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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 18

Slavoj Zizek zur Kritik bürgerlicher Freiheit

Was tun (mit Lenin)?

Wladimir Iljitsch Lenin starb vor 80 Jahren, am 21.Januar 1924 — bedeutet das verlegene Verschweigen seines Namens, dass er zweimal gestorben ist, dass auch sein Erbe tot ist? Seine Unempfindlichkeit in Bezug auf die persönlichen Freiheiten ist unserer liberal-toleranten Sensibilität tatsächlich fremd, denn wem schauderte heute nicht anlässlich seiner abschätzigen Bemerkungen gegenüber der Kritik der Menschewiki und Sozialrevolutionäre an der Machtausübung der Bolschewiki im Jahre 1922?
»Wahrhaftig, die Art von Predigt, wie sie … die Menschewiki und Sozialrevolutionäre vom Stapel lassen, spiegelt ihre eigene Natur wider: ›Die Revolution ist zu weit gegangen. Was du heute sagst, haben wir immer gesagt. Gestattet uns, das noch einmal zu wiederholen.‹ Wir aber antworten darauf: ›Gestattet uns, euch dafür an die Wand zu stellen. Entweder unterlasst es gefälligst, eure Ansichten auszusprechen, oder aber, wenn ihr in der gegenwärtigen Lage, wo wir uns in weit schwierigeren Verhältnissen befinden als bei der direkten Invasion der Weißen, eure politischen Ansichten auszusprechen wünscht, dann werden wir, entschuldigt schon, mit euch verfahren wie mit den schlimmsten und schädlichsten weißgardistischen Elementen.‹« [Werke, Bd.33, S.269.]

Freiheit in Sowjetrussland

Diese abschätzige Haltung gegenüber der »liberalen« Auffassung von Freiheit begründet Lenins schlechten Ruf unter den Liberalen. Ihre Argumente beruhen weitgehend auf ihrer Ablehnung der klassischen marxistisch-leninistischen Entgegensetzung von »formaler« und »tatsächlicher« Freiheit, doch auch Linksliberale wie Claude Lefort betonen immer wieder, dass Freiheit schon vom Begriff her »formal« ist, sodass »tatsächliche Freiheit« dem Mangel an Freiheit gleichkommt. An Lenin denkt man dabei am ehesten wegen seiner berühmten Erwiderung: »Freiheit — ja, aber für wen? Wozu?« Für ihn lief im oben zitierten Fall der Menschewiki, deren »Freiheit«, die bolschewistische Regierung zu kritisieren, faktisch auf die »Freiheit« hinaus, die Regierung der Arbeiter und Bauern zugunsten der Konterrevolution zu untergraben.
Aber ist es nicht heute, nach der erschreckenden Erfahrung des »real existierenden Sozialismus«, vollkommen klar, wo der Fehler dieser Argumentation liegt? Erstens reduziert sie eine historische Konstellation auf eine geschlossene, kontextgebundene Situation, in der die »objektiven« Folgen der eigenen Handlungen vollständig determiniert sind (»unabhängig von euren Absichten, dient das, was ihr tut, jetzt objektiv…«). Zweitens usurpiert die Äußerung solcher Stellungnahmen das Recht zu entscheiden, was diese Handlungen »objektiv bedeuten«, sodass ihr augenscheinlicher »Objektivismus« die Form ihres Gegenteils annimmt, eines völligen Subjektivismus: Ich entscheide, was eure Handlungen objektiv bedeuten, denn ich definiere den Kontext einer Situation (wenn ich meine Macht als den unmittelbaren Ausdruck bzw. das unmittelbare Äquivalent der Macht der Arbeiterklasse begreife, dann ist jeder, der sich mir widersetzt, »objektiv« ein Feind der Arbeiterklasse).

Freiheit im Neoliberalismus

Ist das jedoch die ganze Geschichte? Wie funktioniert Freiheit wirklich in liberalen Demokratien? Obgleich Clintons Präsidentschaft die Quintessenz des Dritten Weges heutiger (Ex-)Linker ist, die der rechten ideologischen Erpressung unterliegen, würde sein Programm der Gesundheitsreform dennoch auf eine Art von Handlung hinausgelaufen sein, zumindest unter den heutigen Bedingungen, denn es hätte auf der Ablehnung der hegemonialen Auffassungen beruht, nach der es erforderlich sei, die staatliche Verwaltung und Ausgaben zu kürzen — gewissermaßen zielte es darauf ab, »das Unmögliche zu tun«. Kein Wunder also, dass es scheiterte. Sein Scheitern — vielleicht das einzig bedeutende, wenngleich negative, Ereignis in Clintons Amtszeit — zeugte von der materiellen Macht des ideologischen Begriffs der »freien Entscheidung«. Das heißt, wenngleich die große Mehrheit der sog. »kleinen Leute« mit dem Reformprogramm nicht entsprechend informiert war, konnte die Medizinerlobby (sie ist doppelt so stark wie die berüchtigte Rüstungslobby!) in der Öffentlichkeit die grundlegende Vorstellung durchsetzen, dass mit einer allgemeinen Gesundheitsversorgung die freie Entscheidung (Fragen der Medizin betreffend) irgendwie bedroht würde. Gegen diese rein fiktive Bezugnahme auf die »freie Entscheidung« war jedwede Auflistung »harter Fakten« (in Kanada ist das Gesundheitssystem weniger teuer und doch effektiver, mit nicht weniger freier Auswahl usw.) machtlos.
Wir sind hier beim Nervenzentrum der liberalen Ideologie angelangt: das Beharren auf der freien Entscheidung — die heute in der Ära der von Soziologen wie Ulrich Beck so bezeichneten »Risikogesellschaft« so dringlich ist —, gerade weil die herrschende Ideologie uns die durch den Abbau des Sozialstaats hervorgerufene Unsicherheit als Gelegenheit für neue Freiheiten zu verkaufen sucht. Musst du jedes Jahr den Job wechseln, jedesmal mit Zeitverträgen, statt einer langfristigen stabilen Anstellung? Warum begreifst du es nicht als Befreiung von den Zwängen eines festen Jobs, als die Chance, dich selbst immer wieder neu zu finden und die verborgenen Potenzen deiner Persönlichkeit zu entdecken und zu verwirklichen? Kommst du mit der Standardversicherung für Gesundheit und Rente nicht mehr aus, sodass du dich zusätzlich versichern musst, mit zusätzlichen Kosten? Warum begreifst du es nicht als zusätzliche Entscheidungsmöglichkeit: entweder ein besseres Leben jetzt oder langfristige Sicherheit? Und wenn dich diese Situation beunruhigt, wird dich der Ideologe der Postmoderne oder der »zweiten Moderne« beschuldigen, dass du unfähig bist, die vollständige Freiheit zu erreichen, da du in der »Flucht vor der Freiheit« schwelgst oder unreif an alten festgefahrenen Formen klebst. Und wenn diese Situation mit der Ideologie des Subjekts als psychologisches Individuum verbunden wird, das mit natürlichen Fähigkeiten und Tendenzen schwanger geht, werden all diese Veränderungen als die Ergebnisse ihrer Persönlichkeit interpretiert, nicht als Resultat der Kräfte des Marktes.
Solche Phänomene machen es heute umso nötiger, die Entgegensetzung von »formaler« und »tatsächlicher« Freiheit in einem neuen, präziseren Sinn zu bekräftigen. Nehmen wir die Situation in den osteuropäischen Ländern um 1990, als der »real existierende Sozialismus« zusammenbrach: Plötzlich gelangten die Menschen in eine Situation der »Freiheit der politischen Entscheidung« — doch wurde ihnen wirklich an jedem Punkt die fundamentale Frage gestellt, welche Art von neuer Ordnung sie tatsächlich wollten? Als erstes wurde ihnen erzählt, dass sie das verheißene Land der politischen Freiheit betreten würden; bald danach wurden sie darüber informiert, dass zu dieser Freiheit ungezügelte Privatisierung, der Abbau der sozialen Sicherheit usw. gehören. Sie haben immer noch die freie Wahl; wenn sie wollten, könnten sie sich ausklinken. Doch unsere heroischen Osteuropäer wollten ihre westlichen Vormunde nicht enttäuschen, und so hielten sie stoisch an der Entscheidung fest, die sie nie getroffen hatten, und überzeugten sich selbst, dass sie sich als reife Subjekte verhalten sollten, denen bewusst ist, dass die Freiheit ihren Preis hat.
Doch hier ist das Wagnis angebracht, die Lenin‘sche Entgegensetzung von »formaler« und »tatsächlicher« Freiheit wieder einzuführen: Das Moment von Wahrheit in Lenins ätzender Replik auf seine menschewistischen Kritiker liegt darin, dass die wahrhaft freie Wahl eine Wahl ist, in der ich nicht bloß zwischen zwei oder mehr Optionen in einem vorgegebenen Koordinatensatz wähle, sondern mich entscheide, diese Koordinaten selbst zu ändern. Der Haken beim »Übergang« vom »real existierenden Sozialismus« war, dass die Menschen niemals die Chance hatten, das ad quem dieser Situation zu wählen — plötzlich wurden sie in eine neue Situation (nahezu buchstäblich) »geworfen«, in denen ihnen ein neuer Satz vorgegebener Alternativen präsentiert wurde (reiner Liberalismus, nationalistischer Konservatismus).
Darum geht es bei Lenins obsessiven Tiraden gegen die »formale« Freiheit und darin besteht ihr »rationaler Kern«, den es heute zu bewahren gilt: Wenn er betont, dass es keine »reine« Demokratie gibt, dass wir uns stets fragen sollten, wem eine bestimmte Freiheit dient und was ihre Rolle im Klassenkampf ist, besteht sein Anliegen genau in der Bewahrung der Möglichkeit zu einer echten radikalen Wahl. Darauf läuft die Unterscheidung zwischen »formaler« und »tatsächlicher« Freiheit letztlich hinaus: »formale« Freiheit ist die Freiheit der Wahl innerhalb der Koordinaten der bestehenden Machtverhältnisse, während »tatsächliche« Freiheit den Ort einer Intervention kennzeichnet, die genau diese Koordinaten untergräbt. Lenins Anliegen ist es nicht, die Freiheit der Wahl zu begrenzen, sondern die grundlegende Wahl zu bewahren — wenn Lenin nach der Rolle einer Freiheit im Klassenkampf fragt, lautet seine Frage exakt: »Trägt diese Freiheit zur grundlegenden revolutionären Wahl bei oder schränkt sie diese ein?«

Kleine Freiheit Nr.8

In den letzten Jahren war die populärste Fernsehshow in Frankreich (mit einer doppelt so hohen Einschaltquote wie die berüchtigte Big Brother- Show) C‘est mon choix (»Dies ist meine Entscheidung«), eine Talkshow, deren jeweiliger Gast eine »normale« (oder ausnahmsweise prominente) Person ist, die eine spezifische Entscheidung getroffen hat, die ihren gesamten Lebensstil bestimmt: so beschloss die eine, niemals Unterwäsche zu tragen, eine andere versucht die ganze Zeit, einen passenderen Sexualpartner für ihren Vater oder ihre Mutter zu finden. Das Extravagante ist erlaubt, ja sogar erbeten, aber mit der ausdrücklichen Ausnahme von Entscheidungen, die die Öffentlichkeit verstören könnten (eine Person bspw., die sich entscheidet, rassistisch zu sein und dementsprechend zu handeln, ist a priori ausgeschlossen). Kann man sich einen besseren Ausdruck dafür vorstellen, was »Freiheit der Wahl« in unseren liberalen Gesellschaften tatsächlich bedeutet? Wir können weiter unsere kleinen Entscheidungen treffen, vollständig »uns neu erfinden« — unter der Bedingung, dass diese Entscheidungen nicht ernsthaft das soziale und ideologische Gleichgewicht stören.
In Bezug auf die Show C‘est mon choix wäre es eine wirklich radikale Sache gewesen, sich genau auf die »störenden« Entscheidungen zu fokussieren: als Gäste engagierte Rassisten einzuladen, also Menschen, deren Wahl (deren Differenz) tatsächlich anders ist. Dies ist auch der Grund, warum heute »Demokratie« mehr und mehr eine falsche Angelegenheit ist, ein Begriff, der durch seinen vorherrschenden Gebrauch derart diskreditiert ist, dass man vielleicht das Risiko eingehen sollte, ihn dem Feind zu überlassen. Wo, wie, von wem werden die wichtigen Entscheidungen, die globale soziale Fragen betreffen, getroffen? Werden sie im öffentlichen Raum getroffen, durch die engagierte Beteiligung der Mehrheit? Wenn die Antwort »Ja« lautet, ist es von sekundärer Bedeutung, ob der Staat ein Ein-Partei-System hat. Wenn die Antwort »Nein« lautet, ist es von sekundärer Bedeutung, ob wir eine parlamentarische Demokratie und Freiheit der individuellen Entscheidungen haben.
Bezüglich der Auflösung des »Staatssozialismus« vor zwei Jahrzehnten sollten wir nicht vergessen, dass etwa zur selben Zeit auch der westlichen sozialdemokratischen Ideologie des Wohlfahrtstaats ein entscheidender Schlag versetzt wurde, dass auch sie aufgehört hat, als das imaginäre Ziel zu dienen, das eine kollektive leidenschaftliche Gefolgschaft erweckt. Die Auffassung, nach der »die Zeit des Wohlfahrtstaats vorbei ist«, gilt heute als allgemein anerkannte Weisheit. Was diesen beiden besiegten Ideologien gemein war, ist die Auffassung, dass die Menschheit als kollektives Subjekt die Fähigkeit hat, irgendwie die unpersönliche und anonyme historisch-gesellschaftliche Entwicklung zu zügeln, sie in eine gewünschte Richtung zu lenken. Heute wird eine solche Auffassung schnell als »ideologisch« und/oder »totalitär« abgetan: Der gesellschaftliche Prozess wird wieder als von einem anonymen Schicksal beherrscht begriffen, das außerhalb jeder sozialen Kontrolle liegt. Der Aufstieg des globalen Kapitalismus wird uns als ein solches Schicksal präsentiert, gegen das man nicht kämpfen kann — entweder man passt sich ihm an oder man geht nicht mehr im Gleichschritt mit der Geschichte und wird zermalmt. Das einzige, was zu tun bleibt, ist den globalen Kapitalismus so menschlich wie möglich zu gestalten, für den »globalen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz« zu kämpfen (darum genau geht es — oder vielmehr ging es — beim Dritten Weg).
Unsere grundlegende politische Wahl in den USA — bspw. zwischen Demokraten oder Republikanern — kann uns nur an unsere Lage erinnern, in der wir uns befinden, wenn wir künstlichen Süßstoff in einer amerikanischen Kaffeebar haben wollen: die allgegenwärtige Alternative zwischen Equal und Sweet & Lo, zwischen kleinen blauen und roten Tütchen, wobei jede Person ihre Vorlieben hat (vermeide die roten, sie enthalten krebserregende Substanzen, oder umgekehrt). Dieses lächerliche Kleben an solcher Wahl betont nur die völlige Bedeutungslosigkeit einer solchen Alternative. Und gilt dasselbe nicht auch für die Wahl zwischen Cola und Pepsi?
Es ist eine bekannte Tatsache, dass in den meisten Aufzügen der Knopf »Tür schließen« ein völlig funktionsloses Plazebo ist, das nur dazu da ist, den Individuen den Eindruck zu verschaffen, dass sie irgendwie beteiligt sind und die Geschwindigkeit ihrer Aufzugfahrt beeinflussen können — wenn wir den Knopf drücken, schließt die Tür in genau derselben Zeit, wie wenn wir nur den Knopf für die Etage gedrückt haben. Dieser extreme Fall vorgetäuschter Beteiligung ist eine angemessene Metapher für die Beteiligung der Individuen in unserem »postmodernen« politischen Prozess.
Deshalb neigen wir heute dazu, Lenin zu umgehen: nicht weil er ein »Feind der Freiheit« war, sondern weil er uns an die fatale Beschränkung unserer Freiheiten erinnert; nicht weil er uns keine Wahl lässt, sondern weil er uns daran erinnert, dass unsere »Gesellschaft der Wahlmöglichkeiten« jede echte Wahl ausschließt.

Slavoj Zizek

(Übersetzung aus dem Englischen: Hans-Günter Mull.)
Der Autor ist Philosoph und Psychoanalytiker und Autor zahlreicher Bücher und Artikel. Über Lenin veröffentlichte er »Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin« (2002).



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