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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 17

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Über Alternativen zur Repressanda von P.Grottian et al.

Reformen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sind notwendiger denn je. Sie müssen aber auch den Namen verdienen.
Die Agenda 2010, die Bundeskanzler Gerhard Schröder im März 2003 in seiner Regierungserklärung zum Umbau des Sozialstaats verkündet hat, betrifft Reformen, die den Namen nicht verdienen: Arbeitsmarktpolitik, Gesundheitspolitik, Rentenpolitik. Andere Aspekte sind Gemeindefinanzierung und Bildungsreform. »Reformiert« werden soll auf Kosten der Erwerbslosen und Armen. Beinahe hätte man den Eindruck gewonnen, diese glaubten schon selbst, dass sie diejenigen sind, die den Gürtel enger schnallen müssen; erst spät merkten sie, dass die Gürtel anderer schon beinahe nicht mehr über deren Bäuche passen. Demonstrationen und Proteste waren zunächst dünn.
Aber am 1.11.2003 kamen viele nach Berlin, obwohl die Gewerkschaftsspitzen sich nicht getraut hatten, zum Protest aufzurufen. Was fehlt, sind Gegenkonzepte.
Die Alternativen zur Repressanda 2010 von Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth scheinen ein Lichtblick am Horizont. Aber — auch Alternativen müssen ihren Namen verdienen. Das von den Autoren 29.11.2003 in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte Konzept basiert auf Grundsicherung, einem neuen Verständnis von Arbeit und der Stärkung der Kommunen, und es ist nicht wirklich eine Alternative zur Agenda 2010.

Grundsicherung

»Die Grundsicherung ist die positive Antwort auf die strukturelle Krise der kapitalistisch verfassten Arbeitsgesellschaft«, sagen die Autoren. Die Grundsicherung ist eine immer wieder aufgelegte und nie verwirklichte Antwort. Zahlreiche Modelle haben Parteien, Gewerkschaften und Betroffenenverbänden in den letzten Jahrzehnten vorgelegt. Dabei geht es vor allem darum, die wachsenden Teile der Bevölkerung, die nicht oder zumindest über einen längeren Zeitraum nicht mit kontinuierlichen Möglichkeiten erwerbsabhängiger Existenzsicherung rechnen können, sozial abzusichern.
Für viele arme und ausgegrenzte Menschen ließe sich ohne Zweifel die diskriminierende Situation verbessern, wenn sie anstelle der Sozialhilfe eine existenzsichernde Grundsicherung erhalten würden. Bei den meisten Modellen hapert es daran, dass die Höhe der Leistungen nicht existenzsichernd ist. Grottian u.a. nennen keine Beträge. Die Forderung nach einem Sockelbetrag, der »ein bürgerliches Leben ohne Not« gestattet, ist vage und lässt offen, wer dieses »bürgerliche Leben« definiert. Hier stand der alte Traum der Arbeiterklasse nach einem bürgerlichen Leben, »dass wir unsere Familien ehrlich und ordentlich ernähren können«, Pate.
Was ist mit dem (oder der), der (oder die) lieber nicht bürgerlich leben möchte? Aus feministischer Sicht wird schon lange kritisch hinterfragt, ob eine Grundsicherung geeignet ist, die Diskriminierung zwischen den Geschlechtern auch nur abzuschwächen. Durch Grundsicherung bleiben die Ursachen für Armut und Ausgrenzung und die sozialen und geschlechterspezifischen Schichtungen in unserer Gesellschaft zunächst unangetastet. Die Gefahr, dass ein Teil der Menschheit mit Grundsicherung zu Langzeit- oder Permanenterwerbslosen oder zu Hausfrauen wird, darf jedenfalls nicht übersehen werden.X2
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Sich selbst eine Arbeit suchen

»Die neuen Arbeitnehmleute finden, erfinden, wählen und suchen ihre Arbeitsplätze«, sagen die Autoren.
Abgesehen davon, dass zu Zeiten eines Überangebots an Arbeitskräften die Lohnabhängigen schon immer Erfindergeist entwickeln mussten, um ihre Teilhabe an der bezahlten Erwerbsarbeit zu sichern, gab es in der Vergangenheit bereits Konzepte, die in diese Richtung gingen: Die EU appelliert seit vielen Jahren an den »Unternehmergeist« und unterstützt Existenzgründungen mit Förderprogrammen. Viele Gründer machen pleite oder sind arm, weil sie sich (z.B. als Heimarbeiterinnen am Schreibcomputer) nur ein Hungergehalt auszahlen können.
Ulrich Beck ist mit dem Konzept der »Bürgerarbeit für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger und andere ganz, vorübergehend oder teilzeitig aus der Erwerbsarbeit Ausgestiegene« 1997 populär geworden. Bürgerarbeiter sollten sich für Belohnung statt Entlohnung oder für ein bisschen Bürgergeld (Grundsicherung) eine sinnvolle Arbeit als »Gemeinwohl-Unternehmer« suchen. Auch sie sollten »als Betreuer von Alten, von Schülern, von Behinderten und Kindern« (Grottjan u.a.) arbeiten. Dass nunmehr auch Arbeiten im Kultur-, Lehr-, Reinigungs- und Ökologiebereich für »die Arbeitnehmleute« ins Auge gefasst werden, wird den Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse, für deren tarifliche Bezahlung der Staat angeblich kein Geld hat, ausweiten.
Unklar bleibt, mit wem die »Arbeitnehmleute« den anvisierten Arbeitsvertrag über Teil- oder Vollarbeitszeit — auf drei Jahre begrenzt — abschließen sollen. Klar ist, dass für den Vertrag die Einhaltung »einiger Minima der Sozialcharta« reichen. Für den Lohn der Arbeit, der offensichtlich aus öffentlichen Mitteln gezahlt werden soll, gelten keine Tarifverträge, es reicht, wenn er »erheblich über der Grundsicherung« liegt. Hier heißt es, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
Bei der (zu Recht) kritisierten Agenda 2010 geht es ebenfalls darum, die Beschäftigungs- und Versorgungsperspektiven eigenständig zu regeln. Ich- und Familien-AGs werden mit steuerfreien — auf drei (!) Jahre begrenzten — Existenzgründungszuschüssen versehen und sind rentenversichert. Mehr als 50000 Menschen haben sich bis zum Jahresende 2002 ihren Arbeitsplatz selbst gesucht. Bei beiden Modellen (Agenda 2010 und Grottian et al.) handelt es sich um eine Propagierung des — besonders für Frauen — ohnehin schon großen Niedriglohnsektor, um eine Aushebelung erkämpfter Arbeitnehmerrechte und weitere Prekarisierung der Erwerbsarbeit. Vieles, was »normale« Arbeitsverhältnisse auszeichnet, fehlt den selbst organisierten Arbeitsplätzen, vor allem ein fester Arbeitsplatz, soziale Kontakte mit Kolleginnen und damit soziale Anerkennung und die Möglichkeit zu solidarischem Handeln. Kleine Handwerksbetriebe und auch der »Mittelstand« fürchten (zu Recht) die Vernichtung ihrer Existenz durch die Konkurrenz der »neuen Selbständigen«, Ich- AGs oder eben der »Arbeitnehmleute«.
Für alle diese Konzepte gilt: Auch wenn Stellen nicht mehr vermittelt, sondern selbst gesucht werden sollen, müssen Stellen vorhanden sein. Bei über vier Millionen (registrierten) Erwerbslosen, darunter alle Berufsgruppen, erscheint es zynisch, auf ein »großes Spektrum von Arbeitschancen« zu verweisen, das sich attraktiv für diejenigen dehnt, die sich selbst eine Arbeit geben.
Die Aufzählung von »selbstbestimmten vielfältigen Arbeitsplätzen«, oder — wie es in der Langfassung des Artikels heißt, »selbstbestimmte Arbeiten des aufrechten Gangs« — die außerhalb des Pflegebereichs angesiedelt sind, lässt wenig Fantasie vermuten. Genannt werden: »Stadtteilhelferin, Fußball- Fanclub-Begleiterin, Rechercheurin in Forschungsprojekten, Fliegende Café-Dienstleisterin, Märchenerzählerin für Kinder, Festivalhelfer, Ökologieassistent, City-Cleanerin, Lehrerassistent, Quartiersmanagerin und Musikassistentin.«

Umverteilung von aller Arbeit

Die Aufzählung erinnert verdammt an alle Register, die gezogen werden, wenn es um die Propagierung von unbezahlter ehrenamtlicher Arbeit im Sozial-, Gesundheits- und Kulturbereich geht (sog. Bürgerschaftliches Engagement). Kein Wunder, dass dann, wenn gefordert wird, die »Arbeits- und Sozialämter ebenfalls neu zu denken«, bzw. teilweise abzuschaffen, Beratungsagenturen als ehrenamtliche lokale Gremien oder private Agenturen als »Innovation« erscheinen.
Diesem Anliegen kann man nur zustimmen. Es geht um eine Arbeitszeitverkürzung, wie sie Frauen in Parteien, Gewerkschaften und in autonomen Zusammenhängen schon lange fordern (6-Stunden-Tag für alle). Die Förderung »freiwilliger Teilzeitarbeit« oder »Teilzeit für junge Paare« (Grottian u.a.) kann also nur eine Notlösung sein, solange allgemeine Arbeitszeitverkürzung nicht durchgesetzt ist. Förderung von Teilzeitarbeit ist ohnehin nur dann sinnvoll, wenn die Teilzeitarbeitenden aus dem Erlös ihrer Arbeit ihre eigene Existenz sichern können. Ein Schuhverkäufer in einem Kaufhaus oder eine Kassiererin im Supermarkt kann das nicht.
Eine wirkliche soziale Innovation oder Alternative zur »Agenda 2010« stellen weder die Ausweitung von nicht existenzsichernder Teilzeitarbeit, noch die »Grundsicherung« noch die »Selbstsuche nach Arbeit« dar. Bei der zuletzt genannten »Alternative« geht es um individuelles Risikomanagement. Die Philosophie der »Selbstsuche« zielt ebenso wie die der Ich-AG auf die Pflicht zur Nutzung der Marktchancen durch die Erwerbslosen und auf die moralische Pflicht zur Selbstverantwortlichkeit, mithin auf das individuelle Risikomanagement.
Sinnvoller als eine weitere Spaltung des Arbeitsmarkts — nunmehr in »Arbeitnehmer« und (individualisierte) »Arbeitnehmleute« — erscheint eine Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen und sinnvollen bezahlten Arbeit und der unbezahlt geleisteten Arbeit wie auch der Verantwortung für die Mit- und Umwelt auf beide Geschlechter.
Wir — und damit meine ich alle, die mit den »Reformen« nicht einverstanden sind — werden also nicht umhinkommen, weiter über neue wirklich alternative, kollektiv organisierte und »geschlechterdemokratische« Wege zur Existenzsicherung und zum Leben nachzudenken. Das Ziel der eigenständigen Existenzsicherung durch sinnvolle Arbeit (als Summe von bezahlt und unbezahlt geleisteter Arbeit) für Männer und Frauen darf nicht verloren gehen.

Gisela Notz

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