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Für Descartes (15961650) war die Instanz der Erkenntnis das denkende Ich. Erstmalig in der menschlichen Geschichte
wird das Ich als menschliches Subjekt geschätzt und nicht länger einem aristokratischen Ständedenken subsumiert. »Ich denke, also bin
ich«, sagte Descartes. Das war ein großer philosophischer Fortschritt.
Immanuel Kant (17241804) trennte in der Folgezeit das Denken »der reinen
Vernunft« von jener der »praktischen«. Wer nur denkt, der ist bei Kant noch nicht so richtig bei sich. Dazu gehöre auch ein Wollen, aber ein
Wollen, das von Innen kommt und nicht von außen durch Gott auferlegt ist. »Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat,
Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich
verbindlich sind.« (Werke [KW], Bd.4, S.686f.)
Für Kant ist nur der ein praktisch ethisch denkender Mensch, der etwas Göttliches auch
wirklich von Innen heraus will. Folgt man Kant und seinen modernen Interpreten, bspw. Habermas, dann gibt es also zweierlei Arten zu denken, einmal praktisch und
einmal metaphysisch. Das praktische Denken der Alltagsmenschen gehe vom jeweiligen Willen aus. »Der Wille«, so Kant, ist »nichts anders, als
praktische Vernunft« (KW7, S.41), oder: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne.« (KW7, S.140.)
Aber woher soll der Wille wissen, was er wollen soll. Durch die »reine Vernunft«, sagt
Kant, nur sie sei unbefleckt vom Alltag und vom spröden Willen des Einzelnen. »Die reine Vernunft« sei nicht nur so eine Idee, sondern weil sie
»die Idee von der notwendigen Einheit aller möglichen Zwecke ist, so muss sie allem Praktischen als ursprüngliche, zum wenigsten
einschränkende, Bedingung zur Regel dienen« (KW3, S. 332).
Es gibt also ein Denken vor dem Alltagsdenken? Ja, sagt Kant. Denn die reine Vernunft gibt
»die Idee zu einer transzendentalen Seelenlehre (psychologia rationalis), zu einer transzendentalen Weltwissenschaft (cosmologia rationalis), endlich auch zu
einer transzendentalen Gotteserkenntnis (theologia transcendentalis) an die Hand.« (KW3, S.336.) Die reine Vernunft bezieht sich eben nicht auf
Gegenstände, also auf das Sein, sondern auf die »Verstandesbegriffe«, also auf das Bewusstsein von den Gegenständen. Bei Kant geht alles
von der »reinen Vernunft« aus, die uns letztlich aus der Hand einer »transzendentalen Gotteserkenntnis« geschenkt wird? Gott ist bei Kant
nicht tot, sondern sein Wille ist sozusagen durch die »reine Vernunft« in das Innere des Ichs gepflanzt.
Dieser Dualismus von Gegenständlichkeit und Denken, von Sein und Bewusstsein, bei Kant, beherrscht noch immer unser Denken. Anders als zu
Zeiten Kants ist der Einfluss der Kirche zwar geringer geworden, nicht aber der Wunsch nach einer führenden Hand mit »transzendentaler«
Erkenntnis, die unseren Willen stärkt, ohne dabei erkennen zu müssen, wie, mit wem und wofür wir leben und arbeiten. Das Gefühl der
Einsamkeit, die Angst vor der eigenen Zukunft, die Konkurrenz gegenüber anderen nimmt zu, je mehr die soziale Not zu einer allgemeinen Erscheinung wird.
Diese Not ist aber keine gedachte, sondern eine objektiv Seiende. Die »reine Vernunft« entpuppt sich heute für die »praktische
Vernunft« als Kampf um Marktvorteile, in dem die Teilnehmer den Willen zum Siegen lernen müssen, um zu existieren. Doch die Wurzel der
»praktischen Vernunft« bekommt bei allen Tricks, die Marketing- oder Kommunikationstrainer an den Tag legen, keine bewusste Erdung. Sie bleibt im
gedanklichem Rahmen der »transzendentalen« Weltwirtschaft und sucht keine Erdung im gesellschaftlichen Sein selbst.
Dieses Sein ist im Unterschied zu allen stofflichem und organischem Sein der Natur vom Menschen
selbst geschaffen worden. Schon als er sich als Sammler entschloss, die Früchte seiner Arbeit Heim zu tragen, entzog sich der Mensch der passiven Anpassung
an die Umwelt, wie es dem Tier im günstigen Fall gelingt, und wurde aktiv gegenüber der Umwelt. Er setzte sich Ziele und wirkte mit diesen Zielen ein
in den Verlauf der Kausalitäten in der Natur. Er veränderte die Natur und veränderte sich so auch selbst, indem er immer gesellschaftlicher wurde.
Seine Arbeit wurde immer gesellschaftlicher, denn immer intensiver arbeiteten die Menschen zusammen. Immer intensiver wurde die Effizienz ihrer Arbeit, und
immer differenzierter wurde die Arbeitsteilung unter den Menschen. Es entstand schließlich der Eindruck, die Theorie, also die mittelbaren Erfahrungen, die der
Mensch mit der Natur machen konnte, würden durch eine höhere Instanz gespeist, eben aus der »reinen Vernunft« oder dem
»absoluten Weltgeist« oder aber von einem sozialistischen Staatsrat, der die Ökonomie dualistisch vom Denken trennte, indem er ihr eine Art
»zweite Natur« zuschrieb, dem sich das Denken nur anzunähern hätte. Statt die Ökonomie als gesellschaftliches Verhältnis der
Menschen zur Zielsetzung ihrer Arbeit und zu sich als Gattungswesen zu betrachten, bekam sie eine Art Naturstatus. Sie wurde zu einem »Organismus«
der Gesellschaft, dessen Naturgesetzlichkeit lediglich die Parteifunktionäre glaubten steuern zu können.
Ganz im Sinne Kants wurde so in der DDR die »praktische Vernunft« oder der Wille
des Staatsbürgers von der »reinen Vernunft«, vertreten durch die Parteikader, getrennt. Die Folge war eine Entfremdung der Staatsbürger von
den Funktionären sowie eine Entfremdung der Staatsbürger, wie der Funktionäre, von den Möglichkeiten und Zielsetzungen der
gesellschaftlichen Arbeitsleistung. Dabei führte nicht Marx Regie, sondern Kant.
Im vereinigten Deutschland führt noch immer ein wenn auch modernisierter und von philosophischer Orientierung gereinigter Kant die Regie. Heute
wird in Deutschland die Kette der Kausalreihen nicht durch die Zielbestimmungen von Staatsfunktionären in die Ökonomie, also die geglaubte
»zweite Natur«, getragen, sondern diese »zweite Natur« wird ihrer eigenen Dynamik überlassen, und die Beteiligten glauben, indem
sie als Manager, Arbeiter oder Angestellte dieser Dynamik der globalisierenden Kausalreihen zur Verfügung stehen, frei zu sein. Sie glauben ganz im eigenen
Interesse zu handeln, wenn sie für ihren Arbeitsplatz oder ihre Firma und deren Umsatz kämpfen. Sie handeln sozusagen ganz im Interesse der Gesetze
dieser »zweiten Natur«, in deren Dynamik sie sich integrieren. Sie wollen den Fortschritt und entwickeln Technik und Wissenschaft, die eine noch
schnellere Gangart bewirkt. Das Ich denkt und fühlt sich deshalb frei. Es darf, ja es soll innovativ denken. Die Zielsetzung der dienenden Menschen in der
»zweiten Natur« ist, die Produktions- wie Distributionszeit zu beschleunigen.
Die »transzendentale Weltwissenschaft« Kants wurde in die »transzendentale
Weltwirtschaft« integriert, insofern gibt es immer noch die »reine Vernunft«, wie bei Kant, allerdings ohne die »transzendentale
Gotteserkenntnis«. Doch der Einzelne, der sich mit wachsendem Fortschritt in der Beschleunigung der Zeiten durch Wissenschaft und Technik, immer weiter
von seinem Mitmenschen isoliert, weil dieser immer häufiger zu seinem potenziellen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt werden könnte, braucht
spätestens dann, wenn er aus den funktionalen Diensten an der »zweiten Natur« erwacht, einen Lebenssinn. Er wird zu einem
»Suchenden«, Süchtigen oder Stumpfsinnigen in seiner arbeitsfreien Zeit. Er glaubt diesen Sinn immer häufiger in Sekten oder
extravaganten Freizeitbeschäftigungen zu finden. So trennt er, ganz im Sinne Kants, die Gegenständlichkeiten seiner Arbeit, von seinem eigenen Denken.
Das eine scheint mit dem anderen nichts zu tun zu haben. Morgens entlässt er tausend Arbeiter und Angestellte und kauft die Produkte von Kinderarbeit in
Taiwan ein, oder erklärt sich bereit für gleichen Lohn länger zu arbeiten, abends besucht er einen Verein oder schwärmt mit Freunden von
seiner letzten Safari.
Der objektive Fortschritt durch Technik und Wissenschaft in der Arbeit, führt gleichzeitig zu
einer subjektiv wachsenden Entfremdung vom menschlichen Leben als einheitlichem Gattungsleben. Die Philosophie, anders als bei Kant, der noch fragte:
»Was ist der Mensch?«, trennte sich von der Wissenschaft, sowie sich die gesellschaftliche Arbeit mit ihren partikularen Zielen vom privaten Leben des
Einzelnen trennte. Philosophie wurde zu einer Einzelwissenschaft im akademischen Lehrbetrieb, die bestenfalls Tröster für einzelne Menschen sein
möchte. An deutschen Universitäten wird die Philosophie neben anderen Fächern gar als »Geisteswissenschaft« geführt und
damit deutlich der Wissenschaft untergeordnet, die als solche ja lediglich objektiven Seinsprozessen auf die Spur rücken sollte.
Unter Fortschritt versteht man heute einen objektiv feststellbaren wissenschaftlichen Fortschritt und
nicht den Fortschritt in der Erkenntnis des menschlichen Seins, wie dies noch das Motiv Kants war. Seit Kant zeichnet sich eine Verschiebung in der Konstruktion des
Verhältnisses von Fortschritt und Geschichte ab: Aus dem Fortschritt der Geschichte wird die Geschichte des Fortschritts; aus dem Fortschritt, den die
Intensität der menschlichen Arbeit bewirkte, wird der Fortschritt, der die Geschichte als ihre innere Unruhe vorwärtstreibt. Der
Fortschritt vollzieht sich sozusagen automatisch. Der Mensch denkt, er liefere »geistiges Kapital« und die Ökonomie lenke ihn wie eine
Naturgewalt gesetzmäßig zum Fortschritt. Ziel der gesellschaftlichen Arbeit ist dabei jedoch nicht die menschliche Gattung von Hunger, Not und Elend
zu befreien, sondern sie folgt einer kausalen Mechanik, die partikular ökonomischen Interessen des Kapitals bedeutet, und entfremdet dadurch alle Menschen,
die in diesem Prozess dienen, von sich selbst als Menschen. Der einzelne Mensch wird zu einem funktionierenden Rädchen, das den Mechanismus der
»zweiten Natur« (Ökonomie) deshalb nicht leicht durchschauen kann, weil er nicht erkennt, dass es sich bei der Ökonomie eben nicht um
einen Mechanismus handelt, sondern um ein Beziehungsverhältnis, in dem sich der Mensch mit der Natur und den Menschen zielorientiert und arbeitend in
Beziehung setzt.
Zwar, und dies macht die Erkenntnis dieser Besonderheit der Ökonomie so schwierig, handelt es sich in der Ökonomie auch um eine
prozesshafte Reihe von Kausalitäten, denen sich der Einzelne bei Strafe seines Untergangs anpassen muss. Allerdings, und das unterscheidet diese
Kausalität von den sich kausal vollziehenden Prozessen in der Natur, lässt sie sich im gesellschaftlichen Sein grundsätzlich nur durch die
jeweiligen Zielbestimmungen der Menschen in Bewegung setzen.
Die Arbeit des Menschen findet seit der Menschwerdung stets im unmittelbaren Austausch mit der
Natur statt. Da mit technischem Fortschritt sich dieser Prozess immer mehr aus der Unmittelbarkeit zur Natur entfernt, entsteht nicht nur der Eindruck, die Arbeit habe
mit der Natur eigentlich keinerlei Berührung mehr, sondern es wird die damit verbundene, objektiv sich entwickelnde Vergesellschaftung der Arbeit auch nicht
bewusst zur Kenntnis genommen. So verändern sich hinter dem Rücken der Menschen ständig die Kategorien, also die Existenz- und
Daseinsbestimmungen des menschlichen Seins. Eine bestehende Form der Entfremdung verschwindet, dafür entsteht eine neue. Eine gesellschaftliche Epoche,
die dem objektiven Fortschritt der Dynamisierung der Arbeit im Wege steht, verschwindet, eine neue entwickelt sich dafür auf dem Nährboden der alten.
Das geschieht häufig ohne subjektiv begriffen zu werden. So war der Fortschritt vom
Kannibalismus zur Sklavenhaltergesellschaft, vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht geplant, also nicht von Menschen ausgedacht oder als Utopie erfunden,
sondern er vollzog sich hinter dem Rücken der Menschen, die mit der Dynamisierung der Arbeit immer mehr vergesellschafteten und die dementsprechend die
Form ihrer gesellschaftlichen Beziehungen veränderten. Einen kausal wirkenden Gesamtprozess der gesellschaftlichen Entwicklung, der als solcher ganz
erkennbar wäre, gibt es in dieser Entwicklung nicht. Es gibt keine gesetzmäßige Spirale, die sozusagen von einer Gesellschaftsordnung niederer
Stufe zur höheren führt. Diesen Glauben hat Stalin zu glorifizieren versucht und glaubte sich als Vertreter der »reinen Vernunft« über
die Willen der einzelnen Menschen erheben zu müssen, um den Sieg des Sozialismus zu erkämpfen, den er als nächste Stufe nach dem
Kapitalismus einstufte.
Die Fortschritte der wachsenden Vergesellschaftung der Arbeit, durch die immer weniger Menschen
immer mehr und besser produzieren können, sind nur objektive Möglichkeiten auch eines gattungsmäßigen Fortschritts, sie führen
nicht notwendig zu einer höheren gesellschaftlichen Epoche. Kriegsbeteiligung, Rassismus, ja selbst Kannibalismus ist heute wieder Tatbestand in Deutschland.
Das führt, wenn nicht bewusst die objektiven Möglichkeiten gattungsmäßig genutzt werden, durchaus zu einer Verrohung der Menschen,
also zu einem gesellschaftlichen Rückschritt in längst vergessen geglaubte Zeiten der Vergangenheit.
In Trier geht Oberstaatsanwalt Horst Roos einer Strafanzeige nach, in der Fälle »mit
einem kaum vorstellbaren Gewaltpotenzial vor einem okkulten Hintergrund« geschildert werden. Aus Trier stammt auch jener Philosoph und Wissenschaftler,
der die Entfremdung und Brutalität der Menschen beseitigen wollte. Er beschrieb die gesellschaftliche Epoche, in der die objektiven Möglichkeiten des
Fortschritts gleichzeitig auch subjektive werden könnten, die er Kommunismus nannte, »als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter
Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre
Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und
Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung« (MEW40, S.536). Anders als Kant trennte Marx nicht mehr das Denken der Menschen von ihrem Sein.
Für ihn standen beide in einer einheitlichen dialektischen Beziehung, die es nur bewusst zu machen gilt, um sich schließlich in humanistische Aktion
wandeln zu können.
Jürgen Meier
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