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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2004, Seite 17

Algerien vor den Wahlen:

Neutrale Militärs?

Seltsame Allianzen sind derzeit in der algerischen Politik angesagt. Die Opposition, die normalerweise das zu starke Gewicht der Armee im politischen Geschehen kritisiert, appelliert derzeit an ebendiese Armee: Diese soll faire Wahlen gewährleisten. Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika — der Hauptadressat der gemeinsamen Kritik — zählt unterdessen seine organisierten Unterstützer vor der Präsidentschaftswahl, die am 8.April dieses Jahres stattfinden wird.
Die algerische Armee hatte sich Mitte Januar dieses Jahres zu Wort gemeldet. Der Chef des Generalstabs, Mohamed Lamari, äußerte sich in Interviews mit der ägyptischen Zeitung Al Ahram und der algerischen französischsprachigen Tageszeitung Le Matin. Dabei erklärte er unter anderem: »Die Armee hat keinen Kandidaten«, und sie akzeptiere jeden aus dem unverfälschten Wählerwillen hervorgehenden Präsidenten. »Wir würden sogar einen Abdallah Djaballah akzeptieren«, fügte er mit Blick auf den Chef und Präsidentschaftskandidaten der legalen islamistischen Partei Islah (Reform) hinzu. Allerdings fügte er hinzu, »die Neutralität der Armee«, die garantiert sei, bedeute nicht »Passivität«, was vermutlich die Schmerzgrenze im Fall islamistischer Bestrebungen zum Umkrempeln des Staates markieren soll.
Doch General Lamari ging noch weiter, indem er kaum verhüllte Kritik an der derzeitigen Inhaber des Präsidentenamts richtete. Unzweideutig an Bouteflika adressiert war die Aussage: »Jede Persönlichkeit, die mit den Vollmachten des Staatspräsidenten ausgestattet ist und die republikanische Ordnung antasten, den politischen Pluralismus in Frage stellen, eine auf seine Person maßgeschneiderte Änderung der Verfassung versuchen oder die Gesellschaft und das Volk missachten will, wird die Armee im Weg stehen haben.« Präsident Abdelaziz Bouteflika hat tatsächlich in der Vergangenheit bereits mehrfach anklingen lassen, mit der bestehenden Verfassung unzufrieden zu sein und eine Änderung zu wünschen, mittels derer dem Staatschef eine größere persönliche Machtfülle gegeben werden soll.
Innerhalb der das Land beherrschenden Oligarchie, zu der neben den oberen Rängen der Militärs auch ein Teil der ehemaligen staatssozialistischen Nomenklatura aus der Zeit des Ein-Partei-Staates (1962—1988) sowie eine aus der Bürokratie hervorgegangene Neobourgeoisie mit mafiösen Zügen gehören, stößt Bouteflika jedoch auf Missbehagen. Einer der zentralen Gründe dafür liegt darin, dass erhebliche Interessenunterschiede innerhalb der tragenden Schichten der Oligarchie aufgebrochen sind.
Hinter Bouteflika schart sich vor allem jener Flügel der neuen Bourgeoisie und aus anderen Teilen der Oberklassen, der aus dem rücksichtslosen Ausverkauf der vormals unter einer staatssozialistischen Entwicklungsdiktatur aufgebauten Nationalökonomie Gewinn bezieht. Letzterer resultiert vor allem aus den Lizenzen zum Import westlicher Waren, die in Algerien konkurrenzfähiger sind als die Produkte der in den 60er und vor allem 70er Jahren entwickelten Staatsindustrie.
Finanziert wird das Importgeschäft vor allem aus der Ölrente, die derzeit vom algerischen Staat abgeschöpft wird. Aber auch das will dieser Teil der Oligarchie ändern, indem er auf eine maximale Öffnung des Erdöl- und Erdgassektors — des einzigen, der derzeit der algerischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt Gewinn bringt — für westliche Interessen hintreibt, mit denen ein Teil der Bourgeoisie assoziiert ist. Dabei bleibt Algerien ein Feld, auf dem vor allem französische und US- amerikanische Interessen miteinander konkurrieren.

Protektionismus

Dagegen will ein anderer Teil innerhalb der oligarchischen Führungsschichten diese Entwicklung nicht beschleunigt sehen, sondern setzt ihr ein eher protektionistisches Programm entgegen. Damit sollen etwa die Interessen jener gewahrt werden, die in die vorhandene heimische Produktion investiert haben. Letztere sehen sich durch die aktuell verfolgte Politik gefährdet. Man nehme folgendes Beispiel: Seit Jahresmitte 2001 wurde ein Bauprogramm vom Staat aufgelegt (in Algerien fehlen mindestens 2 Millionen Wohnungen, und in der Hauptstadt Algier bewohnen durchschnittlich 7 Personen ein Zimmer). Zuvor hatte die vorübergehende Ölpreiserhöhung des Jahres 2000 mehrere Millionen zusätzliche Dollar in die öffentlichen Kassen gespült.
Aber zugleich verzeichnete die algerische Baustoffindustrie im Jahr 2003 ein deutliches Negativwachstum — weil die Aufträge für das erforderliche Material überwiegend an Importfirmen vergeben wurden. Dabei stopfen sich viele halbmafiöse Bourgeois die Tasche bei Vermittlungsgeschäften voll. Aber die Ergebnisse des in den 70er Jahren verfolgten Versuchs, mittels einer staatssozialistischen Industrialisierungspolitik von den westlichen Industriestaaten unabhängiger zu werden und die Grundlagen einer eigenen Entwicklung zu legen, werden dabei zerstört.
Ein Teil des nationalen Unternehmerverbands (Forum des chefs d‘entreprise) unterstützte deswegen anfänglich die Kritik an Bouteflikas rabiatem wirtschaftlichem Öffnungsprogramm, das sich auch im Abschluss eines Assoziierungsvertrags mit der EU und dem Wunsch zu baldigem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) ausdrückt. Ebenso verhielt sich der Apparat des ehemaligen Einheits- und noch immer sehr staatsnahen Gewerkschaftsverbands UGTA. Aus beiden Kreisen, ebenso wie von einem Teil der Staatsbürokratie, wurde deswegen der aussichtsreichste Gegenkandidat zu Präsident Bouteflika unterstützt: Ali Benflis, der Generalsekretär der früheren Einheitspartei, des Front de libération nationale (FLN — Nationale Befreiungsfront), der seit den Parlamentswahlen vom Mai 2002 wieder stärkste Partei im Land ist.
Der FLN hat sich deswegen gespalten, da Bouteflika seine Unterstützer innerhalb der Partei organisiert hat, deren hinter Benflis stehender Mehrheitsflügel erst im vorigen Mai 2003 aus der Regierung gedrängt wurde.
Doch seit Ende Februar dieses Jahres hat Präsident Bouteflika einen bedeutenden Erfolg gegenüber seinem Herausforderer verzeichnet. Sowohl die Führung des Unternehmerverbands Forum des chefs d‘entreprise, also auch die nationale Leitung des Gewerkschaftsverbands UGTA beschlossen nacheinander, offiziell zur Wahl Abdelaziz Bouteflikas aufzurufen. Dahinter steckt zweierlei. Erstens bedeutet dies, dass in einem Teil der herrschenden Oligarchie die Entscheidung zugunsten Bouteflikas gefallen ist. Der Führungskader des (früheren Staats-)
Gewerkschaftsverbands UGTA bspw. ist eng mit anderen Teilen der Oligarchie, namentlich der Staatsbürokratie, verwoben.

Aggressive Kampagne gegen den Präsidenten

Zweitens ist diese Entscheidung auch darauf zurückzuführen, dass ein Mehrheitsflügel der Oligarchie offenkundig davon ausgeht, dass Bouteflika die Wahl gewinnen wird — und sich deswegen von vornherein an den wahrscheinlichen Sieger anhängen will. Dafür spricht tatsächlich einiges. Denn zwar fährt der größere Teil der algerischen Presse seit ungefähr sechs Monaten eine aggressive Kampagne gegen Präsident Bouteflika, der ein »hemmungsloser Diktator« und eine »tödliche Gefahr für die Republik« sei. Im Gegenzug unterstützen die meisten privaten Presseorgane, die in der Mehrzahl der Fälle einen Flügel der Oligarchie — die in sich vielfach gespalten ist — widerspiegeln, den Gegenkandidaten Ali Benflis.
Doch in der Bevölkerung stößt diese, mit sehr wenig Nuancen vorgetragene, Meinungskampagne nicht so sehr auf Zustimmung. In einem Land, in dem der größte Teil der Bevölkerung sich keine Hoffnung auf einen politischen Wandel macht — nach der brutalen Enttäuschung gegenüber den Islamisten, deren radikalste Aktivisten am Ende Massaker an der Bevölkerung selbst verübten — genießt Bouteflika noch ein erstaunlich gutes Image. Das ist freilich keine echte Zustimmung, sondern eine Mischung aus Resignation und gespürter, leichter Verbesserung der Lebensbedingungen.
Tatsächlich hat sich die Situation der Bevölkerung seit etwa drei Jahren leicht verbessert. Das liegt natürlich nicht an der Persönlichkeit Bouteflikas oder gar an seiner Politik, sondern an der Veränderung der außenwirtschaftlichen Situation Algeriens. Ende der 90er Jahre lag der Ölpreis bei unter 10 Dollar pro Barril, zu Anfang dieses Jahrzehnts erreichte er seinen Höhepunkt bei 35—40 Dollar. Von den gestiegenen Öleinnahmen sieht die Bevölkerung nur den geringsten Teil, zumal über 32 Milliarden Dollar an Devisen in Staatsrücklagen eingebunden sind — aufgrund einer Forderung des IWF. Denn dieser machte Druck für die Bildung einer solchen bedeutenden Reserve, als Garantie für die künftige Bezahlung der Schulden Algeriens. Dennoch hat sich die Lage eines Teils der Bevölkerung leicht gebessert: Die offizielle Arbeitslosenrate lag im Jahr 2000 bei knapp über 30%, im vorigen Herbst war sie auf rund 23% gesunken. Und bei seinen Wahlkampftournees quer durch Algerien verteilt Abdelaziz Bouteflika seit Monaten Schecks an die Kommunen.
Hinzu kommt, dass der Bürgerkrieg real seit 1999 zu Ende ist — auch wenn nach wie vor extremistische islamistische Kleingruppe die Bevölkerung angreifen. Das liegt unter anderem daran, dass diese Gruppen materiell von dem leben, was sie den Zivilisten abpressen und was ihnen längst nicht mehr freiwillig als Unterstützung gegeben wird.
Doch die reaktionäre Utopie des radikalen Islamismus hat ihre einstige Zugkraft eingebüßt, unter anderem auch wegen des realen Erlebens der Bewohner in den »befreiten Zonen«. Dort konnten Mitte der 90er Jahre tatsächlich Islamisten den Ton angeben und der Bevölkerung ihre ideologischen Diktate aufzwingen. Dieser blieb dabei das Elend erhalten, und lediglich der Tugendterror zusätzlich beschert. Deswegen, vor allem deswegen, hat der algerische Islamismus den Bürgerkrieg verloren. Die gewaltsamen Konfrontationen haben seit 1999 stark abgenommen, auch wenn die ländlichen Bewohner in isolierten, abgelegenen Zonen noch von bewaffneten Gruppen terrorisiert werden.
Auch aus diesem Grund genießt Bouteflika in Teilen der Bevölkerung ein hohes Ansehen. Der Präsident hatte 1999/ 2000 jenen radikalen Islamisten, die ihre Waffen niederlegten und die nicht nachweisbar an Bombenattentaten oder Massakern an der Zivilbevölkerung teilgenommen hatten, eine Amnestie in Aussicht gestellt. Ein Teil der Bevölkerung führt darauf den relativen Friedenszustand, der in größeren Landesteilen eingekehrt ist, zurück. In Wirklichkeit hatten die Islamisten einfach, dank der passiven Widerstände der Bevölkerung gegen ihre ideologischen Diktate, den Kampf längst verloren.
Wahrscheinlich ist, dass Abdelaziz Bouteflika wiedergewählt wird — aber nicht im ersten Wahlgang. Das will auch die Oligarchie und die militärische Führung nicht, denn ansonsten würden sie befürchten, dass der Amtsinhaber zu übermütig wird und zu viel persönliche Macht in seinen Händen vereinigen will. Auch deswegen ist nicht damit zu rechnen, dass es in größerem Umfang zu Fälschungen des Wahlvorgangs selbst kommen wird.
Einige Unbekannte bleiben im Spiel. So wird die unruhige Berberregion Kabylei, die rund 100 Kilometer östlich von Algier liegt, voraussichtlich zu bedeutenden Teilen die Wahlen boykottieren. Der Konflikt um die Rechte der berbersprachigen Minderheit ist nach wie vor ungelöst, auch wenn die breite soziale Bewegung aus dem Frühsommer 2001 längst in sich zusammengebrochen ist. Ein Vertreter der Kabylen, der modernistische Liberale Saïd Sadi, kandidert zwar zu den Präsidentschaftswahlen. Er wird allerdings weniger von der »Basis« in den Berbergebieten, als von den frankophonen Eliten des Landes — dessen herrschende Schichten in einen arabisch- und einen französischsprachigen Teil gespalten sind — unterstützt.

Weitere Kandidaturen

Daneben gibt es eine »trotzkistische« Kandidatin, Louisa Hannoun. Sie zeichnet sich allerdings stärker durch ihre Kritik am internationalen Kapital und kaum oder gar nicht durch ihre Opposition zu den einheimischen Eliten aus. Vor drei Jahren klagte sie die unruhige Jugend der Berberregion Kabylei des Anschlags auf die »nationale Einheit« an. Louisa Hannoun und ihre »Arbeiterpartei« PT, die zu Anfang der 90er Jahre aus taktischen Gründen auch mit den Islamisten kooperiert hatten, kann man bestenfalls als linkspopulistisches Phänomen bezeichnen. Mit ihrer Kritik am brutalen wirtschaftlichen Öffnungskurs kann sie dennoch zumindest einen Aufmerksamkeitserfolg, wie bei den Parlamentswahlen im Mai 2002 (5%), erhoffen.
Und die Islamisten? Sie verfügen über einen Kandidaten, den Prediger Abdallah Djaballah von der Islah. Doch überwiegt in seinem Diskurs die Komponente der autoritären »Moralisierung« der Gesellschaft und des Appels an die »Erziehung des Volkes«, um die durch die französische Kolonisierung verursachten gesellschaftlichen Verwerfungen zu reparieren. Dagegen fehlt bei ihm weitgehend der Einsatz sozialer Demagogie, der einst das Erfolgsrezept der »Islamischen Rettungsfront« FIS ausmachte; letzterer hat Djaballah damals immer ihren »plebejischen« Charakter vorgeworfen. Daher werden die sog. islahistes nicht dieselbe Dynamik entfalten können, wie die FIS-Islamisten 1990/91. Auch deswegen zeigt sich die Armee derzeit relativ »tolerant« ihm gegenüber.

Bernhard Schmid, Paris

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