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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 12

Asyl

Europa macht dicht

Im Windschatten des sog. Krieges gegen den Terror findet ein dramatischer Umbau des internationalen Flüchtlings- und Menschenrechtsystems statt. Errungenschaften, die nichts anderes als die Antworten auf die Barbarei waren und sind, drohen entsorgt zu werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen das Asylrecht und das absolute Verbot jemand der Folter und unmenschlicher Behandlung auszusetzen. Diese Entwicklung spiegelt sich in den aktuellen Verhandlungen zu einem europäischen Asylsystem und in der Asylpraxis der Mitgliedstaaten zunehmend wider. Statt ein europäisches Asylrecht zu kreieren, findet zunehmend eine kollektive Verantwortungsverlagerung für die Flüchtlingsaufnahme in Nicht-EU- Staaten und Herkunftsregionen statt.

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UN-Flüchtlingshochkommissar Ruud Lubbers warnte in einer Rede am 22.Januar 2004 vor den Innenministern der EU vor einem Zusammenbruch des Asylsystems in den zehn Beitrittsstaaten. Wenn Tausende zusätzlicher Asylsuchender von den alten EU-Staaten auf Grund von technokratischer EU- Zuständigkeitsregelungen in die neuen zurückgeschickt würden, überfordere dies die kaum vorhandenen Asylsysteme in den Beitrittsstaaten.
Lubbers kritisierte außerdem die damalige Fassung der EU-Asylverfahrensrichtlinie. Sie enthalte weitgehende Möglichkeiten, Asylsuchende vom Verfahren ohne rechtliche Überprüfung auszuschließen — konkret in über 20 Kategorien von Fällen. Einen Abwärtstrend zu einem immer restriktiveren Asylrecht stellt Lubbers ebenso fest wie die Tatsache, dass Flüchtlinge es immer schwerer haben, überhaupt Schutz in Europa zu finden. Der UNHCR qualifizierte den EU-Asylverfahrensentwurf als einen Ansatz, der sich in wesentlichen Punkten von anerkannten internationalen Flüchtlings- und Menschenrechten verabschiedet.
Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen forderte Mitte Februar 2004 die rot-grüne Bundesregierung auf, ihren Versuch aufzugeben, die deutsche Drittstaatenregelung auf die EU-Ebene zu exportieren. Die Verbände sehen die Gefahr, dass elf Jahre nach der Grundgesetzänderung die Übernahme des deutschen Modells einer Drittstaatenregelung durch ein Europa der 25 den flüchtlingspolitischen GAU produzieren würde. Asylsuchende könnten demnach europaweit von Grenzbeamten ohne Einzelfallprüfung in neue »sichere Drittstaaten« zurückgewiesen werden. Das sind meist Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen noch immer an der Tagesordnung und internationale Flüchtlingsrechtsstandards nicht vorhanden sind.
Offiziell kamen allein seit Anfang 2002 über 1000 Menschen an den europäischen Außengrenzen ums Leben. Die tatsächliche Opferzahl liegt wesentlich höher. Unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands wird nun eine gemeinsame Grenzschutzagentur aufgebaut. Gleichzeitig findet die Flüchtlingsabwehr bereits weit vor den Grenzen der EU statt. Auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 bewilligten die Staats- und Regierungschefs knapp 400 Millionen Euro, um den europäischen Grenzschutz auszubauen und vor allem die Transit- und Herkunftsländer noch stärker in die Flucht- und Migrationskontrolle einzubeziehen.Die rigorose Abriegelung des Kontinents zeigt Wirkung: Die Zahl der Asylgesuche in der EU hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als halbiert.

Gemeinsames europäisches Asylrecht?

Seit Mai 1999 ringen die Innenminister der EU um gemeinsame Mindeststandards im Asyl- und Einwanderungsrecht. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichten sich bis Mai 2004 in zentralen Feldern des Asylrechts Mindeststandards zu beschließen. Die von der EU-Kommission vorgelegten Baupläne für ein gemeinsames Asylsystem sorgten in Europa zum Teil für Furore, weil Brüssel einen höheren Mindeststandard anstrebte als den kleinsten gemeinsamen Nenner der existierenden Asylpraktiken. Die Umsetzung der Kommissionsvorschläge in der EU hätte zumindest einen partiellen Bruch mit der restriktiven Asylpolitik der 90er Jahre bedeutet. Jedoch unter den gegebenen institutionellen und politischen Bedingungen wird sich ein asylpolitischer Kurswechsel in der EU nicht bewerkstelligen lassen.
Anvisierte Liberalisierungen scheiterten bereits an den realen Machtverhältnissen. Trotz Überführung in die EU-Kompetenz sind die Entscheidungsprozesse im Bereich Justiz und Inneres in dem fünfjährigen Übergangszeitraum — also bis Mai 2004 — weiterhin von den Schwächen und dem Demokratiedefizit der bisherigen zwischenstaatlichen Ebene geprägt. Die Regierung Kohl setzte bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der Innen- und Justizminister und das bloße Anhörungsrecht des Europäischen Parlaments maßgeblich durch. Häufig bleiben die Beschlüsse des Parlaments völlig unberücksichtigt. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg spielt bis jetzt noch gar keine Rolle im Asylrecht. Er besitzt erst dann Befugnisse, wenn EU-Richtlinien und -Verordnungen beschlossen sind.
Somit bleibt in der ersten Etappe der Harmonisierung die Asylpraxis der EU weiterhin von nationalstaatlichen Partikularinteressen geprägt. Im Vertrag von Nizza verhinderte die rot-grüne Bundesregierung erneut den automatischen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen und zu realen Mitentscheidungsrechten des Europaparlaments im Politikfeld Justiz und Inneres. Alle asylrechtlichen Maßnahmen werden nach diesen Verfahren erst gefasst, wenn vorher gemeinsame Regeln einstimmig angenommen werden.
Während über gemeinsame Standards gestritten wird, schaffen die Nationalstaaten bereits neue Fakten. In nahezu allen Mitgliedstaaten fanden und finden grundlegende Veränderungen des Asylrechts statt. Der Grundtenor: schnellere Asylverfahren, mehr Lager, längere Abschiebungshaft, effizientere Abschiebungspraktiken, teilweiser oder völliger Ausschluss von Sozialleistungen. Mit den neuen Gesetzen unterm Arm kehren die Innenminister an den Brüsseler Verhandlungstisch zurück und verwässern den jeweils aktuellen Richtlinienentwurf weiter. Man inspiriert sich wechselseitig bei den Gesetzesverschärfungen und einigt sich auf EU-Ebene schnell und verbindlich auf Maßnahmen, die den Fluchtweg nach Europa versperren.
Im Kreis der Blockierer nimmt die Bundesrepublik Platz Eins ein: Kein Land setzte sich so vehement für das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip ein und nutzt es so weidlich aus, um anvisierte höhere europäische Standards auf deutsches Niveau abzusenken. Die anvisierten hohen europäischen Schutzstandards für Flüchtlingskinder erfuhren einschneidende Einschränkungen: Deutschland setzte durch, dass unbegleitete Minderjährige bereits ab 16 Jahren in Aufnahmezentren für erwachsene Asylsuchende untergebracht werden können und schraubte den europäischen Standard bei der sog. Verfahrensmündigkeit von 18 auf 16 Jahren herunter.
Die kinderfeindliche deutsche Praxis entwickelt sich vermutlich via EU-Richtlinien zum Exportschlager in die anderen 24 EU-Staaten. Die Bundesrepublik setzte ihre EU-weit einzigartige Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Asylsuchende (die sog. Residenzpflicht) als Kann-Bestimmung durch. Deutschland verhinderte, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende auf der europäischen Ebene geregelt wurde. Deutschland filettierte gemeinsam mit Österreich die Richtlinie zur Familienzusammenführung, bis die angenommene Fassung nichts mehr mit dem ursprünglichen Ansatz der Kommission gemein hatte. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

EU-Verfassung und Asylrecht

Die EU-skeptische Haltung in der Asyl- und Einwanderungspolitik prägt auch den bundesdeutschen Beitrag zu der künftigen Verfassung Europas. Außenminister Fischer forderte im Chor mit Stoiber, Schröder und Schily das Prinzip der Einstimmigkeit in der Einwanderungspolitik auch in der Europäischen Verfassung fortzuschreiben. Der Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt nach dieser Intervention in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Damit hat die deutsche Verhandlungsführung erreicht, dass sich über Jahre hinweg keine gemeinsame Einwanderungspolitik der EU entwickeln wird.
Die Charta der Grundrechte der EU wird mit der Inkorporierung in die Verfassung rechtsverbindlich. In Art.18 der Charta der Grundrechte bekennt sich die EU zum Asylrecht. Das klingt vielsprechend — gerade in Zeiten, in denen maßgebliche Politiker in der EU immer wieder die Genfer Flüchtlingskonvention als überholt titulieren und völlig zur Disposition stellen. Jedoch in anderen Verfassungspassagen spiegeln sich die Beschlüsse des Europäischen Rats und vor allem ihr repressiver Zungenschlag wider, die das Asylversprechen des Art.18 der Charta der Grundrechte relativieren bzw. zurücknehmen: Als Teil der gemeinsamen europäischen »Asylregelung« gilt nunmehr auch die »Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Steuerung der Zuwanderungsströme von Personen, die Asyl oder subsidiären bzw. vorübergehenden Schutz beantragen.«
Dieser »Verfassungsartikel« könnte die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in Transit- und Herkunftsländer zum Programm machen. Im Verfassungsentwurf ist nunmehr von einem »einheitlichen Schutzstatus« für Flüchtlinge und »gemeinsamen Asylverfahren« die Rede. Das klingt auf den ersten Blick besser als sog. Mindeststandards. Aber ohne einen Bestandsschutz für bessere asylrechtliche Standards droht damit eine erzwungene Absenkung des Schutzniveaus in noch liberaleren Mitgliedstaaten.
Im asylrechtlichen Bereich sieht der Verfassungsentwurf vor: Der Übergang zur qualifizierten Mehrheit im Rat soll vollzogen, das uneingeschränkte Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments gewährleistet werden. Im Politikfeld Justiz und Inneres unterliegen künftig alle Aspekte der vollen richterlichen Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs. Der Rat könnte künftig nicht mehr hinter verschlossenen Türen tagen. Diese Standards bedeuten keine Garantie für ein liberaleres europäisches Asylrecht. Sie stellen nicht mehr und nicht weniger als die Grundvoraussetzung dafür dar, dass Positionen für einen effektiven Flüchtlingsschutz überhaupt noch Gehör in Europa finden.

Karl Kopp

Der Autor ist Europareferent von PRO ASYL.


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