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Beim Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancún (Mexiko) wurde die verantwortliche »Gruppe der 21«
u.a. von Indien angeführt. Auf der offiziellen Ebene der Verhandlungspartner hatte die Regierung damit den Stab des Widerstands aus der Hand der
zivilgesellschaftlichen Globalisierungsgegner übernommen. Der Umzug von Porto Alegre nach Mumbai (Bombay) für die Veranstaltung des
4.Weltsozialforums scheint den Aufstieg Indiens als internationale Macht zu unterstreichen.
Mit 3,3 Millionen qkm ist Indien das flächenmäßig sechstgrößte Land der Erde. Im 20.Jahrhundert hat sich seine
Bevölkerung von 240 Millionen 1901 auf aktuell 1,048 Milliarden mehr als vervierfacht. Mit über 350 Menschen je qkm zählt es zu den am
dichtesten bevölkerten Staaten der Erde. Mag das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen mit 480 Dollar das Land auch in die Kategorie der
ärmsten Entwicklungsländer verweisen, gemeinsam bringt es die riesige Bevölkerung auf ein BSP von 500 Milliarden Dollar, damit nimmt es
den 12.Rang unter den Volkswirtschaften ein. Seine Größe versucht es in internationalen Einfluß umzusetzen.
War Indien seinerzeit fest im Lager der tendenziell antiwestlich orientierten Blockfreien
verankert, so hat sich dies seit dem weltweiten Umbruch Anfang der 90er Jahre geändert. Wirtschaftlich, innen- wie außenpolitisch hat es in den
letzten 15 Jahren einen Paradigmenwechsel gegeben.
Nach dem Ende des Kolonialismus hat Indien jahrzehntelang eine am Binnenmarkt orientierte Entwicklungsstrategie ökonomischer
Selbstständigkeit und Unabhängigkeit mit sozialistischem Einschlag verfolgt. Der Staat spielte eine zentrale Rolle bei der Wirtschaftslenkung: durch
Fünfjahrespläne, einen breiten staatlichen Unternehmenssektor sowie durch eine allgegenwärtige staatliche Lizenzvergabe, Garantiepreise
für Agrarprodukte und den Aufbau eines Sozialstaats.
Vom IWF zur Abtragung seiner zunehmenden Auslandsschulden gedrängt, aber auch
aus politischer Überzeugung einer technokratischen neuen politischen Führung hat Indien seit Anfang der 90er Jahre einen Paradigmenwechsel in
der Wirtschaftspolitik vorgenommen. Nunmehr wird der Weltmarktintegration Priorität eingeräumt und die Rolle des Staates
zurückgedrängt. Seit 1994 ist Indien Mitglied der WTO. Waren die Einfuhren bis dahin mit Zöllen von durchschnittlich 80% belegt, wurden
2001 alle Einfuhrquoten abgeschafft.
Ähnlich bemüht man sich seitdem um Ausländische Direktinvestitionen
(ADI), wobei in einigen Branchen ein Anteil bis zu 100% erlaubt wird (in Pharma- und Autoindustrie, Telekommunikation). Schließlich wird die
Privatisierung staatlicher Unternehmen vorangetrieben, mögen auch die erzielten Preise meist nur ein Drittel der Schätzwerte erreichen.
Die Wirkungen der neuen Politik sind dramatisch:
nDas Wachstum der Wirtschaft hat sich beschleunigt und erreichte zuletzt jährlich 6%
und mehr.
nDie soziale Ungleichheit hat sich vertieft, es hat sich eine wachsende Mittelschicht
herausgebildet: Eine kleine Gruppe von 3% verbucht Monatseinkommen von 1000 Euro und mehr, kann sich seine Konsumwünsche in der wachsenden
Zahl von shopping malls erfüllen und einen westlichen Lebensstil mit Privatwagen und 2 Millionen Dollar teuren Luxusappartements in Mumbai leisten.
nDie soziale Ungleichheit wird von einer wachsenden horizontalen Ungleichheit begleitet: Die
Pro-Kopf-Einkommen im Westen und Süden des Landes übersteigen die im bevölkerungsreichen Norden und Osten teilweise um das
Dreifache.
nDie zunehmende Integration in den Weltmarkt schafft eine Art Flickenteppich: Schnell
wachsende, vom Hinterland relativ abgekoppelte, Industriepole und Wirtschaftszonen mit hohen Einkommen werden zu Standorten transnationaler Konzerne
und bilden deshalb unwiderstehliche Anziehungspunkte für (ländliche) Wanderarbeiter. Ihre Dynamik hängt vom Weltmarktgeschehen ab.
Bangalore, Hyderabad, Neu-Delhi, Chennai, u.a. sind solche Zentren mit heute weltweitem Bekanntheitsgrad. Typisch ist Mumbai, in dem 90% der
kommerziellen Bankgeschäfte und 40% des Seehandels abgewickelt werden: es zählt über die Hälfte aller Millionäre Indiens
und daneben den größten Slum Asiens. Bei offiziell 12 Millionen Einwohnern hat die Hälfte kein Dach über dem Kopf; hinzu kommen
noch mehrere Millionen Migranten.
Bei der heutigen anglo-amerikanischen Dominanz des globalisierten Kapitals profitiert Indien
von seiner Vergangenheit als britische Kolonie. Zwar wird Englisch nur von 1% der Bevölkerung gesprochen, doch ist es die Sprache der Elite und
Kommunikationsmittel in den medizinisch und naturwissenschaftlich-technisch orientierten tertiären Ausbildungsinstitutionen. Waren es früher
indische Ärzte, die einen Großteil des medizinischen Personals in Großbritannien stellten, so sind heute die jährlich 165000 englisch
versierten, häufig zu den internationalen Spitzenkräften zählenden Diplomingenieure gesucht.
Indien ist das wichtigste Exportland von Informatikdienstleistungen. Damit wird ein neues Kapitel in den Handelsbeziehungen zwischen der sog. Ersten und
der sog. Dritten Welt geschrieben.
Auf die klassische »komplementäre« Arbeitsteilung (industrielle
Fertigwaren gegen Rohstoffe) folgte zunächst die »substitutive« Arbeitsteilung (arbeitsintensive industrielle (Halb-)Fertigwaren gegen
forschungsintensivere, höher qualifizierte Produkte). Sie wurde abgelöst von einer internationalen Verlagerung von Dienstleistungen
zunächst in Form des »subcontracting« von technischen Routinetätigkeiten wie Buchungsarbeiten und Call Centers. Dann ging man zur
Vergabe höher qualifizierter Aufgaben wie Softwareentwicklung über. Als nächste Stufe wird der Transfer von Forschung und Entwicklung
auf dem Gebiet der Bioinformatik, der Marktforschung und der Finanzanalyse anvisiert. Alle ausländischen Marktführer der Informations- und
Kommunikationsbranche von IBM bis Microsoft unterhalten Niederlassungen in Hyderabad und Bangalore, und alle planen deren drastischen Ausbau in
allernächster Zukunft.
Mit der gängigen Jobhierarchie, bei der die qualifizierten, gut bezahlten und mehr Wert
zusetzenden Tätigkeiten den Beschäftigten der Metropolen vorbehalten waren, ist es vorbei. Die Informations- und Kommunikationstechnologien
haben, zusammen mit dem dramatischen Verfall der Transportpreise und Kommunikationskosten, die Arbeitsmärkte globalisiert. Ohne dass auch nur ein
einziger Informatiker seine Heimat verlässt, werden die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen weltweit miteinander verglichen und in Konkurrenz
zueinander gesetzt! Der indische Softwareingenieur verdient bei gleicher Qualifikation, dabei größerer Flexibilität und
Arbeitsintensität, nur ein Sechstel bis ein Viertel seines Kollegen in den hochentwickelten Industrieländern. Mit seinen durchschnittlich 6000 Euro
im Jahr aber gehört er zu den 5% höchsten Einkommensbeziehern seines Landes.
Was für die IT-Branche gesagt wurde, gilt mehr oder weniger auch für die
Pharmaindustrie. Indien hält eine Spitzenstellung bei der Arzneimittelforschung und -herstellung, nicht zuletzt bei Generika. Mit 60 Pharmaunternehmen
weist es das größte Netz außerhalb der USA auf. Doch wie auch sonst geht es nicht um die beste und kostengünstigste Versorgung der
Kranken, sondern um das profitabelste Geschäft. Das heißt: wenig Mittel für Impfstoffe oder für die Erforschung von
Tropenkrankheiten oder für kostengünstige Behandlung durch Generika, deren die Dritte Welt bedarf; dafür Patente auf Medikamente und
Orientierung am umsatzstärksten, d.h metropolitanen Markt.
In einem der Artikel, die Marx 1853 in der New York Daily-Tribune über Indien veröffentlichte, schreibt er, dass der Kolonialismus neben der
blutigen Zerstörung auch eine positive Kehrseite habe, weil er das Individuum aus den Fesseln von Kastensystem und hinduistischem Polytheismus befreie
und die materielle Grundlage für eine moderne Industriegesellschaft lege.
Die Vorstellung von einer gleichförmigen Ausbreitung des Kapitals auf globaler Ebene
hat sich als Irrtum erwiesen. An Stelle eines metropolitanen hat sich ein peripher-kapitalistischer Typus herausgebildet, der durch ein dauerhaftes formales
Nebeneinander vor-, halb- und vollkapitalistischer Produktionsweisen gekennzeichnet ist. Dem Markt unterworfen, lösen sich nichtkapitalistische Formen
trotz mangelnder Produktivität nicht auf, sondern werden mangels alternativer Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten ständig
reproduziert.
Derselbe Übergangscharakter haftet auch den sozialpolitischen Verhältnissen an.
Anstelle der Ablösung überkommener Gesellschaftsstrukturen durch die Herausbildung moderner bürgerlicher Klassen mit kapitalistischen
Pächtern, Lohnarbeitern, Kleinbürgertum und verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, bleiben feudale Formen der Vergesellschaftung neben den
neuen kapitalistischen erhalten. Ihre Funktion ändert sich, sie werden den gewandelten soziopolitischen Bedingungen angepasst, aber zugleich als (neue)
kollektive Identitäten reproduziert. Sie treten als Interessengruppen eigener Art neben andere, unter denen auch reine Klassenorganisationen anzutreffen
sind. Meist jedoch treten sie nicht als separate Kategorien, sondern als Gemengelage von ethnisch-regionalen, kastenspezifischen und sozialen (Klassen-
)Interessen auf.
Das Kastensystem bleibt ein zentrales, die privaten sozialen Beziehungen strukturierendes
Kriterium. Im politischen Bereich ist die Kastenzugehörigkeit ein wichtiges Auswahlkriterium bei der Aufstellung von Kandidaten. Gruppenkonstitutiv
und Identität stiftend sind heute allerdings nicht mehr die mehreren tausend Kasten in ihrer Reinform, sondern größere Kollektive, die nicht
zuletzt unter dem Druck staatlicher Maßnahmen zur sozialpolitischen Förderung (ehedem) unterprivilegierter Kasten und Stämme
hervorgegangen sind.
Die Verfassung von 1949 hatte das Kastensystem für abgeschafft erklärt und die
Kastentribunale verboten. Es wurde eine Politik der »positiven Diskriminierung« in Form reservierter Plätze in Erziehung, Politik und
Verwaltung eingeleitet; sie sollte der traditionellen (religiös-weltanschaulich begründeten) Diskriminierung gegensteuern und langfristig
Chancengleichheit mit anderen sozialen Gruppen ermöglichen. Dies hat die Bildung von Großgruppen begünstigt, von Parteien und
organisierten Interessengruppen wie die der backward castes oder der scheduled castes. Letztere die Unberührbaren bzw. harijan (»Kinder
Gottes«), wie Gandhi sie nannte haben sich heute in der Bewegung der Dalit zusammengeschlossen. Der Erfolg dieser Gruppen spornt andere an,
ihrerseits möglichst dauerhaft in die Kategorie der Begünstigten aufgenommen zu werden.
Die politische Vorherrschaft der 1885 gegründeten Kongresspartei, die über Jahrzehnte die praktisch einzige Partei mit landesweiter Resonanz
war und aus der fast alle Parteien der Mitte durch Abspaltungen hervorgegangen sind, ist Ende der 80er Jahre zu Ende gegangen. An ihre Stelle ist die BJP
(Indische Volkspartei) getreten, sie gehört neben Frauen- und Jugendverbänden sowie dem Hinduistischen Weltverband zur
»Familie« der 1926 entstandenen hinduistischen Kaderorganisation RSS.
Der von ihr vertretene »kulturelle Nationalismus« (Hindutum) grenzt das indische
Wesen und seine Kultur prinzipiell von Islam und Christentum als ihm Fremd ab. Prinzipiell dem Kapitalismus verpflichtet, stößt dessen neoliberale
Version allerdings auf Widerstände im eigenen Lager, insoweit die damit potenziell verbundene partielle Dominanz ausländischen Kapitals mit dem
eigenen wirtschaftlichen Nationalismus kollidiert.
Die Hindu-Ideologie findet Umfragen zufolge besonderen Anklang unter den städtischen
Mittelschichten mit hohem Bildungsgrad (Abitur und höher), die zudem zu den oberen Kasten gehören. Sie fühlen sich allseitig bedroht:
wirtschaftlich von der verschärften Konkurrenz nicht zuletzt durch die aufsteigenden Minderheiten; politisch durch die allerorts aufkeimenden
nationalistischen Bewegungen in Kaschmir, bei den Sikhs im Punjab, bei den Völkern und Stämmen im östlichen Dreieck Indiens
nahe den Grenzen zu Myanmar und Bangladesh; kulturell durch den den Minderheiten staatlich zugesicherten besonderen Schutz. Sie lehnen den
Säkularismus, der den Muslimen Eigenständigkeit im Privat- und Familienrecht einräumt und den Christen Missionierung zugesteht, als
Angriff auf das Hindutum ab. Die hinduistische Mehrheit wird als einzige authentische Repräsentantin Indiens definiert. Vom Himalaya bis Cape Comorin
ist das Vaterland der Hindus heilig und deshalb unteilbar.
Diese ausgrenzende Setzung der Mehrheit als einzig wahren Repräsentantin der Nation
hat zur drastischen Verschärfung und Verlagerung der gesellschaftlichen Konflikte geführt: vereinzelt zu Ausschreitungen gegen Christen, vor allem
aber zu blutigen Pogromen gegen Muslime.
Der programmatische Wandel erklärt auch den Wandel in der Außenpolitik: die
Selbsterklärung zur Atommacht, die Gegnerschaft zu Pakistan bzw. dem Islam, die Hinwendung zu Israel und die Unterstützung der
Besatzungspolitik der USA im Irak.
Angesichts der wachsenden Ungleichheiten im Zuge der neoliberalen Weltmarktöffnung
und den zunehmenden sozialen Konflikten soll der Hindu-Fundamentalismus verbunden mit staatlicher Repression gegen Minderheiten als ideologischer Kitt
dienen.
John P. Neelsen
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