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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2004, Seite 17

Mumbai

Ein Forum der Würde

100000 Menschen haben das 4.Weltsozialforum in Mumbai besucht. Damit ist es das bisher größte — trotz der anfänglichen Skepsis, ob es in einem Land mit weniger komfortablen Bedingungen als Brasilien stattfinden könne.

Welche Bedeutung hatte die Entscheidung, das Weltsozialforum in Indien durchzuführen, für die sozialen Bewegungen auf diesem Kontinent? »Das war eine Entscheidung von enormer Tragweite, sie hat hier in Indien ein richtiggehendes Ereignis geschaffen. Sie hat viele von uns gezwungen zu lernen zusammenzuarbeiten, das ist etwas, zu dem wir bisher nicht in der Lage waren. Wir lernen auch, dass Menschen mit verschiedenen Anschauungen und Kulturen sich treffen und gemeinsam handeln können. Und für die Dalit, welche die wahren Sklaven der Globalisierung sind, hat die Tatsache, dass sie hier sein können, enorme Bedeutung.«
Die Dalit, das sind die Unberührbaren, diejenigen, die keiner Kaste angehören, gewissermaßen außerhalb der Menschheit stehen. Sie nennen sich selbst »gebrochene Menschen«. Trotz der progressiven Bestimmungen in puncto Minderheitenrechte in der indischen Verfassung lebt die große Mehrheit von ihnen im Elend. Sie gelten als »unrein«, sind die Ausgestoßenen, die den Dorfbrunnen nicht benutzen und den Tempel nicht betreten dürfen. Die meisten haben keinen Zugang zu Bildung, Gesundheit oder sauberem Wasser. Sie sind besitzlose Landarbeiter oder verdingen sich als Tagelöhner in den Städten. Sie müssen alle als »unrein« geltenden und mit der Berührung von Kadavern, Leichnamen, Blut und Exkrementen verbundenen Arbeiten verrichten. Knapp eine Million Dalit müssen mit bloßen Händen Latrinen säubern.
Die indischen Organisatoren des WSF haben viel Energie darein gesteckt, den Dalit einen prominenten Raum im Sozialforum zu geben. Die Dalit haben dort ein Forum geleitet, auf dem sie ihre Nationale Kampagne für die Menschenrechte vorgetragen haben, die sie Ende 1998 zum 50.Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Menschrechtserklärung gründeten.
Nach Mumbai sind die Dalit auf einem Sternmarsch gekommen — wie weiland die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit und Ausgrenzung nach Amsterdam. Von Kanyakumari an der Südspitze Indiens, von Kolkata im Westen, Jammu im Norden und der Hauptstadt Neu-Delhi sind mehrere hundert Aktive aufgebrochen. Eine Kerngruppe von 200 hat den gesamten Marsch zurückgelegt; Tausende haben sich auf Teilstrecken angeschlossen. Unterwegs hielten sie an die 900 Veranstaltungen ab, auf denen sie über ihre Rechte und über die Gefahren der Globalisierung informierten.
Die Dalit fordern Schutz vor gewalttätigen Übergriffen seitens Angehöriger der Kasten; die Verteidigung ihrer sozialen Rechte gegenüber der Politik der indischen Regierung; die Achtung der Würde der Frauen, die vom Patriarchat und vom Markt negiert wird; das Recht auf eine Zukunft für ihre Kinder. Sie sehen sich als Opfer des Marktes und des Militärs, des kommunitaristischen Sektierertums und des religiösen Fundamentalismus, des Kastensystems und des Patriarchats, und vor allem des chauvinistischen Nationalismus der Kaste der Brahmanen. Sie appellieren an die Solidarität und die Einheit aller demokratischen, laizistischen und sozialistischen Kräfte.
Die Mobilisierung der Dalit, zumal auf dem Land, hat zu wachsender Gewalt gegen sie geführt: ihre Hütten werden in Brand gesteckt, Männer gefoltert und ermordet, Frauen und Töchter vergewaltigt und getötet. Allein im Jahr 2000 wurden offiziell 24000 Gewalttaten registriert, darunter 3000 Morde. 1989 mußte die indische Regierung ein Gesetz dagegen verabschieden, aber es wird nicht befolgt.
Das »Forum der Würde«, das die Dalit auf dem WSF organisert haben, ist ihr erster landesweiter Kongress überhaupt. Die Ironie will es, dass auf dem Forum hauptsächlich die Sprache der alten Kolonisatoren, englisch, gesprochen wird. Eine Übersetzung in Hindi gibt es wohl — aber zu wenig Kopfhörer, um alle damit zu versorgen.
Neben der Anprangerung des Kastenwesens gehörten die Sexsklaverei und der Krieg zu den wichtigsten Themen des Weltsozialforums in Mumbai. Am vorletzten Tag zogen 30000 Sexsklaven und -sklavinnen (darunter 5000 Männer) durch die Straßen von Mumbai und forderten eine Gleichstellung ihrer Arbeit mit konventionellen Dienstleistungen und einen dem entsprechenden Arbeitsschutz.

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