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Seit 1993 haben Hunderte Städte, kommunale und staatliche Unternehmen in Deutschland und Europa Cross-Border-
Leasing-Verträge mit anonymen US-Investoren abgeschlossen. Dabei wird öffentliches Eigentum dem Investor verkauft und gleichzeitig
zurückgemietet. Der Investor erhält einen Steuervorteil, von dem er einen Teil der Stadt abgibt.
Dieser »Barwertvorteil«, den die Städte und Unternehmen am ersten Tag
ausgezahlt bekommen, steht im Vordergrund der öffentlichen Darstellung. Einen solchen Vertrag zu unterzeichnen, der angeblich »nur auf dem
Papier steht« und eine leichte, schnelle Linderung für die überschuldeten öffentlichen Haushalte verspricht, gilt als clevere und schon
routinemäßige Ausnutzung eines »legalen Steuertricks«. Auch die öffentlichen Haushalte müssten sich den modernen
Finanzprodukten öffnen und kreative, unkonventionelle Lösungen nutzen, heißt es. Sie gehören zu unserer globalisierten Welt, alle
machen mit, so lautet die selbstgewisse Überzeugung der Polit- und Medien-Lemminge, und es sei unverantwortlich, diese Möglichkeit »im
Interesse der Bürger« nicht wahrzunehmen.
Doch was so clever und verantwortungsschwer daherkommt, erweist sich als erneute Ration
eines Giftes, das die öffentliche Daseinsvorsorge, die Demokratie und den Sozialstaat bereits gelähmt und scheinbar unheilbar krank gemacht hat.
Bei Cross Border Leasing der hier vorgestellten Art geht es um ein Finanzprodukt, das vor einigen Jahrzehnten in den USA entwickelt und seit einem
Jahrzehnt auch global verkauft wird. Es handelt sich nicht um einen platten, direkten Ausverkauf. Vielmehr besteht die Enteignung nur potenziell, jedenfalls
zunächst, und bewegt sich in einer bewusst hergestellten Grauzone. Aber sie ist so angelegt, dass das scheinbar Fiktive zur materiellen Gewalt, zur realen
Enteignung werden kann. Das kann bei den auf 100 Jahren geschlossenen Verträgen nach 20 oder 30 Jahren eintreten, durchaus auch schon früher.
Die Enteignung muss aber nicht eintreten, wenn die Städte sich allen Bedingungen beugen. Ein siegreiches oder siegreich sich fühlendes Imperium
der modernen Art kann sich in bestimmten Angelegenheiten auch Zeit lassen und kann die besonders Servilen belohnen, auf seine Art.
Das Hochpuschen von Bilanzen und Aktienkursen, das Boomen der »new
economy« und das anschließende »Platzen der Blase« war und ist ein Enteignungsmechanismus. Am Ende hatten die Insider das auf
ihre Konten geschafft, was der Masse der Kleinanleger auf ihren Konten fehlte. Doch neben diesen spektakulären haben die unspektakulären, oft
auch unbekannten Enteignungsmechanismen eine stetige, eine tiefere Wirkung. Die in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgebaute und professionalisierte
Steuer- und Kapitalflucht ist ein solcher Mechanismus. Bestimmte Formen der Privatisierung öffentlichen Eigentums, die erweiterte Selbstentlohnung des
Topmanagements all dies sind weitere solche Mechanismen. Auch Cross Border Leasing gehört dazu.
Mit Hilfe dieser Mechanismen wird in einem schleichenden, vielfältigen Prozess das
öffentliche Eigentum auch Sozialkassen gehören dazu ausgesaugt, geschwächt, vernichtet. Auch der Wert der
tatsächlich geleisteten Arbeit, die mit Lohn, Gehalt und den zahlreichen Formen von Niedriglohn entgolten wird, wird abgesenkt. Diese Prozesse haben
keine »natürliche« Grenze. In der Logik des vorherrschenden Wirtschaftstyps sind auch der immer weiter »verschlankte« Staat
ebenso wie Löhne, Gehälter und auch Niedriglöhne immer noch »Nebenkosten«, die zu hoch sind und weiter gesenkt werden
müssen.
Was den meisten Bürgern als unverständlich, absurd oder unglaubhaft erscheint,
ist in der Finanzwelt seit langem Normalität und Routine. Cross Border Leasing gehört wie die Hedge Fonds, die Derivate und ähnliche
Finanzprodukte der »new economy« zu den Instrumenten, mit denen mächtige Akteure die globale Wirtschaft beherrschen, scheinbar
geräuschlos. Diese Art Ökonomie vernichtet gerade das, was sie vorgibt zu retten: Arbeitsplätze, soziale Sicherungssysteme. Gleichzeitig und
mit Hilfe der genannten Mechanismen wächst der private, privatistische Reichtum. Auch dieses Wachstum hat keine »natürliche«
Grenze.
»Der Investor hat sich Vertraulichkeit ausbedungen« mit dieser
Standardformel haben sich bisher Tausende von Spitzenbeamten und Mitglieder von Stadt- und Gemeinderäten der globalen Geheimniskrämerei
gebeugt. Keiner der »verantwortlichen« Politiker hat den Vertrag gesehen, dem er in nichtöffentlicher Sitzung zugestimmt hat. Die
kommunalen Spitzenbeamten wie Kämmerer und Finanzdezernenten ebenso wie die gewählten Oberbürgermeister, die schließlich in
New York ihre Unterschrift unter die umfangreichen Vertragswerke setzen, haben in der Regel nur kurze Zusammenfassungen gelesen sie verlassen sich
servil und blind und gewiss auch aus Zeitnot und Inkompetenz auf die wenigen Berater, die das profitable Geheimgeschäft monopolisiert haben.
Für den Wurstzipfel eines einmaligen kleinen »Barwertvorteils« am ersten
Tag der 100 Jahre werfen diejenigen, die sich ständig ihrer »Verantwortung« rühmen, die persönliche Verantwortung und die
kommunale Demokratie über Bord. Während der Zeithorizont der Kommunalpolitiker auf Null schrumpft, schließen sie immer mehr
Verträge mit Laufzeiten eines Jahrhunderts ab. In den Städten herrscht nicht nur der vielfach beschworene finanzielle Notstand, sondern auch ein
Notstand, über den bisher nicht öffentlich gesprochen wird: der Demokratie-Notstand.
Mit dem rituellen Schlagwort »Globalisierung« verbreiten die Akteure viel Nebel. In Talkshows schwadronieren sie bei unterwürfigem
Lächeln selbstbewusst blickender Moderatorinnen in abstrakter Weise über die »Chancen der Globalisierung«. Doch wenn es konkret
wird, wie bei den Einzelheiten des Cross Border Leasing, schweigen sie. Die Verträge werden nicht offengelegt, auch nicht auf beharrliches Nachfragen
von Stadträten.
Kapital- und Steuerflucht wird in Politik und Medien vor allem an Individuen festgemacht, die
ihre Gelder heimlich und bar über die Grenze in Finanzoasen wie die Schweiz und Luxemburg schaffen. Doch wie auch Cross Border Leasing zeigt, stellt
Kapital- und Steuerflucht heute im Wesentlichen ein ganz »normales« Bank- und Beratungsgeschäft dar. Es wird von den großen
Banken, auch den öffentlich-rechtlichen Landesbanken, routinemäßig abgewickelt, »renommierte« Anwaltskanzleien und
Wirtschaftprüfer helfen dabei.
Die Vertragskonstruktion mit dem harmlos scheinenden Namen führt so in das Zentrum
der wirklichen Globalisierung, wie sie bisher, vor allem im Geheimen, abläuft. Die milliardenschweren und jahrzehntelangen Zahlungsflüsse, die
Cross Border Leasing und ähnliche Finanzprodukte auslösen, werden in Großmedien ebenso wie von »Globalisierungkritikern«
hilflos als »anonyme Geldströme« charakterisiert, die »täglich sinnlos um den Erdball kreisen«. Doch es gibt keine
anonymen Geldströme, die sinnlos herumkreisen. In Wirklichkeit handelt es sich um Geldströme, die anonymisiert werden, damit ihr Ausgangs- und
Zielpunkt, ihre Absender und ihre Empfänger der Öffentlichkeit, dem Staat und den weniger wichtigen Geschäftspartnern verborgen bleiben.
Um sich nachhaltig gegen die amoralische, parasitäre, zerstörerische
Ökonomie zu wehren und sie zu überwinden, hilft kein empörter Aufschrei. »Sinnlose Geldkreisläufe«, »Terror der
Ökonomie« solches kenntnislose Aufbäumen fällt nach kurzer Zeit in sich zusammen. Auch anspruchsvollere, als kritisch
präsentierte Darstellungen des Globalisierungsprozesses bleiben bei Ökonomie und Finanzen oft diffus und kommen nicht über das
kümmerliche empirische Niveau von Politmagazinen wie Der Spiegel hinaus. Im vorliegenden Buch wird ein anderer Weg vorgeschlagen. Er mag
mühsamer erscheinen, ist aber eine Voraussetzung eines erfolgreichen Widerstands und einer Alternative. Dem Leser und der Leserin dieses Buches wird
zugemutet, sich in die verwinkelten Konstruktionen des »Cross Border Leasing« zu vertiefen, die Namen, Interessen, Instrumente, Methoden und
Argumente der Akteure kennenzulernen.
Die lokalen wie überregionalen Medien schwiegen jahrelang über Cross Border
Leasing. Nachdem sich seit Mitte 2002 Bürgerinitiativen bildeten, wurde plötzlich mehr berichtet. Das Wesentliche fehlt jedoch, es wird hier
nachgeholt. Während die Medien um den »Barwertvorteil« und um die »Risiken« der Städte kreisen, wird in diesem Buch
der gesamte transnationale Geldkreislauf offengelegt, auch sein Gang durch inner- und außeramerikanische Finanzoasen. Es zeigt sich, dass die Stadt
gegenüber den anderen Mitspielern nur eine Nebenrolle spielt. Der Barwertvorteil der Stadt beträgt nur einen winzigen Bruchteil dessen, was die
beteiligten Staaten an Steuern verlieren. Die US-Unternehmen, die in der Öffentlichkeit als »Investoren« bezeichnet werden, sind gar nicht die
Investoren. Es zeigt sich auch, dass die deutschen Städte die absoluten Musterknaben sind, während sonst in der ganzen EU nur eine Handvoll
Städte solche Verträge abgeschlossen haben.
Bisher wird öffentlich nur über Cross Border Leasing diskutiert, soweit Städte und kommunale Unternehmen daran beteiligt sind. Doch
auch dem Autor wurde dies erst in der weiteren Beschäftigung mit dem Thema klar der Umfang dieser Art »Leasing« ist
wesentlich größer. Auch Landes- und Bundesunternehmen sind beteiligt. Auch Banken und Privatunternehmen nutzen für sich selbst solche
Praktiken. Und all dies nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Staaten. Die Regierungen sind beteiligt, die Staaten schädigen sich gegenseitig um
Steuereinnahmen. Die »westliche Wertegemeinschaft« erweist sich als Gemeinschaft hochrangiger Diebe.
Die Beschäftigung mit »Cross Border Leasing« kann auch als ein Einstieg
verstanden werden, um die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft, ihre Wirtschaft, ihre politische Verfassung und ihre Moralen zu »lesen«
und um die wirkliche Globalisierung zu entschlüsseln.
Zur Entschlüsselung gehört die Erkenntnis, dass die anonymen Praktiken kein
Sachzwang sind, sondern dass die Anonymität ein Mittel ist, den Anschein des Sachzwangs erst herzustellen. Die Entschlüsselung kann zu der
Entschlossenheit führen, dass ein demokratischer Universalismus ansteht, gegen den die gegenwärtige »Globalisierung« als
hässliche Fratze erscheint, der keine Zukunft beschieden sein darf.
Werner Rügemer
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