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Ein Jahr nach dem Tode von Ernest Mandel (19231995) veranstalteten Experten ein Kolloquium in Amsterdam,
vornehmlich über die politökonomischen Leistungen des bedeutenden Marxisten. Zugleich würdigten sie den revolutionären
Humanismus als Hauptbeweggrund seines Schaffens sowie seine Erkenntnis, dass gegen Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur um der
Produktivkraftentwicklung willen angegangen werden muss, sondern weil sie inhuman und unwürdig sind. Die Kolloquiumsvorträge sind in
überarbeiteter Form abgedruckt.
Sechs Autoren aus Paris, Madrid und Lissabon widmen sich der Marxistischen
Wirtschaftstheorie von 1962, mit der Mandel, auch die Sowjetwirtschaft analysierend, diese Lehre ins akademische Gedächtnis Westeuropas
zurückrief, dem Standardwerk Der Spätkapitalismus von 1972 und der Darstellung Die langen Wellen im Kapitalismus, die 1980 auf Englisch
erschien und 1995 erweitert neu aufgelegt wurde.
Letztgenannte gilt längerfristigen Entwicklungen, die wirtschaftliche Krisenzyklen mit
umfassen und gleichzeitig historischer Natur sind. Beschrieben wird auch die gegenwärtige, durch gesteigerte Ausbeutung und staatlich exekutierte
neoliberale Umverteilung zugunsten des Kapitals gekennzeichnete Welle.
Charles Post (New York) beschäftigt sich mit Mandels Theorie der Bürokratie,
besonders der Arbeiterbürokratie. Deren reformistische Formation sorgte durch Unterordnen des Klassenkampfs unter Wahlpolitik und
Verhandlungsrituale dafür, dass das Ziel, Sozialismus über stetig wachsenden Arbeitereinfluss zu erreichen, verfehlt wurde. Andererseits blockierte
die Bürokratie postkapitalistischer Länder den Weg in eine bessere Gesellschaft. Catherine Samary (Paris) legt die Standpunkte Trotzkis und
Mandels zur Übergangsperiode und zu Grundlinien der heutigen osteuropäischen Entwicklung dar, die bisher generell keinen »fertigen«
Kapitalismus zustandebrachte.
Im letzten Kapitel empört sich Norman Geras (Manchester) über Mandel, weil
dieser die industrielle Massenvernichtung von Juden durch die Nazis aus der Geschichte des Kapitalismus/Imperialismus heraus erklärte, statt sie für
unerklärbar zu halten, und darauf hinwies, es habe vor, neben und nach der Shoah Verbrechen ähnlicher Art gegeben. Im Anhang ist die wichtigste
Arbeit Mandels zum Thema wiedergegeben. Jeder kann überprüfen, welche Argumentationskette stichhaltig ist.
Ebenfalls im Buchanhang findet sich »Zur Lage und Zukunft des Sozialismus«
von 1990. Auf bisher unübertroffene Art stellt Mandel darin die Krise von Sozialdemokratie und Poststalinismus, aber auch die sozialen Teilziele dar, die
seinerzeit von den arbeitenden Massen erreicht wurden und heute aufs Äußerste gefährdet sind. Um ihre vollständige Demontage und
eine durch erneute imperialistische Weltherrschaft drohende Menschheitskatastrophe zu verhindern, muss mehr reale Demokratie durchgesetzt werden. Die
Alternative lautet Mandel zufolge nicht mehr wie zu Rosa Luxemburgs Zeiten »Sozialismus oder Barbarei«, sondern »Sozialismus oder
Tod«.
Manfred Behrend
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