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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 11

WSF in Mumbai

Eindrücke aus feministischer Sicht

Beim vierten Mal war‘s anders. Frauen waren beim Weltsozialforum in Mumbai — im Unterschied zu den ersten drei Weltsozialforen in Porto Alegre — überall, auf den Straßen bei den Hunderten Gruppierungen, die von morgens bis abends megafonverstärkt ihre Anklagen und Forderungen zu Landrechten, Ausgrenzung von Dalit und Indigenen, zu Kinderrechten und gegen die Vertreibung von Slumbewohnern, für Bildungs- und Gesundheitsrechte, gegen den US-Imperialismus und für ein freies Tibet skandierten, in den Theatergruppen, hinter den Ausstellungs- und Verkaufsständen, in den großen Veranstaltungshallen und den kleinen Zelten für die Workshops, auf nahezu allen Podien.

Unablässiges Bohren dünner und dicker Bretter, Drängen, Drohen, Verhandeln habe Fortschritte gebracht, meint mit vernehmbarem Zähneknirschen Gigi Francisco vom International Council des WSF. Sie versucht seit Jahren, mehr Frauen und feministische Ansätze ins Programm zu bekommen, vor allem auf die Podien der heiß umkämpften zentralen Megaveranstaltungen. Die Vertreterinnen von Frauenverbänden und autonomen feministischen Gruppen legten dann im indischen Vorbereitungskomitee nach. Mit Erfolg.
Präsenz und Sichtbarkeit waren das Resultat. Doch hinterrücks stellte sich wieder einmal eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung her. Frauen waren die Stars, die die Highlights auf einigen Großveranstaltungen setzten: allen voran Arundhati Roy, die Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die alte Kämpferin gegen den Schleier, Nawal el Sadaawi, die indische Volkstribunin Medha Patkar. Frauen dominierten in vielen Seminaren und Workshops, wo Grundrechte und Minderheitenrechte auf der Tagesordnung standen, wo es um den Alltag von Gewalt, Diskriminierung und Ausschluss ging, wo Basisaktivismus diskutiert wurde.
Bei den Strukturdebatten waren dagegen die Podien fest in den Händen mittelalter weißer Akademikermänner. Bei der zentralen Veranstaltung zu Alternativen zur neoliberalen Globalisierung: keine Frau, bei der Großdebatte zur Zukunft des WSF: neun Männer, eine Frau. Den Frauen der Starglanz und die Basisarbeit, den Männern die Strukturen? Sind Frauen das Rückgrat sozialer Kämpfe und auch ein paar Galionsfiguren, während die Bewegungspolitik weiterhin von Männern gemacht wird?

Wirtschaftliche Rechte

Mumbai hat gezeigt, dass Frauenorganisationen und —netzwerke ein bedeutender Teil der globalen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit sind, und dass sie sich in die Neoliberalismuskritik in all ihren Facetten einklinken. Drei inhaltliche Schwerpunkte aus der schier endlosen Bandbreite von Themen zeichneten sich als Interessenspektrum von Frauen ab — 85 von über 1000 Veranstaltungen wiesen bereits in der Themenstellung einen Fokus auf Frauen oder Gender aus: spezielle Frauenrechte und Minderheitenrechte, Krieg und Gewalt, und mikro- und makroökonomische Themen, einschließlich Land- und Wasserrechte.
Frauen unterstützen die von kleinbäuerlichen Netzwerken wie Via Campesina artikulierte Forderung nach Ernährungssouveränität. Ernährung kann nicht konzerngesteuert durch eine industrialisierte Exportproduktion, durch Freihandel und patentiertes Saatgut gesichert werden, sondern nur eine lokale und regionale Landwirtschaft auf der Grundlage von Rechten an Land und Wasser.
Auch die Privatisierung öffentlicher Güter wurde konsequent aus einer Frauenperspektive demontiert. Um ihr Überleben zu sichern, brauchen Frauen Ressourcenrechte, vor allem an Land, Wasser, Biodiversität und Saatgut. Genau diese werden derzeit durch Liberalisierung, Privatisierung und Patentierung stark gefährdet. »Die Regierungen sind stärker daran interessiert, Privatunternehmen Rechte zu geben als lokalen Bevölkerungsgruppen und Frauen«, war Konsens in vielen Diskussionen.
Immer mehr dringt zudem der Tourismus in landschaftlich oder kulturell interessante Gebiete ein, der ebenfalls auf einem hohen Ressourcenverbrauch basiert, aber auch Nachfrage die Prostitution ankurbelt und die Kommerzialisierung auch des weiblichen Körpers vorantreibt. Systematisch wurde die Kehrseite von Mikrokrediten, die in vielen Ländern des Südens als Königinnenweg gepriesen werden, der Frauen aus Armut und Unterdrückung führe, unter die Lupe genommen und als entpolitisierende Einbindung in die Geldzirkulation und in Bankengeschäfte kritisiert.

Identität

Einen neuen Akzent setzten autonome Frauenorganisationen auf dem WSF. Sie setzten die bewährte feministische Strategie fort, das Private zu politisieren, verknüpften sie gleichzeitig mit dem Kampf gegen Fundamentalismen, Konservatismus und Rassismus. Da diskutierten Musliminnen aus Europa und Asien miteinander über Sexualität, Prostituierte forderten Anerkennung als »Sexarbeiterinnen«, Lesben, Schwule und Transsexuelle klagten ihre Rechte ein. Lateinamerikanische Feministinnen nahmen ihren Parole aus früheren Weltsozialforen »Gegen alle Fundamentalismen« wieder auf, um zu verdeutlichen, dass sie gegen ein breites Spektrum von politischer, ökonomischer, kultureller und sozialer Herrschaft und Gewalt kämpfen und eine breite emanzipatorische Perspektive verfolgen.
Vor allem in den Debatten über Fundamentalismen und Identitätspolitik wurde deutlich, dass das alte Erklärungsmodell von Frauenunterdrückung durch das Patriarchat nicht ausreicht. Frauen sind zwar überall Opfer von ethnisch, religiös, rassistisch oder ökonomisch motivierter Gewalt, aber sie sind manchmal auch Täterinnen. So beteiligten sich vor zwei Jahren Hindufrauen aktiv an dem Pogrom gegen Muslime im indischen Bundesstaat Gujarat.
Ein zweitägiger Internationaler Feministischer Dialog unmittelbar vor dem WSF hatte zentrale Themenstellungen und Strategien präzisiert, die Feministinnen in die globalisierungskritischen Bewegungen einbringen wollen. Angelpunkte der Debatte waren: Was hat der Menschen- und Frauenrechtsansatz, auf den Frauenbewegungen im vergangenen Jahrzehnt voll eingeschwenkt sind, gebracht? Wie weiter mit dem Einklinken in die globalisierungskritischen Bewegungen? Sollen Frauenbewegungen lediglich punktuell taktische Übereinkünfte mit anderen sozialen Bewegungen schließen oder strategische Allianzen eingehen?
Der Bezug auf Menschenrechte hat Fortschritte im Verfassungsrecht, in gesetzlichen Regelungen und internationalen Konventionen gebracht. Doch dies löst noch lange keine kulturelle Transformation in den Gesellschaften aus. Das Menschenrechtskonzept taugt offenbar wenig, um Strukturen zu verändern. Im Gegenteil: verschiedene religiöse Fundamentalismen und der Marktfundamentalismus, der zur Deregulierung führt, verhindern einmal mehr die Umsetzung von Menschen- und Frauenrechten.

Zwischen Präsenz und Profil

Das beklemmende Gefühl, »mit dem Rücken zur Wand zu stehen« nötigt Frauen dazu, neue Instrumente, Strategien und Allianzen zu suchen, politische, wirtschaftliche und kulturelle Rechte zu verknüpfen, individuelle und kollektive Rechte in eine Balance zu bringen, und Allianzen mit anderen Bewegungen zu schließen, die für Rechte kämpfen.
»Barrieren überwinden, Brücken schlagen« lautete denn auch der Titel eines spannenden Austauschs zwischen Vertretern von vier Bewegungen: Gewerkschaften, Dalit-/Antirassismusbewegung, Frauenbewegung und Lesben/Schwulen-Bewegung. Wie können Bewegungen über ihre Partikularinteressen hinausgehend die Rechte und Forderungen anderer akzeptieren, mitvertreten und in eine emanzipatorische Praxis einbauen? Brücken wurden auch geschlagen, wo zwischen Palästinenserinnen und Israelinnen ein Reden über ihre Traumatisierung und Gewalterfahrungen möglich wurde. Insgesamt fehlte es jedoch an Begegnungen, wo Raum war, solidarisch zu streiten, aus Auseinandersetzungen und Reibungen Wege nach vorn zu sondieren und Bündnisse strategisch auf politische Praxis zu orientieren.
Mumbai war eine Mischung aus Festival und Kongress, wo die so unterschiedlichen AkteurInnen vor allem Aufmerksamkeitspolitik betrieben. Aktivitäten und Anliegen wurden präsentiert, Debatten gebündelt und zugespitzt, Austausch, Vernetzung und Aktionsplanungen vorangetrieben. Frauenbewegungen und Feministinnen gewannen dabei an Präsenz, weil ihnen eine stärkere Integration der Vielfalt der Globalisierungskritiken und der Bewegungen gelungen ist. Sie haben an eigenständigem Profil verloren, weil eine solche Integration die Gefahr birgt, dass Frauen nur noch eine Stimme im vielstimmigen Chor von Identitätspolitik und Rechtskämpfen sind. Doch derzeit ist der Marsch hinein in die Bewegungen die Strategie, von der sich Frauenbewegungen die größten Mobilisierungs- und Synergieeffekte und eine Übersetzung der überwältigenden Vielfalt in emanzipatorische Dynamiken erhoffen.

Christa Wichterich

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