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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 12

Geheuert, gefeuert

Weltmarktarbeiterinnen im Rennen nach unten

Vor zwanzig Jahren wurden sie in Südkorea mit volkswirtschaftlichem Stolz »Soldatinnen des Exports« tituliert und in Hongkong als »Heldinnen des Wirtschaftswunders« gefeiert — die Frauen in den arbeitsintensiven Exportindustrien.
Jede fünfte Einwohnerin von Pusan zum Beispiel, der zweitgrößten Stadt Südkoreas, war damals in der Schuhindustrie beschäftigt, praktisch in jeder Familie eine Person. 1988 wurden in Pusan so viele Sportschuhe produziert wie in keinem anderen Ort der Welt. Dann begann die große Abwanderung: Die Turnschuhkonzerne vergaben Aufträge nach Thailand, Indonesien, Vietnam und China. Dort seien »die Arbeiterinnen billiger und weniger aufmüpfig«, erklärten die Manager den entlassenen Frauen in Pusan. Zwischen 1990 und 1994 schlossen 580 Fabriken ihre Tore. Mitte der 90er Jahre waren nur noch 10% der 1988 164000 in der Schuhindustrie Beschäftigten in Lohn und Brot.
Ein ähnlicher Schrumpfungsprozess fand in Hongkong statt. Durchnummeriert — Factory 1,2,3… — stehen die Fabrikblocks wie stumme schäbige Denkmäler des Industriezeitalters heute leer.
Zeitversetzt ist der gleiche Deindustrialisierungsprozess im Augenblick in Thailand, Indonesien, Sri Lanka und den Philippinen im Gange. In diesen Ländern hatten sich die Arbeiterinnen gewerkschaftlich organisiert und Lohnerhöhungen erkämpft. So zum Beispiel Khun Sripai, die in einer Textilfabrik in Bangkok eine Betriebsgewerkschaft aufbaute. Jetzt ist sie gerade einmal 30 Jahre alt und »überflüssig gemacht worden«. Der Betrieb, in dem sie 15 Jahre an Nähmaschinen gesessen hatte, machte dicht. Ein andere Beschäftigung findet sie nicht mehr — »null Chancen in meinem Alter und dann noch Gewerkschafterin«, sagt sie bitter.
Das »Rennen nach unten«, der brutale Unterbietungswettbewerb, schleudert Exportarbeiterinnen in immer mehr südostasiatischen Ländern auf die Straße. Wo in Raten entlassen wird, müssen überall zuerst die »Alten« und die gewerkschaftlich Organisierten dran glauben. »Alt« sind die Frauen, wenn sie Ende zwanzig sind.
Zunächst, berichtet Khun Sripai, wurde der Produktivitätsdruck erhöht und die Lohndrückerei. Mehr Maschinen wurden eingesetzt, aber nichts für die Sicherheit am Arbeitsplatz getan. Viele Arbeiterinnen litten an Augen-, Atem- und Hautproblemen aufgrund des Textilstaubs oder der Chemikalien in den Stoffen.
Die große Zahl von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen in thailändischen Industriebetrieben ist ein Indikator für geringe Schutzvorkehrungen und die Missachtung von sozialen und ökologischen Standards. Unvergessenes Fanal ist das Feuer in der Spielzeugfabrik Kader, in dem 1993 188 Arbeiterinnen ihr Leben verloren und fast 500 verletzt wurden.
Produktionskosten lassen sich auch senken, wenn Herstellungsschritte aus dem Betrieb in den informellen Sektor ausgelagert werden. Oft entließen Firmen Arbeiterinnen, boten ihnen aber an, als Zulieferinnen Unteraufträge auszuführen. Die Frauen kauften mit einem Kredit Nähmaschinen und nähten die von den Firmen zugeschnittenen Teile von Schuhen oder Kleidung in Heimarbeit oder kleinen Werkstätten mit fünf bis zehn Frauen zusammen. Der Stücklohn, den die Näherinnen in den kleinen Sweatshops oder als »Ich-AG« daheim verdienten, lag erheblich unter ihrem früheren Verdienst in der Fabrik.
Jetzt versuchen die Agenten, die Löhne weiter zu drücken, Aufträge kommen seltener rein, das Einkommen reicht kaum noch für die täglichen Nudelsuppen, und die Schulden können nicht zurückbezahlt werden.

El Dorado China

Hinter dieser Umstrukturierung der Arbeitsmärkte steht eine neue Verlagerungswelle von Produktion durch die großen Bekleidungs- und Sportschuhkonzerne: Es gehen immer weniger Aufträge in die Schwellenländer und neuindustrialisierten Länder Südostasiens und immer mehr an den Weltmeister des globalen Unterbietungswettbewerbs, nach China. Verlagert wird aus zwei Gründen: die Billigstlöhne dort und das Ende des Multilateralen Textilabkommens im Jahr 2005.
Dieses Abkommen garantierte den kleinen Exportproduzenten bisher nach einem komplizierten Quotensystem Zugang zu den Konsummärkten Europas und Nordamerikas. Wenn die Sonderregelungen 2005 auslaufen, steht der Weltmarkt für China als neuem Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) offen, und Niedrigpreise werden einmal mehr zum marktentscheidenden Kriterium in der globalen Konkurrenzschlacht werden. Die Weltbank schätzt, dass sich Chinas Anteil an den weltweiten Textilexporten von 20% im Jahre 2002 auf 47% im Jahre 2010 steigern wird.
Aus diesem Grund investieren schon jetzt viele koreanische und taiwanesische Hersteller in China, und Textilkonzerne verschieben ihre Produktionsaufträge ins Billig-El-Dorado, um sich gute Startpositionen zu verschaffen. In kein anderes Land der Welt sind in den vergangenen beiden Jahren so viele ausländische Investitionen geflossen wie nach China. In Mauritius, Indonesien und Sri Lanka versuchen einige Unternehmer Marktnischen ausfindig zu machen oder auf die Herstellung von Hochqualitätsware umzusteigen, um wenigstens einen Teil der Produktion zu erhalten.
In der Ausflugsschneise, die die Unternehmen in den südostasiatischen Ländern hinter sich lassen, verlieren Millionen Exportarbeiterinnen ihren Job. Was wird aus den Frauen, die ein paar Jahre zuvor noch als die Jobgewinnerinnen der Globalisierung galten? Es gibt kein Netz von Sozial- und Arbeitslosenversicherung, das sie auffängt. Die wenigsten finden einen neuen Job. Absurderweise reichen ihre Fähigkeiten nicht, um als selbstständige Schneiderin zu arbeiten. Denn in den Fabriken haben sie jahrelang lediglich Ärmelnähte geschlossen, Knopflöcher fabriziert oder Taschen in Jeans genäht — nie aber ein ganzes Kleidungsstück hergestellt.
Verzweifelt versuchen sie, als Kleinhändlerin, Hausangestellte oder mit anderen Tätigkeiten im informellen Sektor ein Einkommen zu erwirtschaften. Wegen mangelnder Ausbildung schaffen die wenigsten den Umstieg in den qualifizierten Dienstleistungssektor. Zudem gelten sie als alt und verbraucht. In Südkorea boomt derzeit die kosmetische Chirurgie: Frauen lassen sich liften oder verschönern, um ihre Chancen in der Dienstleistungsbranche zu verbessern.
Zwar werden immer mehr junge qualifizierte Frauen in den Arbeitsmarkt integriert, aber nach dem Just-in-time-Prinzip: punktgenau angeheuert, wo es an Arbeitskräften fehlt, und als erste gefeuert, wenn die wirtschaftliche Lage sich verschlechtert oder die Frauen keine Höchstleistungen mehr bringen. Die Krisenanfälligkeit der Arbeitsmärkte und ihr immer schnellerer Umbau trifft Frauen heftig.
Als in Hongkong bereits Ende der 80er Jahre Zigtausende Exportarbeiterinnen auf der Straße standen, ließen sich viele als Pager-Schreiberin ausbilden. Pager fanden damals als SMS-Vorläufer eine rasche Verbreitung in Hongkong: Statt beim Anrufbeantworter hinterließen Anrufer ihre Nachricht bei einer Call-Center-Agentin. Die schrieb sie auf und übermittelte sie auf den Display des Pagers. Dazu mussten die Frauen lernen, chinesische Schriftzeichen auf Schreibmaschinen zu tippen. Genau fünf Jahre dauerte der Pagerboom. Dann verbreiteten sich in noch rasanterem Tempo Mobiltelefone, und der Pagerspuk war vorbei. Die Frauen standen wieder auf der Straße. Viele leben seitdem mehr schlecht als recht von Gelegenheits- und Putzjobs.
Hundert Kilometer weiter nördlich, in der Sonderproduktionszone von Shenzhen in China, schuften jetzt Hunderttausende junge Frauen, frisch zugewandert aus ländlichen Regionen, unter miesesten Bedingungen 12—14 Stunden pro Tag, bestenfalls für den Mindestlohn von 40 Cent pro Stunde, meistens aber für weniger; Überstunden werden meist nicht bezahlt. Sie löten Halbleiter, produzieren Spielzeug, nähen Sportschuhe und T-Shirts für den nimmersatten Weltmarkt.
Stolz verkündet die chinesische Regierung, sie könne die niedrigen Löhne mindestens zwei Jahrzehnte halten. Solange kann sie mit einem sicheren Nachschub weiblicher Arbeitskräfte vom Land rechnen. Schneller Umschlag von Waren und Arbeitskräften belebt das Geschäft. Die Verschleißindustrien entlassen ihre Kinder.

Und die Gewerkschaften?

Was machen Gewerkschaften, wenn ihre Mitglieder in Scharen entlassen werden? »Sie sterben oder sie verändern sich«, ist die lapidare Antwort von Arunee Srito, die von der Bangkoker Textilfirma Thai Durable gefeuert wurde. Von den früher 4200 Beschäftigten sind nur noch 1000 übrig geblieben. Die Betriebsgewerkschaft Thai Kriang schrumpfte, aber sie starb nicht, weil sie sich veränderte. Einige hundert entlassene Frauen sind immer noch Mitglied, und neue Mitglieder, die nicht bei Thai Durable arbeiten, sind dazu gekommen.
In den 80er Jahren erkämpfte die Thai-Kriang-Gewerkschaft bessere Löhne, in den 90er Jahren den Mutterschutz, jetzt stehen soziale Sicherungssysteme ganz oben auf der Tagesordnung und der Kampf gegen die Diskriminierung älterer Frauen. Außerdem bieten sie in Kooperation mit dem »Netzwerk erwerbsloser Arbeiterinnen« den Mitgliedern Fortbildung an und unterstützen sie bei der Gründung von Kooperativen oder von »Ich-AGs«.
Sripai, früher Textilarbeiterin und Gewerkschafterin, organisiert heute Heimarbeiterinnen und baut Kooperativen auf. »Als ich in der Fabrik arbeitete, habe ich nur unsere Arbeitsprobleme beachtet. Als wir uns mit anderen Betriebsgewerkschaften austauschten, lernten wir zu kämpfen. Als wir Arbeiterinnen und Gewerkschafterinnen aus anderen Ländern trafen, fingen wir an, nach Lösungen zu suchen.«
Tatsächlich fand in den letzten 15 Jahren kontinuierlich ein Austausch zwischen Arbeiterinnenorganisationen in Süd- und Ostasien statt, vermittelt von dem Frauennetzwerk CAW. So lernten die Thailänderinnen von den Südkoreanerinnen, wie sie für Mutterschutz und Kinderbetreuung lobbyieren und kämpfen können, und dass sich gewerkschaftliche Organisationen im Prozess der Deindustrialisierung öffnen und verändern müssen. Transnationaler Austausch und Vernetzung sind ihre Antwort auf das Taktieren der transnationalen Konzerne. »Alle beschäftigten und erwerbslosen Arbeiterinnen müssen sich wehren, sonst werden sie auf den Märkten schneller verschlissen, als die Stoffe, die sie zusammennähen«, meint Arunee, »und sie müssen ganz neue gewerkschaftliche Organisationen erfinden.«
Nach jahrelangem Rechtsstreit hat gerade die Frauengewerkschaft in Seoul das Recht bekommen, den Namen Gewerkschaft zu tragen. Bisher hatte sich die koreanische Regierung geweigert, eine Organisation als Gewerkschaft anzuerkennen, deren Mitglieder erwerbslos sind und keine Arbeitgeber als Gegenüber haben. Daneben sind auf regionaler und globaler Ebene neue Netzwerke von informell Arbeitenden und Erwerbslosen entstanden, so Homenet, eine Organisation von Heimarbeiterinnen, und Streetnet, in der sich Straßenhändlerinnen organisieren. Sie kämpfen national wie auch transnational für Rechte und soziale Sicherung.

Christa Wichterich

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