| SoZ Sozialistische Zeitung |
Der Konzentrationsprozess in der Pharmaindustrie am Beispiel Aventis
Der französische Pharmakonzern Sanofi-Synthelabo will den französisch-
deutschen Rivalen Aventis übernehmen. Die Konzernleitung von Aventis, unterstützt von der Gewerkschaft IGBCE und zahlreichen Politikern in
Deutschland, widersetzt sich diesem »feindlichen« Übernahmeversuch. Novartis bietet sich als »Weißer Ritter« an und will
Aventis ebenfalls übernehmen. Damit bahnt sich eine weitere Runde im Konzentrationsprozess in der Pharmaindustrie an. Die in Deutschland von
Gewerkschaften und Politikern unterschiedlicher Herkunft betriebene firmenpatriotische Verteidigung von Aventis weist jedoch in die falsche Richtung.
Der Weltmarkt für pharmazeutische Produkte belief sich im Jahr 2003 auf 500
Milliarden Dollar. Die internationale Pharmabranche verzeichnet verglichen mit anderen Sektoren ein überdurchschnittliches Wachstum. Drei miteinander
verbundene Entwicklungen haben im letzten Jahrzehnt dieses starke Wachstum bewirkt: Erstens fragt vor allem in den OECD-Staaten die alternde
Bevölkerung in zunehmendem Maße neue Produkte gegen Krankheiten wie Arthritis, Herzkreislauf, Osteoporose, Krebs, Alzheimer usw., nach.
Neue Viren wie z.B. AIDS verlangen ebenfalls neue Therapien.
Zweitens sind in einigen Staaten die Märkte für Gesundheitsprodukte gewachsen,
weil die Versicherungen mehr abdecken. In Südostasien, China und Teilen von Lateinamerika fragen die sog. städtischen Mittelschichten vermehrt
Arzneimittel nach.
Drittens erweitert der technologische Fortschritt die Bandbreite möglicher Produkte und
erlaubt, Medikamente gezielter herzustellen und die Forschungsabläufe zu rationalisieren. Der lukrativste Markt ist die USA. Da es hier keine
Preiskontrollen gibt, kosten Medikamente mehr. Das neuste »Medicare«-Gesetz verbietet dem Staat sogar, mit den Pharmakonzernen billigere Preise
auszuhandeln. In den USA ist die Werbung für rezeptpflichtige Medikamente zudem völlig freigegeben. Deshalb erzielen die erfolgreichsten
Medikamente immer höhere Umsätze. Eine starke Marktpräsenz in den USA ist für jeden großen Pharmakonzern unabdingbar.
Trotz dieses beträchtlichen Wachstums der Märkte stehen die Pharmakonzerne seit den 90er Jahren vor Herausforderungen, die sie nicht zuletzt
mit Übernahmen und Fusionen zu meistern versuchen. Die Märkte können nicht so stark ausgedehnt, der Rhythmus der Innovation nicht so
gesteigert werden, wie es nötig wäre, um der gesamten Industrie ein nachhaltiges Wachstum zu garantieren. Zugleich sind die Forschungs- und
Entwicklungskosten (F&E) gestiegen. Eine industrienahe Studie veranschlagte die durchschnittlichen F&E-Kosten für eine neue Aktivsubstanz
auf 802 Millionen Dollar. Diese Summe wird von Public Citizen, einer Verbraucherorganisation in den USA, heftig bestritten. Unter Abzug der
Opportunitätskosten und der staatlichen Zuschüsse schätzt diese Organisation die Kosten für eine neue Aktivsubstanz auf
durchschnittlich 150 Millionen Dollar.
Die Pharmaindustrie ist mit einem regelrechten Innovationsdefizit konfrontiert. Die Anzahl der
jährlich neu eingeführten Aktivsubstanzen sank massiv von durchschnittlich 56 zwischen 1981 und 85 auf gerade noch rund 30 in den letzten beiden
Jahren. Ein Großteil der neu eingeführten Medikamente sind mittlerweile zwar biotechnologische Produkte, aber die neuen Technologien konnten
den rasanten Rückgang neuer chemischer Substanzen nicht wettmachen.
Dazu kommt, dass die Lebensdauer neuer Präparate und Technologien sowie die Dauer
der exklusiven Marktpräsenz eines Präparats deutlich abgenommen haben. Dies zwingt die Konzerne, ihre Forschungsanstrengungen und mehr noch
ihre Marketingausgaben zu steigern. Nur noch die größten Konzerne sind in der Lage, die Mittel für die gigantischen Marketing- und
Forschungsaufwendungen aufzubringen und die neuen Produkte weltweit möglichst schnell einzuführen.
Eigentliche Übernahmewellen mit sehr großen Transaktionen ereigneten sich 1989,
19951997 und 19992002. Der Konzentrationsgrad in der Industrie nahm deutlich zu. 1988 verfügten die vier größten Firmen
zusammen über einen Marktanteil von 12,1%, die zehn größten Firmen zusammen knapp über ein Viertel. Bis 2002 hatten die vier
größten Pharmakonzerne ihren Marktanteil auf fast 28%, die Top Ten auf 50% gesteigert. Allerdings ist die Marktmacht einzelner Unternehmen auf
einzelnen therapeutischen Gebieten noch wesentlich größer. Die drei stärksten Produkte machen in der Regel 4560% des Umsatzes bei
einer therapeutischen Anwendung, manchmal sogar 80 90% aus.
Besonders die letzte Fusionswelle hat die Landschaft grundlegend verändert. Mit der
Fusion von Glaxo-Wellcome und Smith Kline Beecham zu GlaxoSmithKline sowie der Übernahme von Warner-Lambert und Pharmacia durch Pfizer sind
zwei Megakonzerne entstanden, die über weit größere Marktanteile verfügen als die nächsten Verfolger. Merck, Johnson &
Johnson, Novartis und AstraZeneca werden eine entsprechende Größe durch inneres Wachstum nicht erreichen können und wiederum zu
großen Transaktionen schreiten, sofern sie eine ähnlich große Masse anstreben.
Die Technologie ist das Hauptschlachtfeld der Rivalität. Früher Zugang zu neuen Technologien verspricht nicht nur die Erzielung von
technologischen Renten oder Surplusprofiten, sondern ermöglicht auch, anderen Rivalen den Zutritt zu Technologien zu verwehren oder zumindest hohe
Eintrittsschranken zu errichten. Die kritische Masse ist von entscheidender Bedeutung. Ein Konzern, der als erster mit einer neuen Substanzklasse für eine
therapeutische Anwendung auf den Markt tritt, erzielt beträchtliche Surplusprofite. Die Aussicht auf derartige First-Mover-Vorteile ist wiederum Anreiz
für Übernahmen, strategische Allianzen und Kooperationen.
Drei Erfordernisse sind besonders wichtig für den Erfolg eines Pharmakonzerns: Erstens
die kritische Masse bei der Verkaufsorganisation, insbesondere der Anzahl Verkaufsvertreter; zweitens die kritische Gestaltungsmacht und Attraktivität in
der scientific community und drittens der Zugang zu den besten Kliniken zur Durchführung der klinischen Studien. Die Konzerne, die in den relevanten
therapeutischen Gebieten über genügend Marktmacht sowie über eine pralle Forschungs- und Entwicklungspipeline verfügen,
können am wirksamsten den Rivalen drohen und werden die größten Chancen haben, auch in Zukunft unter den Top Ten mitzumischen.
Das Marketing verschlingt mittlerweile noch höhere Anteile an den Umsätzen
(teilweise mehr als 25%) als die F&E-Ausgaben. Marketing Power lautet das Stichwort. Im Rahmen von Strategien zur Bewerbung vor Erscheinen des
Produkts verwenden die Pharmakonzerne mittlerweile bereits beträchtliche Anteile der Marketingbudgets für ein neues Präparat, bevor es
erschienen ist. Die Entstehung von megabrands und die Durchsetzung neuer Marketingstandards verlangt wiederum eine größere Kapitalmasse im
Hintergrund.
Die US-amerikanischen Konzerne entwickelten in den letzten Jahren am erfolgreichsten solche
Megabrands. Seit einigen Jahren ist der Cholesterinsenker Lipitor das mit Abstand meist verkaufte Medikament der Welt. Lipitor war einer der Gründe,
warum Pfizer den Rivalen Warner-Lambert im Jahr 2000 übernahm und damit der größte Pharmakonzern der Welt wurde. Die einseitige
Ausrichtung der Pharmaindustrie auf die zahlungskräftige Nachfrage in den reichen Ländern zeigt sich auch darin, dass im Jahr 2003 die am besten
verkauften Medikamente Cholesterinsenker (6% Anteil), Magengeschwürmittel (5%) und Antidepressiva (4%) waren.
Die Jagd nach Megabrands bewirkt einen zusätzlichen Druck auf die Lebenszyklen von
Produkten. Die Zahl der jährlich neu eingeführten Blockbusterpräparate ist ein zentraler Erfolgsfaktor. Ein geschicktes Management muss den
kontinuierlichen Nachschub neuer, erfolgsträchtiger Präparate garantieren. Die eigenen F&E-Kapazitäten werden dabei durch den
strategischen Erwerb von Lizenzen von Präparaten ergänzt, die sich bereits in fortgeschrittenen Entwicklungsphasen befinden. Gleichzeitig
lässt man ältere Präparate, die den Höhepunkt des Lebenszyklus überschritten haben und nicht mehr ein bestimmtes
Umsatzvolumen bringen, aber die Produktionsinfrastruktur beanspruchen und verhältnismäßig zuviel Kosten verursachen, durch
Drittproduzenten herstellen oder verkauft gar die Rechte daran.
Dieser Druck auf die Konzerne, sich ständig auf die vorderen Phasen der Lebenszyklen
der Produkte zu konzentrieren, erfordert wiederum eine kritische Masse und befördert somit den Prozess der Zentralisation und Konzentration.
Angesichts der Macht der Finanzmärkte bezieht sich kritische Masse aber nicht nur auf
die industriellen Kapazitäten oder die Marktmacht eines Konzerns. Wesentlich sind die Liquidität, also die »Kriegskasse«, und die
Börsenkapitalisierung. Eine hohe Börsenkapitalisierung erleichtert die Kapitalbeschaffung, steigert die Flexibilität für
Übernahmen und Fusionen über Aktientausch und erschwert oder verunmöglicht eine unerwünschte Übernahme des eigenen
Konzerns durch einen Rivalen.
Die Auseinandersetzung um Aventis ist in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Die Führung des hochprofitablen Konzerns Sanofi-Syntélabo
strebt mit offensichtlicher Rückendeckung durch die französische Regierung die Übernahme des wesentlich größeren Rivalen
Aventis an, der 1999 aus dem Zusammenschluss der Pharmageschäfte von Hoechst und Rhône-Poulenc entstanden ist. Die Konzernleitung von Sanofi-
Syntélabo und die französische Regierung erklären offen, dass sie einen europäischen Konzern unter französischer
Führung wollen, der es mit den stärksten US-Rivalen aufnehmen kann.
Auf der anderen Seite appellieren die Exponenten von Aventis in Deutschland, die deutschen
Gewerkschaften und Betriebsräte unverblümt an die deutsche Regierung, sie in ihrer Abwehr gegen die Aggression aus Paris zu unterstützen.
Sollte die Übernahme von Aventis misslingen, käme Sanofi-Syntélabo aufgrund der speziellen Kapitalstruktur und des unausgeglichenen
Produktportfolios seinerseits bald ins Visier eines stärkeren US-Konzerns.
Nun ist Novartis als sog. Weißer Ritter aufgetaucht. Novartis verzeichnete in den letzten
beiden Jahren ein überdurchschnittliches Wachstum und konnte durch einen energischen Ausbau der Marketingorganisation die Marktanteile insbesondere
in den USA ausbauen. Novartis ist kaum am Aufbau eines starken europäischen Konzerns interessiert, vielmehr verfolgt Novartis eine ausgeprägte
transatlantische Strategie und kann sich auf eine traditionell starke Verankerung in den USA stützen.
Novartis interessiert sich vor allem für das US-Geschäft von Aventis. Daher
überrascht es nicht, dass Novartis im Sinne einer ausgesprochenen Lebenszyklenstrategie Szenarien geprüft hat, nach einer Übernahme von
Aventis die weniger lukrativen und älteren Produkte in eine neue Firma auszulagern. Novartis versucht nun, Druck auf die französische Regierung
auszuüben. Denn ohne deren Neutralität würde sich eine komplexe Übernahme als ein zu aufreibendes Unterfangen erweisen.
Die Konzernleitung und die wichtigsten Aktionäre von Aventis wiederum scheinen auf
Zeit zu spielen. Wenig deutet darauf hin, dass sie eine Übernahme verhindern wollen oder können. Vielmehr geht es ihnen darum, möglichst
großen finanziellen Nutzen aus der Transaktion zu ziehen.
Für jeden oligopolistischen Rivalen ist einerseits eine transnationale Akkumulation zur
Erlangung einer kritischen Masse unabdingbar, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Andererseits ist das Aktienkapital der meisten großen
Pharmakonzerne immer noch nur sehr eingeschränkt internationalisiert. Sanofi-Synthélabo ist ein französischer Konzern, Pfizer,
Johnson&Johnson, Merck und Bristol-Myers Squibb sind eindeutig unter der Kontrolle des US-Kapitals. GlaxoSmithKline ist unter britischer Kontrolle.
Novartis und Roche weisen trotz ihrer nordatlantischen Ausrichtung in ihrer Kapitalstruktur eine klare schweizerische Dominanz auf. Die meisten Megafusionen
wurden von Konzernen derselben nationalen Herkunft eingegangen. Aventis und die die britisch-schwedische AstraZeneca waren bislang die Ausnahmen. Die
Auseinandersetzung um Aventis illustriert, wie instabil eine solche »Doppelbürgerschaft« ist.
Christian Zeller
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