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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2004, Seite 12

Die Destabilisierung des Stabilitätspakts, oder:

EU-Kapital in der Sackgasse

Durch die Krise des Stabilitätspakts bekommen nationale Interessen in der EU wieder Auftrieb.

In dem Maße, wie die Widersprüche innerhalb der EU zunehmen, setzen sich die Sonderinteressen der Mitgliedstaaten mit dem ihnen jeweils eigenen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen gegenüber dem kollektiven Interesse durch, das von der EU-Kommission verwaltet wird. Darin liegt der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Krise des Stabilitätspakts. Ihr Ausgangspunkt ist die politische und wirtschaftliche Unfähigkeit von Frankreich und Deutschland, die Regel einzuhalten, dass das Haushaltsdefizit eines Landes 3% des Bruttinlandsprodukts (BIP) in keinem Fall übersteigen darf.
Diese beiden Länder vereinigen auf sich über 40% des BIP der Union; sie haben gegenüber der Mehrheit der anderen EU-Regierungen durchgesetzt, dass keine Sanktionen gegen sie verhängt werden, obwohl der Stabilitätspakt sie ausdrücklich vorsieht. Diese Entscheidung hat die Kommission natürlich auf die Palme gebracht, denn ihre Legitimität und Autonomie hängen maßgeblich davon ab, dass sie in der Lage ist, auf die Einhaltung des Pakts zu pochen.
Die Krise hat jedoch nicht nur technische Aspekte; es werden damit die Modalitäten des Aufbauprozesses der EU selbst in Frage gestellt. Man kann sagen, die Nachteile des Euro werden tendenziell wichtiger als seine Vorteile.
Sicher gibt es weiterhin einen Grundkonsens zwischen den europäischen Bourgeoisien über den neoliberalen Kurs und vor allem über die Notwendigkeit, Druck auf die Löhne auszuüben und mehr Wirtschaftsbereiche der Logik der Warenproduktion unterzuordnen — wie die öffentlichen Dienste und die sozialen Sicherungssysteme. Die Haushaltsdefizite in Berlin und in Paris sind deswegen auch nicht das Ergebnis einer sog. keynesianischen Politik der Stärkung der Nachfrage. Sie sind vielmehr das mechanische Resultat des Zusammentreffens einer schlechten Konjunktur und eines dogmatischen Festhaltens an Steuersenkungen zur Entlastung der Reichen.
Mittelfristig will man, mit oder ohne Stabilitätspakt, über den Weg der Senkung der Sozialausgaben wieder zu ausgeglichenen Haushalten kommen — das zeigen das »Reform«programm, das in Deutschland Agenda 2010 heißt, und die Einfrierung der Gehälter der Staatsbeamten in Frankreich.
Die Widersprüche sind nicht allein ökonomischer Art sind: Ob anläßlich der Militärintervention im Irak, oder der Reform der EU-Institutionen — das deutsch-französische Paar tendiert dazu, sich in Gegensatz zum Rest der Union zu stellen. Der Testballon über eine »Union« zwischen den beiden Kernländern weist in dieselbe Richtung und greift ältere Projekte über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten auf. Diese Absonderung hat nichts damit zu tun, dass andere Sozialmodelle verfochten würden; im Gegenteil, die deutsche wie die französische Regierung betreiben eine systematische Politik der Zurücknahme früherer Reformen und der raschen Anpassung an ein neoliberales Standardmodell.
Es geht hier vor allem um eine Rückbesinnung auf nationale Interessen, besser gesagt, um eine nationale Formulierung von Klasseninteressen. Das erschwert die Einigung auf einen Verfassungsentwurf. Selbst wenn jetzt versucht wird, den Entwurf unter allen Bedingungen durchzusetzen, bleibt der Zusammenhalt der europäischen Bourgeoisie stark beschädigt.

Transatlantische Wirtschaft und offener Binnenmarkt

Die EU befindet sich also in der Krise, da empfiehlt es sich, noch einmal auf die Struktur des europäischen Aufbaus zurückzukommen. Anders als bei der deutschen Einigung im 19.Jahrhundert bildet sich die EU nicht durch Addition einer zusätzlichen Nationalökonomie. Jedes der EU- Länder hat bereits Zugang zum Weltmarkt.
Die Phase der Internationalisierung hat Ende der 60er Jahre begonnen; die Bildung des gemeinsamen Binnenmarkts und später die Währungsunion sind nicht Voraussetzungen, sondern Folgen dieser Entwicklung. Es gibt aber ein Ungleichgewicht zwischen der europäischen Basis großer Konzerne und ihrem strategischen Horizont, der auf den Weltmarkt zielt. Der Binnenmarkt war nicht als Ziel, sondern als Ausgangsbasis für größere Unternehmungen gedacht.
Einigen Wirtschaftszweigen erlaubt der Aufbau der EU allerdings die Hervorbringung europäischer »Champions«, ähnliche wie vormals nationale Champions entstanden sind. Diese Orientierung findet man bei Banken und Versicherungen, aber sie ist nicht die vorherrschende Strategie; überwiegend geht die Tendenz dahin, transkontinentale Allianzen zu schmieden, um unmittelbar Zugang zu allen Abteilungen des Weltmarkts zu haben. Die gegenseitige Durchdringung der Kapitale führt zur Bildung einer »transatlantischen Wirtschaft«*; sie hat bereits ein Niveau erreicht, das es schwer macht, von den USA und der EU als von zwei voneinander getrennten und konkurrierenden Blöcken zu sprechen.
* So auch Joseph P. Quinlan, »Drifting Apart or Growing Together? The Primacy of Transatlantic Economy«.
Die großen Konzerne formulieren besondere Ansprüche an den Aufbau der EU, sie haben eigene Vorstellungen davon, wie der Binnenmarkt aussehen soll. Das zeigen auch die Prioritäten, die sie setzen. Man hätte den Binnenmarkt z.B. als einen Markt konzipieren können, der vor der internationalen Konkurrenz geschützt ist. Das politische Ziel wäre dann gewesen, alle internen Hindernisse für die freie Zirkulation von Waren und Kapital aufzuheben, gegenüber dem Rest der Welt aber mehr oder weniger offen Schutzmauern aufzubauen oder zu verstärken. Das französische Beispiel hätte hier als Modell dienen können, weil es stark auf dem Zusammenwirken der öffentlichen Hand und der großen Konzerne aufbaut, damit wäre eine aktive europäische Industriepolitik entwickelt worden.
Offenkundig aber wurde beim Beschluss der Einheitsakte 1986 ein anderer Weg eingeschlagen. Man hat sich nicht damit zufrieden gegeben, die internen »Verknöcherungen« zu beseitigen, man hat sich auch entschlossen, den öffentlichen Dienst der privaten Konkurrenz zugänglich zu machen und dabei keinerlei »europäische Präferenz« einzuführen. Diese Entscheidung passt zu den sehr liberalen Positionen der Kommission, besonders ihrer Generaldirektion Wettbewerb; diese lehnt Industriepolitik und staatliche Intervention in die Industrie prinzipiell ab.
So ist der europäische Binnenmarkt ein in alle Richtungen offener Markt, weil die großen Konzerne, die im Aufbau der EU den Ton angeben, von vornherein den Weltmarkt im Auge haben. So versteht man auch, warum die »soziale Frage« eine gänzlich untergeordnete Rolle spielt: Das Ziel der mächtigsten Sektoren der Bourgeoisie ist ja nicht, eine Union aufzubauen, die tatsächlich in sich strukturiert und ein integriertes Gebilde wäre.
Man kann auch weiter gehen und ernsthafte Zweifel anmelden am realen Nutzen einer gemeinsamen Währung. Wäre es darum gegangen, den europäischen Markt als eine integrierte Einheit aufzubauen, dann wäre eine gemeinsame Währung absolut notwendig gewesen; sie hätte die Schnittstelle einer kompakten Eurozone zum Weltmarkt dargestellt. Da der Binnenmarkt aber als ein offener konzipiert ist, liegt die Notwendigkeit einer gemeinsamen Währung sehr viel weniger auf der Hand.
Ihr hauptsächlicher Vorteil ist zweifellos nicht ihrer monetäre Funktion, sondern dass sie ein außerordentliches Disziplinierungsmittel darstellt. Im Namen der Sachzwänge, die eine gemeinsame Währung erfordert, müssen die öffentlichen Ausgaben und die Löhne eingeschränkt werden. Den Regierungen kam das gelegen, das entsprach ohnehin ihren Absichten. Das Projekt Euro erlaubte, die neoliberalen Regierungsprogramme zusammenzufassen und ihnen eine doppelte Legitimität zu verleihen: im Namen der Wirtschaft und im Namen Europas.

Gemeinsamer Wille fehlt

Jahre später entdeckt man, dass der Stabilitätspakt »töricht« ist, die Bourgeoisien stellen fest, dass sie den Grad ihres Zusammenhalts überschätzt haben. Vom neoliberalen Standpunkt aus ist der Stabilitätspakt perfekt — sieht man von dem kleinen Detail ab, dass er eine Koordination der Wirtschaftspolitik voraussetzt, die von sich aus gar nicht gegeben ist.
Hier liegt bereits ein neues Paradox. Wenn die Haushaltsdefizite in gemeinsamer Währung ausgewiesen werden, lasten sie auf allen Ländern, die den Euro führen; jede Abweichung belastet alle Partner, und zwar in Form höherer Zinsen auf Staatskredite. Vor der Einführung des Euro konnten die Finanzmärkte einen differenzierteren Druck ausüben, indem sie eine Risikoprämie verlangten oder auf den Wechselkurs drückten. Heute ist »Straffreiheit garantiert«, denn der Stabilitätspakt ruht nicht wirklich auf einem gemeinsamen politischen Willen. Deshalb hat er schon dem ersten Sturm nicht standgehalten, einfach weil er nur funktionieren kann, wenn es eine Interessengemeinschaft gibt; die existiert jedoch nicht, und sie kann politisch auch nicht hergestellt werden, weil dazu die institutionelle Zwangsjacke fehlt.
Die verschiedenen Nationalökonomien haben einen unterschiedlichen Grad der Integration in den Weltmarkt; die Resultante der verschiedenen Positionen ergibt noch keine Gemeinsamkeit von Interessen. Die Länder reagieren unterschiedlich empfindlich auf das Verhältnis von Produktivität und Preis; sie sind unterschiedlich gut gerüstet, die weltweite Nachfrage zu befriedigen, mehr oder weniger in der Lage, Kapital anzuziehen. Die nationalen Imperialismen bilden immer noch den Rahmen für die Ausbildung der sozialen Interessen.
Die Drift in der EU wurzelt deshalb im Wesentlichen in verschiedenen wirtschaftsstrategischen Überlegungen. Die Differenzierungslinie wird dabei hauptsächlich von zwei Faktoren gebildet: die Preiselastizität und die Hinnahme der Vorherrschaft der USA. Hier liegt der Grund für die Opposition zwischen dem deutsch-französischen Pol und den anderen großen EU- Ländern, vor allem Großbritannien, Italien und Spanien. Letztgenannte sind weniger auf eine kompakte institutionelle Integration, auf Industriepolitik und strukturelle Wettbewerbsfähigkeit angewiesen; Großbritannien nicht einmal auf den Euro.
Die Polarisierung wiederholt sich auf verschiedenen Feldern, so z.B. in der Frage, wie die Osterweiterung anzugehen ist. Am meisten sticht natürlich der Unterschied in den Stellungnahmen zum Irakkrieg ins Auge; die Differenzen hier decken sich mit den zuvor genannten fast vollständig.

Innerimperialistische Gegensätze

Der Kapitalismus braucht Strukturen für die Weltwirtschaft, die seinem Entwicklungsgang entsprechen. Die Globalisierung stellt diesbezüglich neuartige Anforderungen. Es ist deshalb ganz nützlich, noch einmal die Typologie hervorzukehren, die Ernest Mandel vor etwa 30 Jahren aufgestellt hat. Er unterschied drei mögliche Konfigurationen: Ultraimperialismus, Superimperialismus und die Fortsetzung der innerimperialistischen Konkurrenz.
Der Begriff Ultraimperialismus beschreibt eine Situation, wo »die internationale gegenseitige Durchdringung der Kapitalien so weit fortgeschritten ist, dass die entscheidenden Divergenzen der wirtschaftlichen Interessen zwischen Kapitaleignern unterschiedlicher Nationalität vollständig verschwinden«. Davon sind wir heute weit entfernt.
Superimperialismus beschreibt eine Situation, wo »eine einzige imperialistische Großmacht eine solche Hegemonie innehat, dass die anderen imperialistischen Staaten ihr gegenüber jede reale Autonomie verlieren und zu kleineren halbkolonialen Mächten degradiert werden«. Auf die EU trifft diese Beschreibung offenkundig nicht zu, hingegen trifft sie die Tatsache, dass die USA heute auf verschiedenen Gebieten eine vorherrschende Rolle innehaben: wirtschaftlich, technologisch, diplomatisch und militärisch.
Aber die Vorherrschaft der USA wackelt: Auf ziemlich spektakuläre Weise ist der dominierende Imperialismus kein Exporteur von Kapital, seine Vorherrschaft beruht im Gegenteil auf einem ständigen Zustrom von Kapital aus dem Ausland, das seine Akkumulation finanziert und seine technologische Basis reproduziert. Es ist ein räuberischer, parasitärer Imperialismus, der seinen Vasallen keine stabile Ordnung bieten kann.
Darüber hinaus hat das EU- und US-Kapital einen hohen Grad an (ziemlich gleichgewichtiger) Durchdringung erreicht, es gibt eine echte transkontinentale Kapitalintegration, die eigentlich ein Kondominium der Herrschaft, eine Doppelspitze (G2), erforderlich machen würde (so Caio Koch-Weser, Staatssekretär im Finanzministerium in der Financial Times am 6.10.2003). Um einen so hoch integrierten Wirtschaftsraum zu regulieren, bedürfte es einer gemeinsamen politisch koordinierenden Instanz. Die gibt es aber nicht; die weltweite interimperialistische Kooperation bleibt eine Fata Morgana.
Bleibt die dritte Variante, die innerimperialistische Konkurrenz. Mandel definiert sie so: »Die internationale gegenseitige Durchdringung der Kapitalien ist so weit fortgeschritten, dass eine größere Zahl unabhängiger imperialistischer Mächte durch eine kleinere Zahl imperialistischer Supermächte ersetzt wird; aber sie wird durch die ungleiche Entwicklung des Kapitals so stark gestört, dass das Ziel einer globalen Interessengemeinschaft des Kapitals scheitert.«
Die ungelösten Widersprüche zwischen Europa und Amerika werden deshalb weiterhin auf einer aus den Fugen geratenen Weltwirtschaft lasten.

Michel Husson

Michel Husson ist Ökonom und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Frankreich.
Langfassung des Artikels.



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