nicht begreiflich machen kann, dass Solidarität in einer Wachstumsbranche nichts zu suchen hat, geht es frei nach dem englischen Motto: ‘Solidarity dies by inches.‘ Die nächste Generation soll möglichst so weit sein, medizinische Leistungen nicht anders zu betrachten als die Erzeugnisse der übrigen Industrie: Es bekommt sie nur, wer sie sich leisten kann.

Arbeitsdienst in neuem Gewand

Einigen Politikern scheint allerdings zu dämmern, dass der verfolgte Kurs zu erheblichen sozialen und damit politischen Schwierigkeiten führen wird. Deshalb sind Herr Steinbrück aus NRW, der abgehalfterte Ministerpräsident Gabriel aus Niedersachsen, Herr Böhmer aus Sachsen- Anhalt und noch ein paar andere aus SPD und CDU auf eine gar nicht so neue Idee verfallen: Sie nehmen die Diskussion um die Abschaffung des Zivildienstes zum Anlass, den Reichsarbeitsdienst unter der Bezeichnung »Soziales Jahr« wiederauferstehen zu lassen.
Damit kann man den kostenträchtigen Pflegeinstitutionen billiges Personal verschaffen, das kaschiert die Jugendarbeitslosigkeit, und man gibt sich einen schönen sozialen Anstrich. Familienministerin Schmidt hält das zwar für verfassungswidrig, und die Grünen fordern Freiwilligkeit für das »Soziale Jahr«, aber der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hat auch dafür eine geniale Lösung: Er will den Zugang zu Schröders zukünftigen Eliteuniversitäten von der Ableistung des sozialen Dienstes abhängig machen.
Und was tun die Gewerkschaften? Fast ein Jahr, nachdem sie in der Rürup-Kommission an der Vorbereitung der heutigen Zustände fleißig mitgearbeitet haben, kommt Frau Engelen-Kefer vom DGB auf die Idee, man könne ja die Pflichtversicherung auf alle ausweiten. Das werden ihre Funktionärskollegen von Ver.di nicht gerne hören, denn die haben die Gelegenheit wahrgenommen, ihren Mitgliedern für die gestrichenen Leistungen brieflich ebenfalls günstige Zusatzversicherungen anzubieten — für eine Gewerkschaft eine eher ungewöhnliche Form der Gegenwehr.

Klaus Engert

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