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Im Windschatten des sog. Krieges gegen den Terror findet ein dramatischer Umbau des internationalen Flüchtlings- und
Menschenrechtsystems statt. Errungenschaften, die nichts anderes als die Antworten auf die Barbarei waren und sind, drohen entsorgt zu werden. Im Zentrum der
Auseinandersetzung stehen das Asylrecht und das absolute Verbot jemand der Folter und unmenschlicher Behandlung auszusetzen. Diese Entwicklung spiegelt
sich in den aktuellen Verhandlungen zu einem europäischen Asylsystem und in der Asylpraxis der Mitgliedstaaten zunehmend wider. Statt ein
europäisches Asylrecht zu kreieren, findet zunehmend eine kollektive Verantwortungsverlagerung für die Flüchtlingsaufnahme in Nicht-EU-
Staaten und Herkunftsregionen statt.
UN-Flüchtlingshochkommissar Ruud Lubbers warnte in einer Rede am 22.Januar 2004 vor den Innenministern der EU vor einem Zusammenbruch des
Asylsystems in den zehn Beitrittsstaaten. Wenn Tausende zusätzlicher Asylsuchender von den alten EU-Staaten auf Grund von technokratischer EU-
Zuständigkeitsregelungen in die neuen zurückgeschickt würden, überfordere dies die kaum vorhandenen Asylsysteme in den
Beitrittsstaaten.
Lubbers kritisierte außerdem die damalige Fassung der EU-Asylverfahrensrichtlinie. Sie
enthalte weitgehende Möglichkeiten, Asylsuchende vom Verfahren ohne rechtliche Überprüfung auszuschließen konkret in
über 20 Kategorien von Fällen. Einen Abwärtstrend zu einem immer restriktiveren Asylrecht stellt Lubbers ebenso fest wie die Tatsache, dass
Flüchtlinge es immer schwerer haben, überhaupt Schutz in Europa zu finden. Der UNHCR qualifizierte den EU-Asylverfahrensentwurf als einen
Ansatz, der sich in wesentlichen Punkten von anerkannten internationalen Flüchtlings- und Menschenrechten verabschiedet.
Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen
forderte Mitte Februar 2004 die rot-grüne Bundesregierung auf, ihren Versuch aufzugeben, die deutsche Drittstaatenregelung auf die EU-Ebene zu
exportieren. Die Verbände sehen die Gefahr, dass elf Jahre nach der Grundgesetzänderung die Übernahme des deutschen Modells einer
Drittstaatenregelung durch ein Europa der 25 den flüchtlingspolitischen GAU produzieren würde. Asylsuchende könnten demnach europaweit
von Grenzbeamten ohne Einzelfallprüfung in neue »sichere Drittstaaten« zurückgewiesen werden. Das sind meist Staaten, in denen
Menschenrechtsverletzungen noch immer an der Tagesordnung und internationale Flüchtlingsrechtsstandards nicht vorhanden sind.
Offiziell kamen allein seit Anfang 2002 über 1000 Menschen an den europäischen
Außengrenzen ums Leben. Die tatsächliche Opferzahl liegt wesentlich höher. Unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands wird nun
eine gemeinsame Grenzschutzagentur aufgebaut. Gleichzeitig findet die Flüchtlingsabwehr bereits weit vor den Grenzen der EU statt. Auf dem EU-Gipfel
in Thessaloniki im Juni 2003 bewilligten die Staats- und Regierungschefs knapp 400 Millionen Euro, um den europäischen Grenzschutz auszubauen und
vor allem die Transit- und Herkunftsländer noch stärker in die Flucht- und Migrationskontrolle einzubeziehen.Die rigorose Abriegelung des
Kontinents zeigt Wirkung: Die Zahl der Asylgesuche in der EU hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als halbiert.
Seit Mai 1999 ringen die Innenminister der EU um gemeinsame Mindeststandards im Asyl- und Einwanderungsrecht. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichten
sich bis Mai 2004 in zentralen Feldern des Asylrechts Mindeststandards zu beschließen. Die von der EU-Kommission vorgelegten Baupläne
für ein gemeinsames Asylsystem sorgten in Europa zum Teil für Furore, weil Brüssel einen höheren Mindeststandard anstrebte als den
kleinsten gemeinsamen Nenner der existierenden Asylpraktiken. Die Umsetzung der Kommissionsvorschläge in der EU hätte zumindest einen
partiellen Bruch mit der restriktiven Asylpolitik der 90er Jahre bedeutet. Jedoch unter den gegebenen institutionellen und politischen Bedingungen wird sich ein
asylpolitischer Kurswechsel in der EU nicht bewerkstelligen lassen.
Anvisierte Liberalisierungen scheiterten bereits an den realen Machtverhältnissen. Trotz
Überführung in die EU-Kompetenz sind die Entscheidungsprozesse im Bereich Justiz und Inneres in dem fünfjährigen
Übergangszeitraum also bis Mai 2004 weiterhin von den Schwächen und dem Demokratiedefizit der bisherigen zwischenstaatlichen
Ebene geprägt. Die Regierung Kohl setzte bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der Innen- und
Justizminister und das bloße Anhörungsrecht des Europäischen Parlaments maßgeblich durch. Häufig bleiben die
Beschlüsse des Parlaments völlig unberücksichtigt. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg spielt bis jetzt noch gar keine Rolle im
Asylrecht. Er besitzt erst dann Befugnisse, wenn EU-Richtlinien und -Verordnungen beschlossen sind.
Somit bleibt in der ersten Etappe der Harmonisierung die Asylpraxis der EU weiterhin von
nationalstaatlichen Partikularinteressen geprägt. Im Vertrag von Nizza verhinderte die rot-grüne Bundesregierung erneut den automatischen
Übergang zu Mehrheitsentscheidungen und zu realen Mitentscheidungsrechten des Europaparlaments im Politikfeld Justiz und Inneres. Alle
asylrechtlichen Maßnahmen werden nach diesen Verfahren erst gefasst, wenn vorher gemeinsame Regeln einstimmig angenommen werden.
Während über gemeinsame Standards gestritten wird, schaffen die Nationalstaaten
bereits neue Fakten. In nahezu allen Mitgliedstaaten fanden und finden grundlegende Veränderungen des Asylrechts statt. Der Grundtenor: schnellere
Asylverfahren, mehr Lager, längere Abschiebungshaft, effizientere Abschiebungspraktiken, teilweiser oder völliger Ausschluss von
Sozialleistungen. Mit den neuen Gesetzen unterm Arm kehren die Innenminister an den Brüsseler Verhandlungstisch zurück und verwässern
den jeweils aktuellen Richtlinienentwurf weiter. Man inspiriert sich wechselseitig bei den Gesetzesverschärfungen und einigt sich auf EU-Ebene schnell
und verbindlich auf Maßnahmen, die den Fluchtweg nach Europa versperren.
Im Kreis der Blockierer nimmt die Bundesrepublik Platz Eins ein: Kein Land setzte sich so
vehement für das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip ein und nutzt es so weidlich aus, um anvisierte höhere europäische Standards auf
deutsches Niveau abzusenken. Die anvisierten hohen europäischen Schutzstandards für Flüchtlingskinder erfuhren einschneidende
Einschränkungen: Deutschland setzte durch, dass unbegleitete Minderjährige bereits ab 16 Jahren in Aufnahmezentren für erwachsene
Asylsuchende untergebracht werden können und schraubte den europäischen Standard bei der sog. Verfahrensmündigkeit von 18 auf 16
Jahren herunter.
Die kinderfeindliche deutsche Praxis entwickelt sich vermutlich via EU-Richtlinien zum
Exportschlager in die anderen 24 EU-Staaten. Die Bundesrepublik setzte ihre EU-weit einzigartige Einschränkung der Bewegungsfreiheit für
Asylsuchende (die sog. Residenzpflicht) als Kann-Bestimmung durch. Deutschland verhinderte, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende auf
der europäischen Ebene geregelt wurde. Deutschland filettierte gemeinsam mit Österreich die Richtlinie zur Familienzusammenführung, bis
die angenommene Fassung nichts mehr mit dem ursprünglichen Ansatz der Kommission gemein hatte. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Die EU-skeptische Haltung in der Asyl- und Einwanderungspolitik prägt auch den bundesdeutschen Beitrag zu der künftigen Verfassung
Europas. Außenminister Fischer forderte im Chor mit Stoiber, Schröder und Schily das Prinzip der Einstimmigkeit in der Einwanderungspolitik
auch in der Europäischen Verfassung fortzuschreiben. Der Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt nach dieser Intervention in der ausschließlichen
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Damit hat die deutsche Verhandlungsführung erreicht, dass sich über Jahre hinweg keine gemeinsame
Einwanderungspolitik der EU entwickeln wird.
Die Charta der Grundrechte der EU wird mit der Inkorporierung in die Verfassung
rechtsverbindlich. In Art.18 der Charta der Grundrechte bekennt sich die EU zum Asylrecht. Das klingt vielsprechend gerade in Zeiten, in denen
maßgebliche Politiker in der EU immer wieder die Genfer Flüchtlingskonvention als überholt titulieren und völlig zur Disposition
stellen. Jedoch in anderen Verfassungspassagen spiegeln sich die Beschlüsse des Europäischen Rats und vor allem ihr repressiver Zungenschlag
wider, die das Asylversprechen des Art.18 der Charta der Grundrechte relativieren bzw. zurücknehmen: Als Teil der gemeinsamen europäischen
»Asylregelung« gilt nunmehr auch die »Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Steuerung der Zuwanderungsströme
von Personen, die Asyl oder subsidiären bzw. vorübergehenden Schutz beantragen.«
Dieser »Verfassungsartikel« könnte die Auslagerung des
Flüchtlingsschutzes in Transit- und Herkunftsländer zum Programm machen. Im Verfassungsentwurf ist nunmehr von einem »einheitlichen
Schutzstatus« für Flüchtlinge und »gemeinsamen Asylverfahren« die Rede. Das klingt auf den ersten Blick besser als sog.
Mindeststandards. Aber ohne einen Bestandsschutz für bessere asylrechtliche Standards droht damit eine erzwungene Absenkung des Schutzniveaus in
noch liberaleren Mitgliedstaaten.
Im asylrechtlichen Bereich sieht der Verfassungsentwurf vor: Der Übergang zur
qualifizierten Mehrheit im Rat soll vollzogen, das uneingeschränkte Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments gewährleistet werden. Im
Politikfeld Justiz und Inneres unterliegen künftig alle Aspekte der vollen richterlichen Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs. Der Rat
könnte künftig nicht mehr hinter verschlossenen Türen tagen. Diese Standards bedeuten keine Garantie für ein liberaleres
europäisches Asylrecht. Sie stellen nicht mehr und nicht weniger als die Grundvoraussetzung dafür dar, dass Positionen für einen effektiven
Flüchtlingsschutz überhaupt noch Gehör in Europa finden.
Karl Kopp
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