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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 13

Auf dem Weg zum totalen Markt?

EU will Binnenmarkt auf Dienstleistungen ausdehnen

Die Europäische Kommission hat am 13.Januar 2004 einen Richtlinienvorschlag zur Schaffung eines Binnenmarkts für Dienstleistungen bis 2010 beschlossen. Der programmatische Titel lautet »Abbau der bürokratischen Hindernisse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas«.

Der Dienstleistungssektor steht im EU-Durchschnitt inzwischen für rund 70% der Wirtschaft, deutlich vor der Industrie. Auf die von der Richtlinie betroffenen Dienstleistungen entfallen nach Kommissionsangaben etwa 50% der gesamten Wirtschaftstätigkeit der EU. Es geht also um eine immensive Vertiefung des Binnenmarktprojekts seit dessen Start 1993. Der zuständige Kommissar Frits Bolkestein, seines Zeichens Liberaler, erhebt schon seit längerem Klage über die ungenügende Dynamik des bisherigen Binnenmarktprojekts, der bisherige Binnenmarkt sei immer noch von starken Hindernissen für den Wettbewerb geprägt, insbesondere im Dienstleistungsbereich. »Die nationalen Vorschriften sind z.T. archaisch, übertrieben aufwändig, und sie verstoßen gegen das EU-Recht. Diese Vorschriften müssen schlichtweg verschwinden. Wesentlich länger ist die Liste der unterschiedlichen nationalen Vorschriften, die grundlegend reformiert werden müssen. Es hat jedoch keinen Sinn, dies nur lautstark zu beklagen. Vielmehr müssen wir konsequent und pragmatisch handeln und auf Zusammenarbeit setzen.« (Pressemitteilung der Kommission vom 13.1.2004.)
Die vorgeschlagene Richtlinie gilt für sämtliche Dienstleistungen für Verbraucher und Unternehmen, es sei denn, sie werden vom Staat direkt und unentgeltlich aufgrund seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen oder rechtlichen Verpflichtungen erbracht. Ebenfalls nicht unter die Richtlinie fallen die Dienstleistungen, für die bereits spezielle EU-Vorschriften gelten (etwa Finanzdienstleistungen, Telekommunikation und Verkehr).

Worum geht es im Einzelnen?

Die Richtlinie gilt somit für eine Vielzahl von Branchen, etwa für den Handel (insbesondere den Einzelhandel), das Baugewerbe (einschließlich Dienstleistungen von Architekten), den Freizeitbereich (etwa Reisebüros und -veranstalter), IT-Dienstleistungen, Werbung, Autovermietung, Beschäftigungsagenturen, Sicherheitsdienste, audiovisuelle Dienste und Gesundheit. Sie gilt auch für reglementierte Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater), zu denen nur Personen mit bestimmter Berufsqualifikation Zugang haben), wobei bereits geltende EU- Vorschriften von der Richtlinie unberührt bleiben. Ob Dienstleistungen unter die Richtlinie fallen, ist unabhängig davon, ob sie persönlich oder im Fernabsatz (etwa über das Internet) erbracht werden.
Die öffentliche Daseinsvorsorge ist von der Richtlinie insoweit betroffen, als sie — mit bestimmten Ausnahmen — eine sog. wirtschaftliche Tätigkeit darstellt. Öffentliche Schulen und Bildungseinrichtungen fallen als nichtwirtschaftliche Dienste also nicht darunter, sofern sie kostenlos entsprechend des öffentlichen Bildungsauftrags operieren — wohl aber private Bildung, Weiterbildung usw. Transportdienste fallen ebenfalls nicht darunter, außer private Ambulanzdienste und Beerdigungstransporte. Postdienste, Elektrizitäts-, Gas und Wasserversorgung (bei Wasser nur die Verteilnetze) sollen nicht unter das Herkunftslandprinzip (siehe unten) fallen.
Im Bereich des Gesundheitswesens soll Patientenmobilität geschaffen werden (außer bei Krankenhausbehandlung), ohne dass eine vorherige Genehmigung durch die Krankenkasse erforderlich ist. Die Kosten einer ambulanten Behandlung in einem anderen EU-Land sind von dem System des Herkunftslands des Patienten in dem Umfang und zu den Sätzen zu erstatten, die normalerweise für die Erstattung der betreffenden Leistungen gelten würden, wenn sie im Herkunftsland erbracht würde.
Im Fall der Krankenhausversorgung in einem anderen Mitgliedstaat kann eine vorherige Genehmigung verlangt werden; sie muss jedoch in den Fällen erteilt werden, in denen die Kosten der betreffenden Versorgung im Herkunftsland des Patienten normalerweise erstattet würden, die Versorgung dort aber nicht innerhalb eines Zeitraums erfolgen kann, der unter Berücksichtigung des derzeitigen Gesundheitszustands des Patienten und der wahrscheinlichen Krankheitsursache medizinisch vertretbar ist.
Eine umfassende Strategie für Fragen der Patientenmobilität und der Entwicklung der Gesundheitsversorgung in Europa wird darüber hinaus Gegenstand einer Mitteilung sein, die von der Kommission im Frühjahr 2004 vorgelegt wird. Dies könnte einen ersten Einstieg in den allseits geforderten EU-Binnenmarkt für Gesundheitsdienste und -produkte eröffnen.

Was bei GATS nicht gelang…

Einzelstaatliche Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit von Dienstleistungsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten würden beseitigt. Die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen würde erleichtert. Die vorgeschlagene Richtlinie sieht die Anwendung des Herkunftslandprinzips vor, d.h. wenn ein Dienstleister in einem Mitgliedstaat rechtmäßig tätig ist, kann er seine Dienstleistungen auch in anderen Mitgliedstaaten anbieten, ohne in diesen »Aufnahmemitgliedstaaten« weitere Vorschriften erfüllen zu müssen.
Damit wird das Binnenmarktprinzip der wechselseitigen Anerkennung nationaler Standards und der regulatorischen Konkurrenz ins Spiel gebracht. Die vorgeschlagene Richtlinie soll weiterhin gewährleisten, dass die nationalen Stellen Informationen austauschen und wesentlich enger zusammenarbeiten. An die Stelle unterschiedlicher nationaler Vorschriften und Kontrollen würde ein wesentlich vereinfachtes und unternehmensfreundlicheres europäisches System treten.
Ebenfalls sollen bürokratische Hindernisse für die Entsendung von Beschäftigten in einem anderen Mitgliedstaat abgebaut werden. Was die Mindestlöhne und die sonstigen Beschäftigungsbedingungen betrifft, »so würden für die Dienstleister jedoch weiterhin die einschlägigen Vorschriften des Aufnahmelandes gelten«.
Eine europaweite Harmonisierung von Vorschriften für den Dienstleistungssektor wird nur in einigen wenigen Bereichen angestrebt (z. B. Berufshaftpflicht bei risikobehafteten Dienstleistungen, bestimmte Regeln und Grenzen für Werbung in reglementierten Berufen, die allerdings auf freiwilligen Verhaltenskodizes der entsprechenden Berufsgruppen basieren soll).
Was Außenhandelskomissar Pascal Lamy in punkto GATS auf der globalen Ebene bisher nicht gelang, soll nun auf EU-Ebene verschärft in Angriff genommen werden.

Klaus Dräger

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