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Es gibt bekanntlich Menschen, die um ihren Schlaf gebracht sind, wenn sie an ihr Land denken. Manche von ihnen Ralf
Dahrendorf bescheinigte ihnen seinerzeit eine »romantische Haltung« sind durch die »politische Haltung des Rückzugs aus der
Politik« gekennzeichnet. Ihre existenzielle Zuflucht finden sie in der sog. »inneren Emigration«. Andere die der »tragischen
Haltung« sind solchermaßen vom Zustand ihres Landes umgetrieben, dass »sie es verlassen müssen, um sich selbst zu
erhalten«. Das Exil ist ihnen existen-ziell aufgezwungen. Es gibt aber auch die, die sich angesichts des schlecht Bestehenden jeglicher affirmativen Haltung
ihrem Land gegenüber enthalten, dabei aber weder den Weg der inneren Emigration noch den des physischen Exils beschreiten, sondern in ihrem Land und
gegen es, aktiv, radikal, unermüdlich und unverdrossen für das bessere Leben aller kämpfen; jene, die nicht nur um den Schlaf gebracht sind,
sondern sich bewusst auch um die Möglichkeit eines Aufgehens in der (trügerischen) Wärme des Kollektivkonsenses bringen, um dereinst
überhaupt erst schlafen zu können und sich das Gefühl der Zugehörigkeit nicht um den Preis der Hinnahme entmenschlichter
Kollektivverhältnisse erkaufen zu müssen.
Zu dieser dritten Kategorie gehört in Israel Michael Warschawski. In Straßburg als Sohn
einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren, in seiner frühen Jugend nicht aus zionistischen Beweggründen, mithin nicht um Israeli zu sein, sondern
um sein religiöses Judentum leben zu können, nach Israel nicht etwa ins modern-pulsierende Tel-Aviv, sondern in das damals in sich selbst
zurückgezogene, noch nicht national-chauvinistisch ideologisierte Jerusalem ausgewandert, war das genuine, von latenter Zugehörigkeit
durchwehte Fremdsein Warschawskis Lebensgeschichte gleichsam von Anbeginn eingeschrieben. Als sich diese Grundmatrix seines Lebens in den späten 60er
Jahren nach und nach zu politisieren begann, paradigmatisch auch in den Postulaten der von ihm mitbegründeten Mazpen-Bewegung einer dem
israelischen Triumphalismus nach dem 1967er Krieg rigoros entgegengesetzten antizionistischen Bewegung, die einer nichtzionistischen Koexistenz von Juden und
Palästinensern in Israel-Palästina das Wort redete ihren prononcierten Niederschlag fand, verfestigte sich das Fremdsein Warschawskis zu einem
(von ihm auch als solches ausgegebenen) Grenzgängertum, welches ihn nicht nur in seinem geistig-mentalen Selbstverständnis, sondern auch in seiner
realen Lebenspraxis, und zwar bis in die entlegensten Nischen des Alltags, prägend bestimmen sollte. Kein leichtes Unterfangen in einem Land, in welchem die
verspätete Gründung eines Staates auf seinem Territorium und die mit dieser einher gehende streng ideologisierte Konsolidierung der Gesellschaft ein
nahezu peinlich eingehaltenes Konsensverhalten und einen Zugehörigkeitsfetischismus zur Grundlage der Etablierung einer jüdischen Gemeinschaft
machte, in der nebulöse Identitätskategorien wie Volk, Nation und Religion ihre weltgeschichtliche Synthese erfahren sollten.
Nicht nur hatte man sich dabei mit der jüdischen Diaspora, aus der das zionistische
Nationalbewusstsein dialektisch erwachsen war, herumzuschlagen ein Zentralpostulat des Zionismus war ja die Negation der Diaspora , sondern die
reale Staatsgründung fand unter tragischen geschichtlichen Umständen statt, die die Beziehung zum zionistischen Kollektiv im gerade errichteten Staat
von Anbeginn manichäisch polarisierten: Zum einen erwies sich die Shoah, die die Errichtung einer jüdischen Heimstätte als künftigen
Zufluchtsort für verfolgte Juden gleichsam zur historischen Notwendigkeit hatte werden lassen, als ideologisch wirkmächtig, wobei diese Notwendigkeit
an eine kategorische Unhinterfragbarkeit der »Lösung« für das »Problem«, mithin an eine paranoid-überhebliche
Abgrenzung von der »restlichen Welt«, gekoppelt wurde.
Zum anderen wurzelte aber gerade in der nationalstaatlichen Emanzipation der Juden die Katastrophe
des palästinensischen Kollektivs, wenn man will: die zwangsläufige Verursachung einer katastrophischen Leiderfahrung des einen Kollektivs durch den
Ausgang des anderen aus seiner eigenen. Die, denen man das historische Leid zugefügt hatte, wurden von nun an nicht nur als lebensbedrohender Erzfeind
apostrophiert, sondern latent auch als manifeste Hinterfragung der eigenen staatlichen raison dętre wahrgenommen, wodurch denn die Loyalitäten
manichäisch (und strikt in der Forderung, sie einzuhalten) festgelegt waren.
Der vorliegende Band legt eine autobiografische Rechenschaft über die Erfahrungen mit
diesem grenzgängerischen Kampf um ein menschenwürdiges Leben in Israel-Palästina, um Emanzipation, um politische Versöhnung und
kulturelle Pluralisierung ab. Michael Warschawski enthält sich dabei weitgehend grober narzisstischer Impulse: die Individualerfahrung wird im Kontext
großer geschichtlicher, gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge ausgeleuchtet, das Private zumeist im Hinblick auf den emanzipatorischen
Kampf ums kollektiv Bessere anvisiert und erörtert.
Trotz des die gesamte Darstellung durchziehenden Grundtenors eines aufgeklärten Freiheits-
und Befreiungsdrangs wird dabei die Eigenentwicklung nicht eindimensional verhärtet bzw. zur dogmatischen Doktrin erhoben, sondern durchgehend auch im
Sinne der sich objektiv wandelnden Verhältnisse kritisch mitreflektiert. Dass dabei das Pathos der eigenen Minoritätszugehörigkeit mit dem Autor
hier und da durchgeht, ist nicht nur verzeihlich wieviele Juden in Israel könnten schon von sich behaupten, das Privileg des Judeseins so aufs Spiel
gesetzt, lebensgeschichtlich so viel (auf)geopfert zu haben wie Warschawski? , sondern ist sogar wünschenswert: Es verleiht dem vom ungeheuerlichen
Ernst seines Lebensprojekts durch und durch Getriebenen (ein Ernst, der seinen prägnanten Niederschlag auch in der Darstellung gefunden hat) die
»Schwäche« kurzer individueller Selbstvergewisserung, zugleich aber auch den nachfolgenden, eben diese »Schwäche«
relativierenden, selbstironischen Blick. Es lässt Warschawskis Heroismus wie auch den seiner nicht minder mutig engagierten Lebensgefährtin
Lea Tsemel menschlicher erscheinen.
Von Bedeutung ist dabei aber vor allem der im zentralen Motiv der theoretischen Matrix des
Emanzipationskampfes sich vollziehende Wandel, in welchem sich auch ein Stück linker Ideologiegeschichte widerspiegelt. Was in den Anfängen der
politischen Ausrichtung Warschawskis sich wie ein zwar sozialistisch fundierter, aber seinem Wesen nach eben abstrakter Universalismus, der sich an der
»Weltrevolution« und auch praktisch an globalen Zusammenhängen orientiert, ausnimmt, wandelt sich allmählich in der
für ihn lebensweltlich relevanten Nahostrealität zu einem die konkreten Herausforderungen und Probleme anvisierenden Aktionskontext, der sich vor
allem auf die Lösung des blutigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern ausrichtet. Dies will wohlgewürdigt sein: Es bedeutet nicht die
Aufgabe universeller Ideale zugunsten partikularer Regionalbelange, mithin die Partialideologisierung eines allgemeinen Verblendungszusammenhangs, sondern vor
allem die Anerkennung der akuten Vordringlichkeit einer im eigenen Lebenszusammenhang sich zunehmend zuspitzenden Katastrophe, die ihrerseits welthistorische
Dimensionen aufweist, nicht minder aber auch rein realpolitisch als bedrohlicher Gefahrenherd für den Weltfrieden perenniert.
Dass dabei Warschawskis Identität an jüdisch-israelischem Profil gewann, mag als
Epiphänomen der Einsicht in die objektive politische Notwendigkeit gewertet werden, hat aber ganz gewiss auch dazu beigetragen, seinem aufreibenden Kampf
um die Emanzipation eine eigentümliche Emphase zu verleihen. Anders formuliert: Die Vision einer israelisch-palästinensischen Koexistenz stellt sich
ganz anders dar, wenn sie sich aus den Quellen der Notwendigkeit konkreter Lebenswirklichkeiten und genuiner Empathie speist, als wenn sie als abstrakte Postulate
(deren humanistischer Emanzipationsimpuls gleichwohl mitnichten in Abrede gestellt werden soll) zur, wie immer konkret gemeinten, politischen Handlungsmaxime
erhoben wird. Gerade in dem von vielschichtigen ethnischen, intrareligiösen, klassenmäßigen
und kulturellen Gegensätzen, Widersprüchen und Zerrissenheiten gebeutelten
israelischen Kontext dürfte sich diese Erfahrungsdimension des das Allgemeine affizierenden Konkreten als schwerwiegend, mithin das politische
Problembewusstsein gründlich modifizierend erwiesen haben.
Auch das will wohlverstanden sein: Was hier als notwendige Transformation der
handlungsorientierten Ausrichtung auf den Israel-Palästina-Konflikt registriert wird, meint keine Revision, schon gar keine »realistische«
Ernüchterung. Es kann nicht oft genug hervorgehoben werden, dass Grundüberzeugungen israelischer Linksradikaler vom Schlage Warschawskis
wie immer verfemt, wie immer ausgegrenzt, zuweilen auch unerbittlich verfolgt in der israelischen politischen Kultur stets die Nase vorn hatten: Wenn man
heute auf israelischer Seite wie selbstverständlich, ja konsensuell von der notwendigen Gründung eines palästinensischen Staates redet, wenn sogar
die objektive Entwicklung auf eine israelisch-palästinensische binationale Struktur nicht mehr tabuisiert, gelegentlich sogar im öffentlichen Diskurs
angerissen wird, dann tut man gut daran, sich zu erinnern, wer schon vor Jahrzehnten, als es noch ideologisch inopportun war, dies zu tun, die theoretischen
Grundlagen, die historisch-politischen Analysen und die Wertematrix für diese Postulate geliefert, vor allem aber einen oft hoffnungslos erscheinen wollenden
Kampf um deren Verwirklichung geführt hat.
Es blieb dabei freilich nicht aus, dass man sich in diesem Spannungsfeld von Theorie und Praxis in
gewissen Widersprüchen verfing: So weist z.B. Warschawskis Antizionismus, mithin seine Radikalkritik der jüdischen Nationalstaatlichkeit, keine
Entsprechung im kritischen Verhältnis zur etatistischen Ausrichtung der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung auf. Die Kritik des Staates,
wie sie sich noch in der marxisch durchwehten theoretischen Grundlage der Mazpen-Bewegung findet und rigoros gegen den zionistischen Staat wendet, macht vor
dem (künftigen) palästinensischen Halt; die wie immer repressive, ihrer Struktur nach von Anbeginn widersprüchliche nationale
Befreiungsbewegung der Juden wird nicht als das anerkannt, was sie eben auch sein wollte: eine Befreiungsbewegung einem völlig anderen Tenor
begegnet man hingegen im grundsätzlichen wie im konkreten Umgang mit der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung. Das mag dem Umstand
geschuldet sein, dass für Warschawski unangefochten feststeht, wie sich die Opfer-Täter-Rollen im israelisch-palästinensischen Konflikt verteilen,
vielleicht auch der Einsicht in die historische Notwendigkeit der nationalstaatlichen Selbstbestimmung als Etappe auf dem Weg zur übernationalen
Emanzipation.
Wie immer besagte Asymmetrie im Verhältnis zu den israelischen und
palästinensischen Kollektiven, ein neuralgisches Erbteil der meisten israelischen Radikallinken, widerspiegelt beides: den »Widerspruch« im
universellen Maßstab für die emanzipatorische Grundlage der politischen Aktivität, zugleich aber auch die tiefe humanistische Solidarität
mit den Opfern der Repression, mithin das, was Michael Warschawski vielleicht seine jüdische, eben nicht zionistisch-israelische Identität nennen
würde.
Warschawskis Text versteht sich als Zwischenbilanz. Angelegt sind in ihm aber mit
größter Rigorosität die Zentralfragen des katastrophischen Konflikts im Nahen Osten. Ungewiss bleibt sein Ausgang am Schluss des vorliegen-den
Rechenschaftsberichts. Gewiss ist nur Warschawskis Bereitschaft, weiterzumachen. Sie verdankt sich, scheint es, dem festen Glauben, dass Menschen dereinst doch
noch Herren ihrer Geschichte werden könnten.
Moshe Zuckermann