SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2004, Seite 24

Moshe Zuckermann über Michael Warschawski

Grenzgänger des Humanismus

Es gibt bekanntlich Menschen, die um ihren Schlaf gebracht sind, wenn sie an ihr Land denken. Manche von ihnen — Ralf Dahrendorf bescheinigte ihnen seinerzeit eine »romantische Haltung« — sind durch die »politische Haltung des Rückzugs aus der Politik« gekennzeichnet. Ihre existenzielle Zuflucht finden sie in der sog. »inneren Emigration«. Andere — die der »tragischen Haltung« — sind solchermaßen vom Zustand ihres Landes umgetrieben, dass »sie es verlassen müssen, um sich selbst zu erhalten«. Das Exil ist ihnen existen-ziell aufgezwungen. Es gibt aber auch die, die sich angesichts des schlecht Bestehenden jeglicher affirmativen Haltung ihrem Land gegenüber enthalten, dabei aber weder den Weg der inneren Emigration noch den des physischen Exils beschreiten, sondern in ihrem Land und gegen es, aktiv, radikal, unermüdlich und unverdrossen für das bessere Leben aller kämpfen; jene, die nicht nur um den Schlaf gebracht sind, sondern sich bewusst auch um die Möglichkeit eines Aufgehens in der (trügerischen) Wärme des Kollektivkonsenses bringen, um dereinst überhaupt erst schlafen zu können und sich das Gefühl der Zugehörigkeit nicht um den Preis der Hinnahme entmenschlichter Kollektivverhältnisse erkaufen zu müssen.
Zu dieser dritten Kategorie gehört in Israel Michael Warschawski. In Straßburg als Sohn einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren, in seiner frühen Jugend nicht aus zionistischen Beweggründen, mithin nicht um Israeli zu sein, sondern um sein religiöses Judentum leben zu können, nach Israel — nicht etwa ins modern-pulsierende Tel-Aviv, sondern in das damals in sich selbst zurückgezogene, noch nicht national-chauvinistisch ideologisierte Jerusalem — ausgewandert, war das genuine, von latenter Zugehörigkeit durchwehte Fremdsein Warschawskis Lebensgeschichte gleichsam von Anbeginn eingeschrieben. Als sich diese Grundmatrix seines Lebens in den späten 60er Jahren nach und nach zu politisieren begann, paradigmatisch auch in den Postulaten der von ihm mitbegründeten Mazpen-Bewegung — einer dem israelischen Triumphalismus nach dem 1967er Krieg rigoros entgegengesetzten antizionistischen Bewegung, die einer nichtzionistischen Koexistenz von Juden und Palästinensern in Israel-Palästina das Wort redete — ihren prononcierten Niederschlag fand, verfestigte sich das Fremdsein Warschawskis zu einem (von ihm auch als solches ausgegebenen) Grenzgängertum, welches ihn nicht nur in seinem geistig-mentalen Selbstverständnis, sondern auch in seiner realen Lebenspraxis, und zwar bis in die entlegensten Nischen des Alltags, prägend bestimmen sollte. Kein leichtes Unterfangen in einem Land, in welchem die verspätete Gründung eines Staates auf seinem Territorium und die mit dieser einher gehende streng ideologisierte Konsolidierung der Gesellschaft ein nahezu peinlich eingehaltenes Konsensverhalten und einen Zugehörigkeitsfetischismus zur Grundlage der Etablierung einer jüdischen Gemeinschaft machte, in der nebulöse Identitätskategorien wie Volk, Nation und Religion ihre weltgeschichtliche Synthese erfahren sollten.
Nicht nur hatte man sich dabei mit der jüdischen Diaspora, aus der das zionistische Nationalbewusstsein dialektisch erwachsen war, herumzuschlagen — ein Zentralpostulat des Zionismus war ja die Negation der Diaspora —, sondern die reale Staatsgründung fand unter tragischen geschichtlichen Umständen statt, die die Beziehung zum zionistischen Kollektiv im gerade errichteten Staat von Anbeginn manichäisch polarisierten: Zum einen erwies sich die Shoah, die die Errichtung einer jüdischen Heimstätte als künftigen Zufluchtsort für verfolgte Juden gleichsam zur historischen Notwendigkeit hatte werden lassen, als ideologisch wirkmächtig, wobei diese Notwendigkeit an eine kategorische Unhinterfragbarkeit der »Lösung« für das »Problem«, mithin an eine paranoid-überhebliche Abgrenzung von der »restlichen Welt«, gekoppelt wurde.
Zum anderen wurzelte aber gerade in der nationalstaatlichen Emanzipation der Juden die Katastrophe des palästinensischen Kollektivs, wenn man will: die zwangsläufige Verursachung einer katastrophischen Leiderfahrung des einen Kollektivs durch den Ausgang des anderen aus seiner eigenen. Die, denen man das historische Leid zugefügt hatte, wurden von nun an nicht nur als lebensbedrohender Erzfeind apostrophiert, sondern latent auch als manifeste Hinterfragung der eigenen staatlichen raison d‘ętre wahrgenommen, wodurch denn die Loyalitäten manichäisch (und strikt in der Forderung, sie einzuhalten) festgelegt waren.
Der vorliegende Band legt eine autobiografische Rechenschaft über die Erfahrungen mit diesem grenzgängerischen Kampf um ein menschenwürdiges Leben in Israel-Palästina, um Emanzipation, um politische Versöhnung und kulturelle Pluralisierung ab. Michael Warschawski enthält sich dabei weitgehend grober narzisstischer Impulse: die Individualerfahrung wird im Kontext großer geschichtlicher, gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge ausgeleuchtet, das Private zumeist im Hinblick auf den emanzipatorischen Kampf ums kollektiv Bessere anvisiert und erörtert.
Trotz des die gesamte Darstellung durchziehenden Grundtenors eines aufgeklärten Freiheits- und Befreiungsdrangs wird dabei die Eigenentwicklung nicht eindimensional verhärtet bzw. zur dogmatischen Doktrin erhoben, sondern durchgehend auch im Sinne der sich objektiv wandelnden Verhältnisse kritisch mitreflektiert. Dass dabei das Pathos der eigenen Minoritätszugehörigkeit mit dem Autor hier und da durchgeht, ist nicht nur verzeihlich — wieviele Juden in Israel könnten schon von sich behaupten, das Privileg des Judeseins so aufs Spiel gesetzt, lebensgeschichtlich so viel (auf)geopfert zu haben wie Warschawski? —, sondern ist sogar wünschenswert: Es verleiht dem vom ungeheuerlichen Ernst seines Lebensprojekts durch und durch Getriebenen (ein Ernst, der seinen prägnanten Niederschlag auch in der Darstellung gefunden hat) die »Schwäche« kurzer individueller Selbstvergewisserung, zugleich aber auch den nachfolgenden, eben diese »Schwäche« relativierenden, selbstironischen Blick. Es lässt Warschawskis Heroismus — wie auch den seiner nicht minder mutig engagierten Lebensgefährtin Lea Tsemel — menschlicher erscheinen.
Von Bedeutung ist dabei aber vor allem der im zentralen Motiv der theoretischen Matrix des Emanzipationskampfes sich vollziehende Wandel, in welchem sich auch ein Stück linker Ideologiegeschichte widerspiegelt. Was in den Anfängen der politischen Ausrichtung Warschawskis sich wie ein zwar sozialistisch fundierter, aber seinem Wesen nach eben abstrakter Universalismus, der sich an der »Weltrevolution« und — auch praktisch — an globalen Zusammenhängen orientiert, ausnimmt, wandelt sich allmählich in der für ihn lebensweltlich relevanten Nahostrealität zu einem die konkreten Herausforderungen und Probleme anvisierenden Aktionskontext, der sich vor allem auf die Lösung des blutigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern ausrichtet. Dies will wohlgewürdigt sein: Es bedeutet nicht die Aufgabe universeller Ideale zugunsten partikularer Regionalbelange, mithin die Partialideologisierung eines allgemeinen Verblendungszusammenhangs, sondern vor allem die Anerkennung der akuten Vordringlichkeit einer im eigenen Lebenszusammenhang sich zunehmend zuspitzenden Katastrophe, die ihrerseits welthistorische Dimensionen aufweist, nicht minder aber auch rein realpolitisch als bedrohlicher Gefahrenherd für den Weltfrieden perenniert.
Dass dabei Warschawskis Identität an jüdisch-israelischem Profil gewann, mag als Epiphänomen der Einsicht in die objektive politische Notwendigkeit gewertet werden, hat aber ganz gewiss auch dazu beigetragen, seinem aufreibenden Kampf um die Emanzipation eine eigentümliche Emphase zu verleihen. Anders formuliert: Die Vision einer israelisch-palästinensischen Koexistenz stellt sich ganz anders dar, wenn sie sich aus den Quellen der Notwendigkeit konkreter Lebenswirklichkeiten und genuiner Empathie speist, als wenn sie als abstrakte Postulate (deren humanistischer Emanzipationsimpuls gleichwohl mitnichten in Abrede gestellt werden soll) zur, wie immer konkret gemeinten, politischen Handlungsmaxime erhoben wird. Gerade in dem von vielschichtigen ethnischen, intrareligiösen, klassenmäßigen
und kulturellen Gegensätzen, Widersprüchen und Zerrissenheiten gebeutelten israelischen Kontext dürfte sich diese Erfahrungsdimension des das Allgemeine affizierenden Konkreten als schwerwiegend, mithin das politische Problembewusstsein gründlich modifizierend erwiesen haben.
Auch das will wohlverstanden sein: Was hier als notwendige Transformation der handlungsorientierten Ausrichtung auf den Israel-Palästina-Konflikt registriert wird, meint keine Revision, schon gar keine »realistische« Ernüchterung. Es kann nicht oft genug hervorgehoben werden, dass Grundüberzeugungen israelischer Linksradikaler vom Schlage Warschawskis — wie immer verfemt, wie immer ausgegrenzt, zuweilen auch unerbittlich verfolgt — in der israelischen politischen Kultur stets die Nase vorn hatten: Wenn man heute auf israelischer Seite wie selbstverständlich, ja konsensuell von der notwendigen Gründung eines palästinensischen Staates redet, wenn sogar die objektive Entwicklung auf eine israelisch-palästinensische binationale Struktur nicht mehr tabuisiert, gelegentlich sogar im öffentlichen Diskurs angerissen wird, dann tut man gut daran, sich zu erinnern, wer schon vor Jahrzehnten, als es noch ideologisch inopportun war, dies zu tun, die theoretischen Grundlagen, die historisch-politischen Analysen und die Wertematrix für diese Postulate geliefert, vor allem aber einen oft hoffnungslos erscheinen wollenden Kampf um deren Verwirklichung geführt hat.
Es blieb dabei freilich nicht aus, dass man sich in diesem Spannungsfeld von Theorie und Praxis in gewissen Widersprüchen verfing: So weist z.B. Warschawskis Antizionismus, mithin seine Radikalkritik der jüdischen Nationalstaatlichkeit, keine Entsprechung im kritischen Verhältnis zur etatistischen Ausrichtung der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung auf. Die Kritik des Staates, wie sie sich noch in der marxisch durchwehten theoretischen Grundlage der Mazpen-Bewegung findet und rigoros gegen den zionistischen Staat wendet, macht vor dem (künftigen) palästinensischen Halt; die wie immer repressive, ihrer Struktur nach von Anbeginn widersprüchliche nationale Befreiungsbewegung der Juden wird nicht als das anerkannt, was sie eben auch sein wollte: eine Befreiungsbewegung — einem völlig anderen Tenor begegnet man hingegen im grundsätzlichen wie im konkreten Umgang mit der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass für Warschawski unangefochten feststeht, wie sich die Opfer-Täter-Rollen im israelisch-palästinensischen Konflikt verteilen, vielleicht auch der Einsicht in die historische Notwendigkeit der nationalstaatlichen Selbstbestimmung als Etappe auf dem Weg zur übernationalen Emanzipation.
Wie immer — besagte Asymmetrie im Verhältnis zu den israelischen und palästinensischen Kollektiven, ein neuralgisches Erbteil der meisten israelischen Radikallinken, widerspiegelt beides: den »Widerspruch« im universellen Maßstab für die emanzipatorische Grundlage der politischen Aktivität, zugleich aber auch die tiefe humanistische Solidarität mit den Opfern der Repression, mithin das, was Michael Warschawski vielleicht seine jüdische, eben nicht zionistisch-israelische Identität nennen würde.
Warschawskis Text versteht sich als Zwischenbilanz. Angelegt sind in ihm aber mit größter Rigorosität die Zentralfragen des katastrophischen Konflikts im Nahen Osten. Ungewiss bleibt sein Ausgang am Schluss des vorliegen-den Rechenschaftsberichts. Gewiss ist nur Warschawskis Bereitschaft, weiterzumachen. Sie verdankt sich, scheint es, dem festen Glauben, dass Menschen dereinst doch noch Herren ihrer Geschichte werden könnten.

Moshe Zuckermann

Bei dem Text handelt es sich um das Vorwort zu dem Ende Februar in der Edition Nautilus erscheinenden Buch von Michael Warschwaski: An der Grenze. Autobiografie. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung dieses Vorabdrucks.
Von Moshe Zuckermann erschien zuletzt in SoZ 3/2003 ein SoZ-Gespräch mit ihm über den Nahostkonflikt. Ein umfangreicher Text Michael Warschawskis zum selben Thema erschien in SoZ 8/2002, und sein Beitrag »Antizionismus ist nicht gleich Antisemitismus« in SoZ 9/2002. Ende März ist Michael Warschawski auf Vortragsreise in der Bundesrepublik.


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