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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 12

Indien

Zwischen Globalisierung und Fundamentalismus

Beim Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancún (Mexiko) wurde die verantwortliche »Gruppe der 21« u.a. von Indien angeführt. Auf der offiziellen Ebene der Verhandlungspartner hatte die Regierung damit den Stab des Widerstands aus der Hand der zivilgesellschaftlichen Globalisierungsgegner übernommen. Der Umzug von Porto Alegre nach Mumbai (Bombay) für die Veranstaltung des 4.Weltsozialforums scheint den Aufstieg Indiens als internationale Macht zu unterstreichen.

Mit 3,3 Millionen qkm ist Indien das flächenmäßig sechstgrößte Land der Erde. Im 20.Jahrhundert hat sich seine Bevölkerung von 240 Millionen 1901 auf aktuell 1,048 Milliarden mehr als vervierfacht. Mit über 350 Menschen je qkm zählt es zu den am dichtesten bevölkerten Staaten der Erde. Mag das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen mit 480 Dollar das Land auch in die Kategorie der ärmsten Entwicklungsländer verweisen, gemeinsam bringt es die riesige Bevölkerung auf ein BSP von 500 Milliarden Dollar, damit nimmt es den 12.Rang unter den Volkswirtschaften ein. Seine Größe versucht es in internationalen Einfluß umzusetzen.
War Indien seinerzeit fest im Lager der tendenziell antiwestlich orientierten Blockfreien verankert, so hat sich dies seit dem weltweiten Umbruch Anfang der 90er Jahre geändert. Wirtschaftlich, innen- wie außenpolitisch hat es in den letzten 15 Jahren einen Paradigmenwechsel gegeben.

Öffnung zum Weltmarkt

Nach dem Ende des Kolonialismus hat Indien jahrzehntelang eine am Binnenmarkt orientierte Entwicklungsstrategie ökonomischer Selbstständigkeit und Unabhängigkeit mit sozialistischem Einschlag verfolgt. Der Staat spielte eine zentrale Rolle bei der Wirtschaftslenkung: durch Fünfjahrespläne, einen breiten staatlichen Unternehmenssektor sowie durch eine allgegenwärtige staatliche Lizenzvergabe, Garantiepreise für Agrarprodukte und den Aufbau eines Sozialstaats.
Vom IWF zur Abtragung seiner zunehmenden Auslandsschulden gedrängt, aber auch aus politischer Überzeugung einer technokratischen neuen politischen Führung hat Indien seit Anfang der 90er Jahre einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik vorgenommen. Nunmehr wird der Weltmarktintegration Priorität eingeräumt und die Rolle des Staates zurückgedrängt. Seit 1994 ist Indien Mitglied der WTO. Waren die Einfuhren bis dahin mit Zöllen von durchschnittlich 80% belegt, wurden 2001 alle Einfuhrquoten abgeschafft.
Ähnlich bemüht man sich seitdem um Ausländische Direktinvestitionen (ADI), wobei in einigen Branchen ein Anteil bis zu 100% erlaubt wird (in Pharma- und Autoindustrie, Telekommunikation). Schließlich wird die Privatisierung staatlicher Unternehmen vorangetrieben, mögen auch die erzielten Preise meist nur ein Drittel der Schätzwerte erreichen.
Die Wirkungen der neuen Politik sind dramatisch:
nDas Wachstum der Wirtschaft hat sich beschleunigt und erreichte zuletzt jährlich 6% und mehr.
nDie soziale Ungleichheit hat sich vertieft, es hat sich eine wachsende Mittelschicht herausgebildet: Eine kleine Gruppe von 3% verbucht Monatseinkommen von 1000 Euro und mehr, kann sich seine Konsumwünsche in der wachsenden Zahl von shopping malls erfüllen und einen westlichen Lebensstil mit Privatwagen und 2 Millionen Dollar teuren Luxusappartements in Mumbai leisten.
nDie soziale Ungleichheit wird von einer wachsenden horizontalen Ungleichheit begleitet: Die Pro-Kopf-Einkommen im Westen und Süden des Landes übersteigen die im bevölkerungsreichen Norden und Osten teilweise um das Dreifache.
nDie zunehmende Integration in den Weltmarkt schafft eine Art Flickenteppich: Schnell wachsende, vom Hinterland relativ abgekoppelte, Industriepole und Wirtschaftszonen mit hohen Einkommen werden zu Standorten transnationaler Konzerne und bilden deshalb unwiderstehliche Anziehungspunkte für (ländliche) Wanderarbeiter. Ihre Dynamik hängt vom Weltmarktgeschehen ab. Bangalore, Hyderabad, Neu-Delhi, Chennai, u.a. sind solche Zentren mit heute weltweitem Bekanntheitsgrad. Typisch ist Mumbai, in dem 90% der kommerziellen Bankgeschäfte und 40% des Seehandels abgewickelt werden: es zählt über die Hälfte aller Millionäre Indiens und daneben den größten Slum Asiens. Bei offiziell 12 Millionen Einwohnern hat die Hälfte kein Dach über dem Kopf; hinzu kommen noch mehrere Millionen Migranten.
Bei der heutigen anglo-amerikanischen Dominanz des globalisierten Kapitals profitiert Indien von seiner Vergangenheit als britische Kolonie. Zwar wird Englisch nur von 1% der Bevölkerung gesprochen, doch ist es die Sprache der Elite und Kommunikationsmittel in den medizinisch und naturwissenschaftlich-technisch orientierten tertiären Ausbildungsinstitutionen. Waren es früher indische Ärzte, die einen Großteil des medizinischen Personals in Großbritannien stellten, so sind heute die jährlich 165000 englisch versierten, häufig zu den internationalen Spitzenkräften zählenden Diplomingenieure gesucht.

Neue internationale Arbeitsteilung

Indien ist das wichtigste Exportland von Informatikdienstleistungen. Damit wird ein neues Kapitel in den Handelsbeziehungen zwischen der sog. Ersten und der sog. Dritten Welt geschrieben.
Auf die klassische »komplementäre« Arbeitsteilung (industrielle Fertigwaren gegen Rohstoffe) folgte zunächst die »substitutive« Arbeitsteilung (arbeitsintensive industrielle (Halb-)Fertigwaren gegen forschungsintensivere, höher qualifizierte Produkte). Sie wurde abgelöst von einer internationalen Verlagerung von Dienstleistungen — zunächst in Form des »subcontracting« von technischen Routinetätigkeiten wie Buchungsarbeiten und Call Centers. Dann ging man zur Vergabe höher qualifizierter Aufgaben wie Softwareentwicklung über. Als nächste Stufe wird der Transfer von Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Bioinformatik, der Marktforschung und der Finanzanalyse anvisiert. Alle ausländischen Marktführer der Informations- und Kommunikationsbranche von IBM bis Microsoft unterhalten Niederlassungen in Hyderabad und Bangalore, und alle planen deren drastischen Ausbau in allernächster Zukunft.
Mit der gängigen Jobhierarchie, bei der die qualifizierten, gut bezahlten und mehr Wert zusetzenden Tätigkeiten den Beschäftigten der Metropolen vorbehalten waren, ist es vorbei. Die Informations- und Kommunikationstechnologien haben, zusammen mit dem dramatischen Verfall der Transportpreise und Kommunikationskosten, die Arbeitsmärkte globalisiert. Ohne dass auch nur ein einziger Informatiker seine Heimat verlässt, werden die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen weltweit miteinander verglichen und in Konkurrenz zueinander gesetzt! Der indische Softwareingenieur verdient bei gleicher Qualifikation, dabei größerer Flexibilität und Arbeitsintensität, nur ein Sechstel bis ein Viertel seines Kollegen in den hochentwickelten Industrieländern. Mit seinen durchschnittlich 6000 Euro im Jahr aber gehört er zu den 5% höchsten Einkommensbeziehern seines Landes.
Was für die IT-Branche gesagt wurde, gilt mehr oder weniger auch für die Pharmaindustrie. Indien hält eine Spitzenstellung bei der Arzneimittelforschung und -herstellung, nicht zuletzt bei Generika. Mit 60 Pharmaunternehmen weist es das größte Netz außerhalb der USA auf. Doch wie auch sonst geht es nicht um die beste und kostengünstigste Versorgung der Kranken, sondern um das profitabelste Geschäft. Das heißt: wenig Mittel für Impfstoffe oder für die Erforschung von Tropenkrankheiten oder für kostengünstige Behandlung durch Generika, deren die Dritte Welt bedarf; dafür Patente auf Medikamente und Orientierung am umsatzstärksten, d.h metropolitanen Markt.

Peripherer Kapitalismus

In einem der Artikel, die Marx 1853 in der New York Daily-Tribune über Indien veröffentlichte, schreibt er, dass der Kolonialismus neben der blutigen Zerstörung auch eine positive Kehrseite habe, weil er das Individuum aus den Fesseln von Kastensystem und hinduistischem Polytheismus befreie und die materielle Grundlage für eine moderne Industriegesellschaft lege.
Die Vorstellung von einer gleichförmigen Ausbreitung des Kapitals auf globaler Ebene hat sich als Irrtum erwiesen. An Stelle eines metropolitanen hat sich ein peripher-kapitalistischer Typus herausgebildet, der durch ein dauerhaftes formales Nebeneinander vor-, halb- und vollkapitalistischer Produktionsweisen gekennzeichnet ist. Dem Markt unterworfen, lösen sich nichtkapitalistische Formen trotz mangelnder Produktivität nicht auf, sondern werden mangels alternativer Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten ständig reproduziert.
Derselbe Übergangscharakter haftet auch den sozialpolitischen Verhältnissen an. Anstelle der Ablösung überkommener Gesellschaftsstrukturen durch die Herausbildung moderner bürgerlicher Klassen mit kapitalistischen Pächtern, Lohnarbeitern, Kleinbürgertum und verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, bleiben feudale Formen der Vergesellschaftung neben den neuen kapitalistischen erhalten. Ihre Funktion ändert sich, sie werden den gewandelten soziopolitischen Bedingungen angepasst, aber zugleich als (neue) kollektive Identitäten reproduziert. Sie treten als Interessengruppen eigener Art neben andere, unter denen auch reine Klassenorganisationen anzutreffen sind. Meist jedoch treten sie nicht als separate Kategorien, sondern als Gemengelage von ethnisch-regionalen, kastenspezifischen und sozialen (Klassen- )Interessen auf.
Das Kastensystem bleibt ein zentrales, die privaten sozialen Beziehungen strukturierendes Kriterium. Im politischen Bereich ist die Kastenzugehörigkeit ein wichtiges Auswahlkriterium bei der Aufstellung von Kandidaten. Gruppenkonstitutiv und Identität stiftend sind heute allerdings nicht mehr die mehreren tausend Kasten in ihrer Reinform, sondern größere Kollektive, die nicht zuletzt unter dem Druck staatlicher Maßnahmen zur sozialpolitischen Förderung (ehedem) unterprivilegierter Kasten und Stämme hervorgegangen sind.
Die Verfassung von 1949 hatte das Kastensystem für abgeschafft erklärt und die Kastentribunale verboten. Es wurde eine Politik der »positiven Diskriminierung« in Form reservierter Plätze in Erziehung, Politik und Verwaltung eingeleitet; sie sollte der traditionellen (religiös-weltanschaulich begründeten) Diskriminierung gegensteuern und langfristig Chancengleichheit mit anderen sozialen Gruppen ermöglichen. Dies hat die Bildung von Großgruppen begünstigt, von Parteien und organisierten Interessengruppen wie die der backward castes oder der scheduled castes. Letztere — die Unberührbaren bzw. harijan (»Kinder Gottes«), wie Gandhi sie nannte — haben sich heute in der Bewegung der Dalit zusammengeschlossen. Der Erfolg dieser Gruppen spornt andere an, ihrerseits möglichst dauerhaft in die Kategorie der Begünstigten aufgenommen zu werden.

Der Weg in den Fundamentalismus

Die politische Vorherrschaft der 1885 gegründeten Kongresspartei, die über Jahrzehnte die praktisch einzige Partei mit landesweiter Resonanz war und aus der fast alle Parteien der Mitte durch Abspaltungen hervorgegangen sind, ist Ende der 80er Jahre zu Ende gegangen. An ihre Stelle ist die BJP (Indische Volkspartei) getreten, sie gehört — neben Frauen- und Jugendverbänden sowie dem Hinduistischen Weltverband — zur »Familie« der 1926 entstandenen hinduistischen Kaderorganisation RSS.
Der von ihr vertretene »kulturelle Nationalismus« (Hindutum) grenzt das indische Wesen und seine Kultur prinzipiell von Islam und Christentum als ihm Fremd ab. Prinzipiell dem Kapitalismus verpflichtet, stößt dessen neoliberale Version allerdings auf Widerstände im eigenen Lager, insoweit die damit potenziell verbundene partielle Dominanz ausländischen Kapitals mit dem eigenen wirtschaftlichen Nationalismus kollidiert.
Die Hindu-Ideologie findet Umfragen zufolge besonderen Anklang unter den städtischen Mittelschichten mit hohem Bildungsgrad (Abitur und höher), die zudem zu den oberen Kasten gehören. Sie fühlen sich allseitig bedroht: wirtschaftlich von der verschärften Konkurrenz nicht zuletzt durch die aufsteigenden Minderheiten; politisch durch die allerorts aufkeimenden nationalistischen Bewegungen — in Kaschmir, bei den Sikhs im Punjab, bei den Völkern und Stämmen im östlichen Dreieck Indiens nahe den Grenzen zu Myanmar und Bangladesh; kulturell durch den den Minderheiten staatlich zugesicherten besonderen Schutz. Sie lehnen den Säkularismus, der den Muslimen Eigenständigkeit im Privat- und Familienrecht einräumt und den Christen Missionierung zugesteht, als Angriff auf das Hindutum ab. Die hinduistische Mehrheit wird als einzige authentische Repräsentantin Indiens definiert. Vom Himalaya bis Cape Comorin ist das Vaterland der Hindus heilig und deshalb unteilbar.
Diese ausgrenzende Setzung der Mehrheit als einzig wahren Repräsentantin der Nation hat zur drastischen Verschärfung und Verlagerung der gesellschaftlichen Konflikte geführt: vereinzelt zu Ausschreitungen gegen Christen, vor allem aber zu blutigen Pogromen gegen Muslime.
Der programmatische Wandel erklärt auch den Wandel in der Außenpolitik: die Selbsterklärung zur Atommacht, die Gegnerschaft zu Pakistan bzw. dem Islam, die Hinwendung zu Israel und die Unterstützung der Besatzungspolitik der USA im Irak.
Angesichts der wachsenden Ungleichheiten im Zuge der neoliberalen Weltmarktöffnung und den zunehmenden sozialen Konflikten soll der Hindu-Fundamentalismus verbunden mit staatlicher Repression gegen Minderheiten als ideologischer Kitt dienen.

John P. Neelsen

Der Autor lehrt am Institut für Soziologie der Universität Tübingen.



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